»80 Prozent aller Beschäftigten haben noch nie gestreikt«

Auch an diesem 1. Mai blieb die Revolution aus, aber immerhin hat die Zahl der Arbeitskämpfe in Deutschland zugenommen. Am 27. Februar hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung eine Arbeitskampfbilanz für das Jahr 2012 vorgelegt. Die Jungle World sprach mit dem Tarifexperten Heiner Dribbusch, dem Autor der Bilanz, über das gegenwärtige deutsche und globale Streikgeschehen.

Ihrer Arbeitskampfbilanz zufolge hat sich die Zahl der Streikenden im Vergleich zum Vorjahr versechsfacht, die Zahl der Streiktage immerhin verdoppelt. Damit liegt die Intensität der Arbeitskämpfe so hoch wie seit 2007/2008 nicht mehr. Ist das Zufall, laufen einfach nur Tarifverträge aus, oder gibt es gar einen Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise?
Von den 1,2 Millionen Streikenden des Jahres 2012 haben rund 300 000 Menschen an den Warnstreiks im öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden sowie etwa 800 000 an den Warnstreiks während der Metalltarifrunde teilgenommen. Auch der Anstieg der Streiktage ist wesentlich auf das Zusammentreffen dieser beiden Warnstreikwellen zurückzuführen. Einen direkten Zusammenhang mit der Krise sehe ich da nicht. Allerdings ist es eine relativ neue Entwicklung, dass massenhafte Warnstreiks inzwischen auch im öffentlichen Dienst zum regelmäßigen Bild von Tarifrunden gehören, dies war früher nicht so.
Fördert dies nicht auch eine gewisse Ritualisierung?
Die Gefahr besteht. Vor allem dann, wenn es Jahr für Jahr lediglich bei Warnstreiks bleibt. Allerdings traten in den vergangenen Jahren auch Beschäftigtengruppen wie Pflegerinnen und Pfleger oder Erzieherinnen in Aktion, für die selbst eintägige Warnstreiks lange keine Selbstverständlichkeit waren. Auch kurze Streikaktionen sind für viele Beschäftigte ein Schritt, der erstmal getan werden muss. Wir dürfen nicht vergessen, dass 80 Prozent aller Beschäftigten in ihrem Berufsleben noch nie gestreikt haben.
Ist die Einbeziehung neuer Beschäftigtengruppen charakteristisch für die vergangenen Jahre?
Das ist so. Zu beobachten ist eine deutliche Verschiebung des Arbeitskampfgeschehens in den Dienstleistungsbereich und damit verbunden die Aktivierung von Beschäftigtengruppen, die früher bei Arbeitskämpfen wenig in Erscheinung getreten sind. Und zwar nicht nur Piloten und Lokführer. Im Gesundheitsbereich haben die jungen Assistenzärztinnen und -ärzte, die 2005/2006 den Marburger Bund zum Arbeitskampf gedrängt haben, eine gewisse Eisbrecherfunktion gehabt. Seitdem ist Streik im Krankenhaus denkbar und es wird auch mehr als früher in der Pflege gestreikt. Neue Erfahrungen sammelt auch die GEW. Hier sind es die angestellten Lehrerinnen und Lehrer, die aufgrund ihrer Benachteiligung gegenüber den verbeamteten Kolleginnen und Kollegen besonders motiviert sind. Seit 2009 ist es auch für die Beschäftigten in der Gebäudereinigung vorstellbar geworden, zu streiken, obwohl hier die Zersplitterung der Beschäftigten enorm ist. Ähnliches lässt sich im Erziehungsbereich und im Bewachungsgewerbe beobachten.
Nehmen auch mehr prekär Beschäftigte an Streiks teil?
Ob die Zahl prekär Beschäftigter, die streiken, steigt, lässt sich schwer sagen. Fest steht, das zeigten die Streiks in der Gebäudereinigung oder auch die Auseinandersetzung um das Sparkassen-Callcenter S-Direkt in Halle, dass auch Mini-Jobber und Befristete streiken können. Der Streik in der Gebäudereinigung wurde in erheblichem Umfang auch durch eine sehr erfolgreiche Mobilisierung der Öffentlichkeit gewonnen. Die »Verdiscounterung« des Arbeitsmarktes stößt zunehmend auf Ablehnung, was sich in der breiten öffentlichen Unterstützung für die Mindestlohnforderung zeigt. Auch die Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen in den Lagern von Amazon wird meines Erachtens von der Öffentlichkeit mit Sympathie für die Beschäftigten verfolgt.
Besonders bemerkenswert fand ich in den ersten Monaten dieses Jahres den Streik des Sicherheitspersonals an den Flughäfen in Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Was die Beschäftigten hier erstmals zum Streik motiviert hat, war die klare Ansage: »Es geht nicht um ein paar Prozente Inflationsausgleich, sondern wir wollen weg vom Niedriglohn.« Forderungsvolumina von über 20 bis 30 Prozent waren neu und erforderten einen offensiven Bruch mit der bis dahin üblichen Verhandlungsroutine.
Wie ist die Rolle der Spartengewerkschaften zu bewerten?
Die vielzitierten Spartengewerkschaften spielen trotz einzelner spektakulärer Streiks eher eine Nebenrolle im Streikgeschehen. Zwar streiken Marburger Bund oder GDL mehr als früher, nicht zuletzt, weil sie früher praktisch nie gestreikt haben. Sie sind aber keineswegs die Kampfgewerkschaften, zu denen sie besonders die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gerne stilisiert. Die BDA haut auf die Spartengewerkschaften, will aber am liebsten das Streikrecht insgesamt einschränken.
Gibt es mehr Streiks als früher?
