Judentum und Fußball in Großbritannien

Weiß dein Rabbiner, dass du hier bist?

Ein kürzlich erschienenes Buch zeigt, wie eng Judentum und Fußball in Großbritannien miteinander verbunden sind.

Alf Garnett ist die britische Version von »Ekel Alfred«. Die von Warren Mitchell verkörperte Figur war in den sechziger Jahren Protagonist der TV-Serie »Till Death Do Us Part«, dem Vorbild für »Eine Herz und eine Seele«. Der Antiheld Garnett schimpfte auf den von vielen Juden unterstützten Londoner Fußballclub Tottenham Hotspurs – er selbst war Fan des Lokalrivalen West Ham United, dessen Anhänger bis heute hin und wieder durch Antisemitismus auffallen. Sie sorgten dafür, dass in der Liste, in der das Simon Wiesenthal Center jene Personen und Organisationen aufführt, die für die schlimmsten antisemitischen Verunglimpfungen des Jahres verantwortlich sind, »europäische Fußballfans« 2012 auf Platz vier landeten. Der mittlerweile 86jährige Alf-Darsteller Mitchell ist, Ironie am Rande, Jude und Spurs-Fan.
Wenn das Thema Fußball und Judentum als Motiv für eine populäre Fernsehserie taugte, ist das ein Indiz dafür, dass es im englischen Alltag durchaus gegenwärtig war. Anthony Clavane indes beschreibt in seinem Buch »Does Your Rabbi Know You’re Here?«, dass jüdische Kultur und englischer Fußball viel enger miteinander verbunden sind, als bisher bekannt war. Nicht nur Tottenham, auch viele andere englische Clubs wurden von jüdischen Fans beziehungsweise Funktionären geprägt. Leeds United etwa, jener Club, dem Clavane zugeneigt ist, hatte in den sechziger Jahren zeitweilig drei jüdische Vorstandsmitglieder.
Die stärksten Verbindungen waren beim heutigen Drittligisten Leyton Orient zu beobachten. Frank Cass, der 2007 verstorbene Inhaber des jüdischen Verlags Vallentine Mitchell, gehörte zu den bekannten Anhängern des Clubs, der zu Beginn der sechziger Jahre eine zweite Heimat für Menschen aus dem Londoner Theaterviertel West End war. Die aus der Film- und Theaterszene stammenden Vorstandsmitglieder Bernard Delfont, Leslie und Lew Grade – drei jüdische Brüder, die in der Ukraine geboren waren – trugen dazu wesentlich bei. Zu den glamourösen Figuren in dem Milieu gehörte auch der Schuhfabrikant Harry Zussman, der verarmt gestorben sein soll, nicht zuletzt deshalb, weil er alles in den Verein investierte. Leyton Orient steht somit auch für eine frühe Beziehung zwischen Fußball und Showbusiness.
Zwei zentrale Themen prägen »Does Your Rabbi Know You’re Here?«. Zum einen führt Clavane aus, dass Fußball für die Nachkommen jüdischer Einwanderer aus Osteuropa in Großbritannien ein Mittel war, um ihre eigene Identität zu formen, um religiöse und nationale Elemente zu verbinden. Wer am Shabbat Fußball spielte, obwohl es der heilige Tag ist, riskierte den Konflikt mit der eigenen Gemeinde und machte auf diese Weise einen Schritt in die britische Gesellschaft. Um Ressentiments und dem Gerede vom schwächlichen Juden entgegenzutreten, galt es aber auch zu beweisen, dass man besonders gut war, sich also »als Jude« zu profilieren – was es mit sich brachte, dass ausgerechnet im Zuge des Integrationsprozesses die vermeintliche Andersartigkeit verstärkt wurde. Das ist auch ein Aspekt von Clavanes persönlicher Geschichte, die er ausführlich in einem preisgekrönten Buch über seine Leidenschaft für Leeds United (»Promised Land«) erzählt hat.
Clavanes zweite These besagt, dass die Transformation des Sports zu einer »globalen Unterhaltungsindustrie« zu einem nicht geringen Teil fußballaffinen jüdischen Geschäftsleuten zu verdanken ist. Das Risiko, Verschwörungstheoretikern Material für Phantasien zu liefern, sieht Clavane durchaus, er sagt aber auch, das könne kein Argument sein, diese Geschichte nicht aufzuschreiben.
