Gibt es Onlinesucht wirklich?

Stets verbunden

Schon wieder online? Warum Onlinesucht keine wirkliche Sucht ist, aber manche sie trotzdem so sehen.

Aufstehen, duschen, während des Frühstücks E-Mails checken, in der U-Bahn auf dem Smartphone Nachrichten lesen, abends wieder nach Hause kommen und sofort den Rechner anmachen, um mit Freunden zu chatten – was sich für die meisten internetaffinen Menschen wie die Beschreibung eines ganz normalen Tagesablaufs anhört, klingt für andere nach einem schweren, behandlungsbedürftigen Problem: Onlinesucht, so hat man schließlich aus diversen Zeitungs- und TV-Berichten erfahren, kann ähnliche Auswirkungen haben wie Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. Vernachlässigung von sozialen Kontakten, Rückzug aus dem Freundeskreis, Beziehungsprobleme und Jobverlust gehören zu den standardmäßig aufgezählten Symptomen, selbst körperliche Entzugserscheinungen werden in den Horrorgeschichten genannt.
Wäre Onlinesucht wirklich das, was das Wort nahelegt, dürfte sie jedoch seit der Erfindung von Smartphones kein Problem mehr sein: Die Betroffenen müssten sich nur ein ständig mit dem Internet verbundenes Handy zulegen und schon könnten sie, ohne schwere Entzugserscheinungen befürchten zu müssen, ihrer Sucht frönen, online zu sein. Aber natürlich ist Onlinesucht genau das nicht. Ob es sie überhaupt gibt, ist umstritten. Es sei irreführend, »Verhaltensweisen als Sucht zu charakterisieren, wenn Menschen lediglich sagen, dass sie etwas zu häufig tun«, meint beispielsweise die Psychologin Sara Kiesler von der Carnegie Mellon University, die bereits 1998 eine der ganz wenigen Kontrollstudien zum Thema durchgeführt hat.

Dass es so etwas wie Online- oder Internetsucht als eigenständige Krankheit gibt, die klar gegen Probleme wie Spielsucht abgegrenzt werden kann, halten viele Psychologen bis heute für ausgeschlossen. Ganz und gar unwahrscheinlich ist die Annahme, dass Menschen durch exzes­sive Internetnutzung große Probleme bekommen können, allerdings auch nicht – selbst wenn jeder neue Artikel oder Fernsehbeitrag unter anderem bei Twitter höhnisch kommentiert wird. Und das ironischerweise häufig von Menschen, die sonst dramatische Tweets verfassen, wenn sie durch irgendwelche äußeren Umstände am nächsten Tag gezwungen werden, ein paar Stunden offline zu sein. Beispiele für ein problematisches Verhältnis zur Internetnutzung gibt es zudem genügend: Regelmäßig kann man Nutzer sozialer Netzwerke oder von Foren beobachten, die klagen, dass sie es nicht schaffen, wichtige Dinge zu er­ledigen, aber gleichzeitig ihre Zeit damit verbringen, unermüdlich alles und jedes zu kommentieren oder Geschichten von Menschen zu lesen, die berichten, blöderweise eine wichtige Klausur verkackt zu haben, weil sie ­lieber stundenlang gespielt als sich vorbereitet haben.
Ein Internetproblem ist derartiges Verhalten jedoch nicht, denn Prokrastination gab es schon lange, bevor Computer überhaupt erfunden wurden. Allerdings wurde die stundenlange Beschäf­tigung mit unwichtigen Dingen, die verhindert, dass dringend Anstehendes erledigt wird, durch das Internet wesentlich erleichtert. Das gilt auch für andere Verhaltensweisen, die gern als Indiz für Online- oder Internetsucht herangezogen werden: stundenlanges Spielen, exzessive Kommunikation, ausgedehnter Pornokonsum. Allerdings sind die Warnungen vor diesen Aktivitäten, wie sie so gern in Medien verbreitet werden, oft mit einer sehr eigenartigen Auffassung vom Internet verbunden, zum Beispiel, wenn dessen Nutzung zur Unterhaltung, also zu allem, was nicht als zum Job gehörend oder der Bildung dienend definiert wird, grundsätzlich problematisiert wird. Im Gegensatz zu etablierten Hobbys, die als Lebensinhalt allgemein akzeptiert werden – aus dem Scheitern von Beziehungen wegen übermäßigen Engagements eines Partners in Sportvereinen wird beispielsweise keinerlei mediales Drama gemacht –, gilt alles, was im Internet betrieben wird, als Zeitverschwendung oder zumindest als leicht anrüchig. Wer »World of Warcraft« spielt, wird dies in einem Bewerbungsgespräch nicht unbedingt betonen, wer Brettspiele mag, kann dagegen unter Umständen beim künftigen Arbeitgeber Eindruck machen, schließlich verbringt er oder sie die Freizeit erkennbar gerne aktiv und mit Freundinnen und Freunden.
Als eigenständiges Hobby wird ein Onlinespiel bis heute nicht gesehen. Interessanterweise galt das heute gesellschaftlich hoch geachtete Lesen zum Zeitvertreib im 18. Jahrhundert ebenfalls noch als äußerst bedenklich, Ärzte diagnostizierten damals »Lese-Manie« oder »Lesesucht«. Ähnlich erging es allen, die die jeweils neuen Medien ihrer Zeit begeistert und oft nutzten. Noch vor wenigen Jahren waren die Ratgeberspalten der Zeitungen voll von Hilferufen verzweifelter Eltern oder Ehepartner, die sich große Sorgen um den exzessiven Fernsehkonsum ihrer Angehörigen machten, oder von langen düsteren Beiträgen sogenannter Experten, die die Auswirkungen stundenlangen Fernsehens auf Körper, Seele und Gehirn schilderten – Haltungsschäden! Reizüberflutung! Soziale Verelendung!

