Das ehemalige Kriegsgefangenenlager in Sandbostel

Das vergessene Lager

68 Jahre nach der Befreiung zeigt eine umfassende Ausstellung über das Kriegsgefangenenlager Sandbostel die unbekannte Geschichte der gefangenen Soldaten im »Dritten Reich«. Zwei Überlebende, zwei Lehrer und ein Befreier haben lange dafür kämpfen müssen.

»Das bin ich dort, der in der Mitte. Links und rechts steht jeweils ein Kamerad«, sagt Sergej Litwin und deutet auf ein gut ausgeleuchtetes, vergilbtes Foto hinter Plexiglas. Der schmächtige 91jährige ist nach Sandbostel zurückgekehrt. Dorthin, wo er mehr als drei Jahre seines Lebens in Kriegsgefangenschaft gelebt und gelitten hat. »Ich werde nie vergessen, wie ich einmal in der Lagerstraße an einem Haufen toter, nackter Männer vorbeiging, die dort abgeladen worden waren. Unter diesen nackten Körpern fiel einer in Uniform auf«, erinnert sich Litwin mit stockender Stimme. »Ich sah ihm ins Gesicht, er lebte. Mit flehendem Blick bat er mich flüsternd, ihm die Uniform zu lassen, damit er in Würde sterben könne.« Diese und viele andere Erinnerungen kommen bei Sergej Litwins Besuch im Stalag XB Sandbostel hoch. So lautete der Name des größten Kriegsgefangenlagers in Norddeutschland, rund 90 Kilometer westlich von Hamburg, im Militärjargon, offiziell hieß es »Kriegsgefangenen-Stammlager B des Wehrkreises X«.
Die Region um die Kleinstadt Bremervörde ist heute noch von kleinen Wäldern, landwirtschaftlichen Betrieben und den letzten Streifen Moor geprägt. Zur Trockenlegung dieser Moore wurden auch sowjetische Kriegsgefangene unter extrem harten Arbeitsbedingungen eingesetzt, wie auf den Tafeln der am 29. April dort eröffneten Ausstellung zu erfahren ist. Das war ein besonderes Datum: An diesem Tag vor genau 68 Jahren wurde das Lager von britischen Truppen befreit. 68 Jahre mussten ehemalige Gefangene und ein ehemaliger Befreier darauf warten, bis in Sandbostel der Toten gedacht und an ein kaum erforschtes Kapitel der NS-Geschichte erinnert wird – an die Geschichte der Kriegsgefangenen.
Bis zu 72 000 gefangene Soldaten waren in Sandbostel registriert. Die Zahl erklärt sich durch Hunderte von Außenkommandos in der regionalen Landwirtschaft und in Rüstungsprojekten, die in Bremen und anderen Städten im Einsatz waren. Ohne die Arbeitskraft der Kriegsgefangenen hätten die Bauern in der Region die Ernte nicht einbringen können. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde in der lokalen Presse gefragt, wann denn die polnischen Kriegsgefangenen eintreffen würden. Sie wurden gebraucht, um die Ernte vom Feld zu holen. Auch die Belgier und Franzosen, die ab Juni 1940 im Stalag XB Sandbostel eintrafen, wurden alsbald in der lokalen Landwirtschaft eingesetzt.

Roger Cottyn war einer von ihnen. Der heute 92jähriger Belgier, der insgesamt 60 Monate in Kriegsgefangenschaft verbrachte, ist zum 68. Jahrestag der Befreiung wie Litwin nach Sandbostel gereist. »Ich habe hier in der Region bei verschiedenen Bauern gearbeitet und bei einer dieser Familien komme ich auch immer unter, wenn ich Sandbostel besuche«, erzählt der Mann, der nahe Bad Segeberg in einem Altenheim lebt. Er gehört zu den ehemaligen Gefangenen, die immer wieder kritisiert haben, dass es in Sandbostel über Jahrzehnte kein Gedenken und keine Ausstellung gab, in der die jüngere Generation lernen konnte, was hier geschehen ist. »Hier haben Menschen geschuftet, gehungert und sie sind gestorben. Uns Belgiern ging es noch recht gut, wie den Franzosen, den Briten und den Serben. Aber die Russen starben wie die Fliegen im Lager. Wir wurden gegen Typhus geimpft, die Rotarmisten dagegen nicht. Ich habe die Leichenwagen durch das Lager fahren sehen, mit all den nackten Leibern«, erzählt Cottyn. Elf Monate seiner Gefangenschaft verbrachte er im Lager, den Rest der Zeit in Außenkommandos. »Ich meldete mich wieder für das Außenkommando, weil ich das Sterben im Lager nicht mit ansehen wollte.«
Cottyn hat seine Erinnerungen in einem Buch festgehalten, das auch in der Bibliothek der Dokumentationsstelle Lager Sandbostel steht. Er gehört mit Litwin und dem britischen Militärarzt Dr. Hans Engel zu denjenigen, die sich nicht damit abfinden wollten, dass das Schicksal der Gefangenen verdrängt wird. Das Vergessen bedrohte über Jahrzehnte die Wahrnehmung des Lagers, dessen Aufbau auch heute noch gut zu erkennen ist. Zwei Dutzend von einst 150 Gebäuden, davon rund 130 Gefangenenbaracken, sind heute noch erhalten. Darunter die Kommandantur, der Arrestbunker, die Desinfektion sowie verschiedene Verwaltungsgebäude, die allesamt im sogenannten Vorlager standen und heute von privaten und öffentlichen Betrieben genutzt werden. Im eigentlichen Lager, wo die aus Holzfertigteilen und Betonfundamenten gebauten Baracken für die Kriegsgefangenen standen, sind nur noch ein gutes Dutzend teilweise verfallene Gebäude zu sehen. Der Rest wurde im Laufe der Zeit entweder niedergebrannt oder abgerissen, um das einst 35 Hektar große Areal wieder landwirtschaftlich zu nutzen.