Der frühere Geschichtslehrer Clavane gibt Einblicke in teilweise völlig unbekannte Bereiche der britischen Fußballgeschichte, indem er diverse Schlüsselfiguren porträtiert. Es beginnt mit dem in den zehner und zwanziger Jahren für diverse englische Klubs aktiven Iren Louis Goodman, der Protagonist einer Generation, deren Eltern Fußball für »unjüdisch« hielten. Er war nicht nur ein Profikicker, er gehörte auch der irischen Cricket-Nationalmannschaft an. Für die Generation Clavanes wichtig war der aus einer Boxerfamilie stammende Mark Lazarus, der 1967 für die Queens Park Rangers aus London das wichtigste Tor der Vereinsgeschichte schoss: das entscheidende 3:2 im Ligapokalfinale gegen West Bromwich Albion. Er wurde damit für viele jüdischen Fußballfans im Lande zu einem Helden, unabhängig davon, ob sie Anhänger von QPR waren.
In jener Zeit traten auch Edelfans in Erscheinung, die es in dieser Form nicht mehr gibt: jüdische Unternehmer, die bei jedem Spiel dabei und immer nahe an der Mannschaft waren, teilweise geradezu zum Inventar gehörten. Der Tottenham-Fan Harry Keston war so einer, die Club-Legende Jimmy Greaves nannte ihn »unseren zwölften Mann«. Er war ein Teambegleiter ohne offizielle Funktion – heutzutage unvorstellbar, weil die Mannschaften abgeschirmt sind.
Zu den prägenden Personen der jüngeren Vergangenheit, denen sich Clavane ausführlich widmet, gehören der zwischen 1987 und 1997 zunächst für Tottenham und dann für Manchester United tätige Edward Freedman – der, wertfrei gesagt, Pionier des Fußball-Merchandising, wie wir es heute kennen – sowie David Dein, der beinahe ein Vierteljahrhundert Vizepräsident von Arsenal London war. Er holte 1996 den bis heute amtierenden französischen Coach Arsène Wenger zu seinem Club – einer der großen Einschnitte in der englischen Fußballgeschichte, denn der Betrieb hatte Einflüsse von außen ein Jahrhundert lang kaum zugelassen; als sogenanntes Mutterland des organisierten Fußballs glaubte man sich das leisten zu können. In diesem Zusammenhang sieht Clavane auch Positives an dem Wirken des Chelsea-Inhabers Roman Abramowitsch. Der Autor und Fan weiß, dass er eigentlich beklagen müsste, dass der Fußball seine Seele verloren habe. Trotzdem, argumentiert Clavane, habe der Multimilliardär Abramowitsch, ohne es zu beabsichtigen, 2003 mit der Übernahme Chelseas eine im Prinzip positive Entwicklung eingeleitet. Englische Fußballclubs sind heute im Besitz von Unternehmern aus verschiedenen Teilen der Welt. Möglicherweise – das ist eine Erkenntnis, die sich bei der Lektüre des Buchs abzeichnet – sind die positiven Effekte ohne die negativen einfach nicht zu haben. Mittlerweile gibt es einige Vereinsvorstände, die Clavane als »the new Jews« bezeichnet: Sie stehen Clubs aus der zweiten und dritten Liga vor, etwa dem FC Watford oder Brighton & Hove Albion. Der am stärksten jüdisch geprägte Club ist wohl der Drittligist Oldham Athletic, geführt von Simon Corney. Er ist orthodox, und wenn sein Verein am Sonnabend spielt, schaut er nicht zu – obwohl kaum ein Glaubensgenosse damit heute noch ein Problem hätte. Aber als Präsident kann sich Corney natürlich aussuchen, ob er den Shabbat ehrt oder nicht – anders als vor rund hundert Jahren der Pionierkicker Bookman, der in dem Fall seinen Beruf nicht hätte ausüben können.
Wer etwas gelangweilt ist von den typischen Fußballbüchern, in denen Fans etwas über Vereine und vor allem sich selbst erzählt, wird sich über das Buch freuen. Es ist eines der lehrreichsten Bücher, die in der jüngeren Vergangenheit über Fußball erschienen sind.

Anthony Clavane: Does Your Rabbi Know You’re Here? The Story of English Football’s Forgotten Tribe, 320 Seiten, Quercus, London 2012