Woher aber kommt die Annahme, dass Menschen von Aktivitäten im Internet derart abhängig werden können, dass sie körperliche Entzugssymptome spüren, ganz so, als fehle ihnen die Einnahme einer Substanz? Eine Erklärung dürfte eine Studie der Universität von Maryland bieten, die 2011 durchgeführt wurde. Weltweit waren 1 000 Studierende aus zehn verschiedenen Ländern gebeten worden, einen ganzen Tag lang auf Medien zu verzichten. Die Freiwilligen durften weder Nachrichtensendungen im Fernsehen sehen noch Musik hören, Handys benutzen, im Internet surfen oder Spiele auf ihren Konsolen zocken. Die Reaktionen der Studierenden fielen sehr unterschiedlich aus. Mit 23 respektive 22 Prozent erklärte von denjenigen, die in den USA und China lebten, der größte Anteil, sich abhängig von Medien zu fühlen. Die meisten Abbrecher, 23 Prozent, kamen aus Argentinien, gleichzeitig gaben dort 21 Prozent der Probanden an, sich komplett isoliert gefühlt zu haben. Ganz anders zog die Mehrheit der ugandischen Teilnehmer den Selbstversuch durch, hinterher sagten 36 Prozent, sie sähen durchaus Vorteile im Medienverzicht. Ein Student berichtete jedoch auch, am nächsten Tag von Freunden darüber informiert worden zu sein, dass er ein wichtiges Treffen mit einem Vorgesetzten versäumt habe.
Unabhängig davon, in welchem Land die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohnten, sagten viele, dass sie andere Menschen beneideten, für die Medien anscheinend nicht so wichtig seien. »Ich wundere mich immer, wieso ich Medien so sehr brauche. Als ich ein Kind war, besaß ich keine, und trotzdem war ich immer glücklich. Warum ist es heute anders?« so ein Student. Die Antwort ist allerdings recht einfach: Viele der Medien, die heute unverzichtbar erscheinen, gab es noch vor zehn, 20 Jahren gar nicht – oder sie waren so teuer, dass man sie Kindern nicht einfach so zum Zeitvertreib überließ.
Aber was ist mit den körperlichen Entzugssymp­tomen? Ein libanesischer Student fand, der ganze Versuch sei »krankmachend« gewesen, ein US-Amerikaner sagte, er habe sich »gekratzt wie ein Cracksüchtiger«. Medizinisch sei dies nicht zu erklären, lautete der Kommentar der Wissenschaftler. Möglicherweise neigten Menschen, die sich abhängig fühlen, auch einfach dazu, ihren Zustand bei Verzicht zu beschreiben wie Drogensüchtige ihre Entzugssymptome, weil sie gelernt haben, dass diese zu einer Sucht dazugehören. Viel interessanter als die eher vagen Beschreibungen körperlichen Unwohlseins war jedoch eine Schlussfolgerung der Studie, die die Psychologin Susan D. Moeller so zusammenfasste: Der Konsum von Nachrichten habe sich grundlegend verändert, nach ihnen muss nicht mehr aufwendig gesucht werden. Als Radio und Fernsehen die einzigen Informationsquellen waren, gab es Nachrichtensendungen ohnehin nur zu festgesetzten Uhrzeiten, heute kommen sie zum Konsumenten per E-Mail, als Breaking-News-Alert, über Facebook und Twitter. Entsprechend, so das Forscherteam, sei es mittlerweile sehr wichtig geworden, auch das eigene Verhalten an den endlosen Strom von Nachrichten anzupassen. Beispielsweise werde Studierenden beigebracht, Artikel, Überschriften und Bilder effizient zu nutzen, als Ressource sowohl im Privat- wie im Berufsleben. Dabei wird allerdings nicht in Betracht gezogen, dass »Newsjunkietum« mittlerweile ein durchaus verbreitetes Hobby ist.