»Gedenken war hier lange kein Thema«, sagt Dr. Klaus Volland mit leiser Stimme. Der 68jährige Historiker ist so etwas wie der Wiederentdecker des Stalag XB. 1976 kam er als Geschichtslehrer ans Gymnasium Bremervörde und wurde von Schülern auf den Barackenkomplex aufmerksam gemacht. »Wir wollten wissen, was da war«, sagt er. Gemeinsam mit dem Lehrerkollegen Werner Borgsen begann Volland zu forschen, nachzufragen und zu dokumentieren. Das war nicht überall gern gesehen. Schnell wurden die beiden Lehrer als linke Nestbeschmutzer bezeichnet, obwohl sie doch nichts weiter wollten, als die Geschichte eines der größten Kriegsgefangenenlager in Deutschland nicht dem Vergessen zu überlassen. Diese Geschichte zeichneten sie in der ersten wissenschaftlichen Arbeit überhaupt zu einem Gefangenenlager in Nazideutschland auf, die 1991 erschien (»Stalag X B Sandbostel. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers in Norddeutschland 1939–1945«, Edition Temmen).
Ein Jahr später gründeten die beiden Lehrer mit einigen Gleichgesinnten den Verein Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel. »Ziel war es, das 1974 zum Industriegebiet erklärte ehemalige Lager und seinen einmaligen historischen Gebäudebestand zu erhalten und zu einem Ort des Gedenkens mit einer Dauerausstellung zu machen«, sagt Volland. Das hat der Historiker nun geschafft, dabei waren die ehemaligen Gefangenen sehr wichtig. 1994, als Litwin zum ersten Mal wieder nach Sandbostel kam, war er, ähnlich wie Roger Cottyn, entsetzt darüber, dass es an dem Ort ihrer Gefangenschaft noch nicht einmal einen Gedenkstein, geschweige denn eine Ausstellung gab: »So etwas darf sich nicht wiederholen, deshalb ist es wichtig, dass man sich erinnert. An alles – das Schlechte, aber auch das Gute«, sagt der hagere Mann mit den grauen kurzen Haaren, auf denen die grüne Filzmütze mit dem roten, mit Hammer und Sichel verzierten Stern thront.
Litwin ist tief bewegt, dass er in der neuen Ausstellung auch ein Bild von sich zwischen zwei Kameraden findet: »Ich habe Glück gehabt. Ich konnte etwas Deutsch, konnte schreiben und wurde zum Schreiber von Feldwebel Fritz Drephal.« Litwin führte die Listen der sowjetischen Gefangenen und Drephal gehörte nach Litwins Schilderung zu den wenigen Wachsoldaten, die versuchten, zu helfen: »Ihm gelang es, unter unmenschlichen Bedingungen Mensch zu bleiben. Er half uns, die grausame Zeit zu überleben, deshalb schätzte ich ihn und halte ihn für meinen zweiten Vater«, sagt Litwin mit stockender Stimme neben dem Gedenkstein des Lagers.
Hilfe seitens der Wachsoldaten war selten. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden schlechter behandelt als Briten, Franzosen und Belgier, die oben in der Lagerhierarchie standen. Danach kamen Serben, Polen, Italiener und zum Schluss die Rotarmisten. Diese bekamen deutlich weniger zu essen und wurden medizinisch nicht versorgt, so dass von den 5 162 dokumentierten Toten rund 4 700 der Sowjetarmee angehörte.