Vor allem im Dienstleistungsbereich, aber auch in der Getränke- und Nahrungsmittelherstellung hat in den vergangenen zehn Jahren die Streikhäufigkeit deutlich zugenommen. Allein bei Verdi hat sich die Zahl der Arbeitskämpfe verfünffacht. Die meisten dieser Konflikte sind Auseinandersetzungen um Haustarifverträge. Dahinter steckt eine größere Konfliktbereitschaft von Unternehmen, aber auch Wohlfahrtseinrichtungen, die versuchen, sich der Tarifbindung zu entziehen. Daneben ist aber angesichts fortdauernder Niedriglöhne die Bereitschaft von Beschäftigten und Gewerkschaften gesunken, diese Entwicklung weiter hinzunehmen.
Ist die Zunahme der Streiks ein Zeichen dafür, dass Beschäftigte und Gewerkschaften wieder stärker in die Offensive gehen?
Teils, teils. Streiks können Stärke wie Schwäche ausdrücken. Dass im Organisationsbereich von Verdi besonders häufig gestreikt wird, hat zunächst mit der Vielzahl der von Verdi organisierten Branchen zu tun. Es ist aber auch das Ergebnis politischer Niederlagen. Weder Verdi noch ihre Vorgängerorganisationen konnten die Privatisierungen, zum Beispiel im Nahverkehr oder im Gesundheitswesen, verhindern. Desgleichen gelang es nicht, einheitliche Tarifstandards im öffentlichen Dienst beizubehalten. Jetzt muss mühsam versucht werden, nicht nur eine weitere Erosion zu verhindern, sondern langsam wieder Terrain zurückzugewinnen. Hier sind Streiks wie bei der Flughafensicherheit eher ermutigend, weil erfolgreich die Offensive gesucht wurde. Solche Kämpfe sind aber voraussetzungsreich und ihr Erfolg ist nicht immer garantiert. Dafür ist die Wirksamkeit eines Streiks entscheidend. Dauern Streiks sehr lange, ist dies oft ein Anzeichen dafür, dass sich die Gegenseite mit dem Arbeitskampf arrangiert hat.
Gibt es derzeit eine globale Streikwelle?
Ich finde es sehr schwer, dies zu beurteilen. Auf jeden Fall werden Streiks in anderen Ländern wieder aufmerksamer beobachtet, als dies früher der Fall war. Ein Beispiel: In China wurde der ökonomische Strukturwandel bereits in den neunziger Jahren von massenhaften und zum Teil sehr heftigen Streiks und Protesten begleitet. Stärker zur Kenntnis genommen wurden im Westen aber erst die Streiks der vergangenen Jahre in den Sonderwirtschaftszonen, insbesondere die in der Autoindustrie. Die jüngsten, sehr großen Streikwellen in Bangladesh oder Indien beispielsweise werden dagegen deutlich weniger beachtet, obwohl sie vom Umfang her alle europäischen Streiks weit in den Schatten stellen. Die Auseinandersetzungen in der ehemaligen Sowjetunion sind ebenfalls wenig bekannt. Von Streiks in Afrika wird kaum berichtet, es sei denn, es kommt zu Massakern wie bei der Marikana-Mine in Südafrika.
In Europa haben wir eine vielschichtige Situation. Einerseits gibt es die großen Proteststreiks in den südeuropäischen Ländern, die allerdings an Wirkung zu verlieren scheinen; andererseits den relativ ruhigen Norden, zu dem trotz aller Streiks auch Deutschland zählt; und dann die sehr gemischte Situation in den verschiedenen Ländern Osteuropas. Ob dieses insgesamt sehr bunte Bild, in das noch die beiden Amerikas eingefügt werden müssen, sich auf eine globale Streikwelle vereinheitlichen lässt, das wird möglicherweise erst der Rückblick in einigen Jahren zeigen. Miteinander verknüpft sind alle diese Kämpfe sicherlich durch die globale ökonomische und soziale Verunsicherung und die damit einhergehenden, allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägten Verheerungen, die momentan von den kapitalistischen Verhältnissen ausgehen. Ob und inwieweit sie sich aber tatsächlich wechselseitig inspirieren, müsste genauer untersucht werden.
Am 13. und 14. Juni lädt das WSI gemeinsam mit dem ZÖSS an der Uni Hamburg zu einer internationalen Streiktagung. Neben Südeuropa und Deutschland stehen China und Indien im Mittelpunkt. Ihre Veranstaltung fällt in eine Zeit, in der wieder viel über Streik geredet wird. Die Debatte über den »politischen Streik« und der positive Bezug des Bündnisses M31 auf die Generalstreiks in Südeuropa sind nur einige Beispiele dafür. Wie erklären Sie sich dieses recht plötzliche Interesse am Thema?
Ich denke, dies hat damit zu tun, dass einige der Streiks, über die wir hier geredet haben, meiner Meinung nach zu Recht, als Zeichen des Widerstands gegen die momentanen Verhältnisse interpretiert werden. Dies verbindet sich mit neuer Aufmerksamkeit für die soziale Frage. Die Streiks in Südeuropa oder auch in China werden dabei insbesondere in der kapitalismuskritischen Linken als Zeichen dafür gesehen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Schwierig wird es dann, wenn diese und andere Streiks verklärt werden. Die Generalstreiks in Südeuropa sind eben nicht revolutionär, sondern sie sind Massendemonstrationen mit schwankender Beteiligung. Die Kämpfe in China sind auch Kämpfe um Teilhabe am Kapitalismus und nicht notwendig für dessen Abschaffung. Eine Vernetzung der Auseinandersetzungen europa- oder gar weltweit ist mühsam und es gibt immer wieder Rückschläge. Das heißt nicht, dass man es nicht immer wieder versuchen soll.