Eine Retrospektive des Werks von Boris Mikhailov in Hannover

Menschen, die auf Berge starren

Der in der Ukraine geborene Fotograf Boris Mikhailov ist ein Chronist der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft. Das Sprengel-Museum in Hannover zeigt die bisher umfangreichste Retrospektive seines Werks.

Mit Bildern wie diesen ist der ukrainische Fotograf Boris Mikhailov bekannt geworden: Eine Frau und ein Mann stehen in einer winterlichen Landschaft unter einem kahlen Baum. Unter ihren Mänteln sieht man ihre nackten Oberkörper. Der Mann hat eine Glatze, die Frau hängende Brüste, beide sind schon etwas älter. Er hält einen toten Fisch in der Hand, sie eine Kaffeetasse. Was es mit den beiden auf sich hat, wird wohl ein Geheimnis bleiben. In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Frieren sie nicht? Woher kommt der Fisch, und was haben sie mit ihm vor?
Auf einem anderen Bild sind zwei dünne Kinder mit kurzgeschorenen Haaren zu sehen, sie sitzen auf einer Bordsteinkante, ihre nackten Füße sind verschmutzt, das eine Kind hat eine Plastiktüte um die eine Hand gewickelt und hält sich die andere an die Stirn. Und auch bei folgendem Foto erfahren wir nichts über die Zusammenhänge: Man sieht zwei Kinder, wahrscheinlich Jungen. Der Größere hält von hinten die Arme des anderen und schielt in die Kamera. Der Kleinere trägt einen fleckigen Anorak, hat den Kopf bandagiert und ein blaues Auge. Was geht hier vor?
Indem man über das Zustandekommen und die Vorgeschichte solcher Szenen im Unklaren gelassen wird, tritt das Seltsame an ihnen stärker zu Tage. Erklärungen würden wohl das Verstörende dieser Bilder abschwächen. So aber steht im Mittelpunkt genau das, was in dem jeweiligen Moment von Bedeutung ist. Freie Oberkörper im ukrainischen Winter, verstörende Kinderblicke, ein Bluterguss am Auge. Das klingt zunächst nach dem Kitsch des Unmittelbaren. Da es Dokumentarfotografien sind, verlangt man fast unwillkürlich nach einer Erklärung. Vielleicht aber ist es gerade diese Unmittelbarkeit, die eher geeignet ist, etwas von dem zu zeigen, was vor sich geht, etwas zu zeigen von der Gewalt des Alltags. Manchmal enthält die Drastik eher ein aufklärerisches Moment als die Statistik.
Aufgenommen hat Mikhailov die Fotos zwischen 1997 und 1999 in der Ukraine. Sie sind Teil einer großen Serie, die den Titel »Krankengeschichte« trägt. Mehr als 400 Fotografien zeigen Alltagsszenen, die der Fotograf in seinem Geburtsort Charkow und dessen naher Umgebung vorgefunden hat. Diese und andere als Bücher angelegte Serien des Fotografen sind zurzeit im Hannoveraner Sprengel-Museum zu sehen. Gezeigt werden 20 dieser »Bucharbeiten«, entstanden zwischen 1968 und 2012. Rund 20 Bildzyklen von Mikhailov stellen ihn erstmals als »Büchermacher« vor. Es ist die bislang umfangreichste Werkschau des 1938 geborenen ukrainischen Fotografen, der seit 1996 in Berlin lebt. Neben den Alltagsporträts aus der Gegenwart und den historischen Dokumentarbildern und Schnappschüssen aus der Sowjet- und der Postsowjetzeit werden erstmalig auch überzeichnete und übermalte Landschaftsbilder ausgestellt. Anlass der Ausstellung ist die Verleihung des internationalen Fotografiepreises »Spectrum« der Stiftung Niedersachsen an den Fotografen.