»Die wirkliche Zahl der Toten liegt allerdings deutlich höher«, sagt Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte. Gemeinsam mit vier Historikern hat er die Ausstellung in den vergangenen Jahren konzipiert und viele neue Dokumente und Exponate zusammengetragen, etwa das Foto von Litwin und Bilder, die von Wachsoldaten gemacht wurden, als die Marschkolonnen ausgezehrter Rotarmisten im Lager eintrafen. Fotos, die deutlich zeigen, wie geschwächt die Rotarmisten bereits in Sandbostel ankamen, wo Schwerstarbeit und schlechte Versorgung sie erwarteten.
Das wird in der Ausstellung genauso aufgezeigt wie die hohe Zahl der Arbeitskommandos, die Verwaltungsmaschinerie dahinter, die Existenz eines jüdischen Arbeitskommandos, sowie die von Lagerkapellen und einer Theatertruppe.
»Es gab unterschiedliche Realitäten in diesem Lager«, erinnert sich Lidwin, »es war mit Stacheldraht unterteilt und hier und da wurde heimlich Kleidung gegen Essen getauscht. Zwischen den Gefangenen gab es nicht viel Kontakt, aber hin und wieder konnten wir etwas mit den Franzosen tauschen.« Diese seien recht solidarisch und im Vergleich zu den Rotarmisten privilegiert gewesen, sie hätten Pakete vom Roten Kreuz erhalten, seien nach den Genfer Konventionen behandelt worden und hätten im Lagerladen auch einkaufen können – etwa Zigaretten, Seife, aber auch Fotos vom Lager für das eigene Fotoalbum.
»Das war die andere Lagerrealität, die von den Nazis in Szene gesetzt wurde«, sagt der Leiter der Gedenkstätte, Andreas Ehresmann.
Davon profitierten vor allem die Offiziere, die anders als das Fußvolk nicht arbeiten mussten. Im Laufe des Krieges verschlechterte sich allerdings auch die Versorgung des Lagers. Wer Lebensmittelpakete bekam, war eindeutig im Vorteil. Fürchterlich wurde die Situation in Sandbostel mit der Ankunft von 9 500 KZ-Häftlingen aus dem Konzentrationslager Neuengamme am 12. April 1945: »Da wurde ein Teil des Lagers der SS unterstellt und streng separiert. Abends traute sich kaum jemand vor die Türen der Baracken, weil die SS willkürlich auf die KZ-Häftlinge schoss«, schildert Litwin die letzten Wochen vor der Befreiung durch die britische Armee am 29. April 1945.

Zu den Ersten, die das Lager betraten, gehörte Hans Engel. Der britische Militärarzt traute seinen Augen nicht, denn im Lager stießen er und seine Kameraden auf rund 3 000 Leichen, 7 000 ausgemergelte KZ-Häftlinge und rund 15 000 geschwächte Kriegsgefangene. »Im vorderen Teil des Lagers, dort, wo die Russen untergebracht waren, herrschte das Fegefeuer, im hinteren Teil loderte die Hölle«, schildert der heute 97jährige seine Erinnerungen. »Klein-Belsen« nannten die Briten das Lager in Anspielung auf das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie versuchten, mit Infusionen, Diätmahlzeiten und Pflege so viele Menschen wie möglich zu retten. »Ich habe den Befehl gegeben, Ärzte, Krankschwestern und Zivilisten aus der Umgebung in das Lager zu schaffen, denn unsere Division hatte nur eine kleine medizinische Abteilung«, erzählt der Militärarzt. Er ist in den vergangenen Jahren immer wieder nach Sandbostel zurückgekommen, um beim Aufbau der Gedenkstätte zu helfen. Immer wieder hat der streitbare Mediziner, der in Hamburg aufwuchs, aber 1935 Nazideutschland wegen seiner jüdischen Wurzeln Richtung Schottland verlassen musste, darauf aufmerksam gemacht, dass aus »Klein-Belsen« eine Stätte der Erinnerung werden müsse. »Ich bin froh, dass 68 Jahre nach der Befreiung nun in Sandbostel gedacht, dokumentiert und vermittelt wird, was hier geschehen ist«, sagt er.
Der jungen Generation etwas mitgeben, vor den neuen Nazis warnen, das will Hans Engel, und deshalb spricht er nicht nur in Sandbostel, sondern auch in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, in seiner ehemaligen Schule und in Lübeck bei einer Gedenkveranstaltung.
Etwas mehr Pietät wünscht er sich dabei auch von den niedersächsischen Politikern, die das ehemalige Lager 1974 zum Industriegebiet erklärten. Aus dieser Zeit stammen auch noch die Verträge mit dem Militariahändler Edelmann. Der lagerte in vielen Originalbaracken, die allmählich zerfallen, alte Helme, Koppeln, Gasmaken und andere Ausrüstung. Diese letzten erhaltenen Baracken sollten, so Engel, zum Gedenkstättenareal gehören.
Diese Meinung teilen nicht nur Litwin und Cottyn. Sie scheint mittlerweile auch bei der Politik angekommen zu sein. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil bekundete den Willen der Landesregierung, diesen Teil des Geländes alsbald zu übernehmen. Eine positive Nachricht am Ende des 68. Jahrestags der Befreiung. Deren Umsetzung werden die beiden ehemaligen Gefangenen, der britische Befreier und die beiden Lehrer aus Bremervörde sicherlich genau verfolgen.