Boris Mikhailov gilt heute als einer der wichtigsten Chronisten des sowjetischen und postsowjetischen Alltags. Neben seiner Arbeit als technischer Ingenieur beschäftigte er sich in den sechziger Jahren mit der Fotografie. Nachdem der sowjetische Geheimdienst Aktfotos aufgespürt hatte, die er von seiner Frau am Strand gemacht hatte, verlor er seine Anstellung. Einen neuen Job konnte der aus einer jüdischen Familie stammende Mikhailov angesichts der antisemitischen Stimmung in der Sowjetunion nicht finden. So intensivierte er seine Beschäftigung mit der Fotografie. Dass Mikhailov seine Fotoarbeiten in Form von Büchern konzipierte, hat wohl auch den praktischen Grund, dass er die Bilder vor dem Zugriff de Behörden schützen wollte. Er konnte sie so besser transportieren und auch problemlos zu Treffen mit Freunden mitnehmen. Die Präsentation der aufgeschlagenen Seiten in zahlreichen Tischvitrinen in der Ausstellung macht anschaulich, dass es für die Buchform auch dramaturgische Gründe gab, etwa die Möglichkeit der Reihung bestimmter Szenen und Motive. Aber auch filmische Momente spielen dabei eine Rolle: Beim Blättern geraten die Bilder in Bewegung.
Der Amateurfotograf Boris Mikhailov fand schnell zu seiner dokumentarisch-konzeptuellen Arbeitsweise. Seine erste bekanntere Arbeit ist die Installation »Yesterday’s Sandwich/Superimpositions«, die Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre entstand. In einer Diashow überlagern sich private Snapshots, Bilder der politischen Repräsentation und vielfache Zeichen, Farben und Formen. Privates und Öffentliches verbinden sich zu etwas Monströsem. Ein Gastro-Werbebild eines weißen leeren Tellers mit Besteck wird mit dem Bild eines älteren Paars überblendet, so dass die beiden auf dem Teller landen. Ein junges Paar, das sich zum Tennisspielen unter Bäumen trifft, wird mit einer rot eingefärbten Massenkundgebung so überblendet, dass die Gesichter der Kundgebungsteilnehmer auf den Körpern der beiden wie fürchterliche Wucherungen aussehen. Das Private zum Politischen zu machen, wird hier nicht als emanzipatorisch verstanden, wie man dies im Westen propagierte, sondern als Verschwinden des Privaten im Schlund des politischen Funktionalismus. Diese Installation ist seit mehr als 20 Jahren erstmals wieder zu sehen.
Eine nahezu psychedelische Sinneserfahrung bietet eine Arbeit von Boris Mikhailov, die erstmalig gezeigt wird. Auf mehr als 100 Fotografien sehen wir rötlich-braunes Gesteinsmassiv. Die Felshänge füllen ganze Seiten aus. Je länger man die Bilder betrachtet, desto weniger erkennt man. Eine Erfahrung vergleichbar mit der der Schneeblindheit. Man kann die Steine bald schon nicht mehr voneinander unterscheiden, verliert die Orientierung und glaubt, sich übergeben zu müssen. »Strukturen des Wahnsinns, oder warum Hirten in den Bergen oft verrückt werden« lautet der Titel. »Für die Interpretation von Bergen auf Bildern existiert bereits ein kultureller Code«, schreiben Boris und seine Ehefrau Vita Mikhailov in ihrem Vorwort zum Ausstellungskatalog. »Es gibt die Erfahrung der anderen, das Wissen darum, wie andere das fotografiert haben. Wahrscheinlich hatten wir Glück, dass wir nicht in solch wirklich majestätischen Bergen gelandet waren, sondern in Bergen, die sozusagen schon eingestürzt waren, die irgendwo auf halbem Weg zwischen dem Majestätischen und dem Flachland waren. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, mit diesen Bergen etwas anderes zu machen (…), sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.«
Mikhailov hat einige Fotografien mit dem Zeichenstift bearbeitet, Linien nachgezogen, Körper, Fratzen, weibliche Geschlechtsteile herausgearbeitet. Man beginnt die halluzinatorische Wirkung wahrzunehmen, die in der dauernden Konfrontation mit der Umgebung gründet. Ähnlich wie auf den Bildern des Zyklus »Krankengeschichte« wirken die Berge rätselhaft und bedrohlich. Um wahnsinnig zu werden, braucht man die Gesellschaft nicht.

Boris Mikhailov: Die Bücher 1968–2012. Sprengel-­Museum, Hannover. Bis 20. Mai