Debatte um den Verfassungsentwurf in Tunesien

Die Bengel machen Ärger

In Tunesien wird der jüngste Verfassungsentwurf kritisiert. Die Islamisten scheinen Rückschläge hinnehmen zu müssen, doch die politische Gewalt geht weiter.

»Im Namen Gottes, des Gnadenreichen und Barmherzigen«. So beginnt das Dokument, mit den Worten »Gott ist Bürge des Erfolgs« endet es. Es handelt sich um den dritten Entwurf einer neuen Verfassung für Tunesien, der am 24. März veröffentlicht wurde und lebhafte Debatten auslöste. Mustapha Ben Jaafar, der Präsident der verfassunggebenden Versammlung und Vorsitzender der Regierungspartei Ettakatol, behauptete, zahlreichen Analytikern und Beobachtern zufolge gehöre die künftige Verfassung »zu den besten der Welt«. Die tunesischen Verfassungsrechtler sehen das anders.

Am Dienstag voriger Woche wurde auf Einladung der oppositionellen Partei Nida Tounes über diesen Entwurf im Hotel Africa im Zentrum von Tunis diskutiert. Vor einer riesigen tunesischen Nationalflagge an der Stirnseite des Saals sitzen unter anderen Politiker und Politikerinnen diverser liberaler und linker Parteien, etwa Néjib Chebbi von der Republikanischen Partei. In der Mitte der 86jährige Beji Caid Essebsi von Nida Tounes, der kürzlich seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, obwohl weder die Befugnisse des künftigen Präsidenten klar sind, noch ein Termin für Wahlen feststeht, und zudem die Regelung aus der alten Verfassung, nach der Präsidentschaftskandidaten höchstens 75 Jahre alt sein dürfen, in den neuen Verfassungsentwurf übernommen wurde. Aber in Umfragen rangiert Essebsi vorne.
Das Eingangsreferat hält Abdelwahab Meddeb, Schriftsteller und Dozent an der Universität Paris-X. Er orientiert sich in seinem Vortrag an einer kritischen Analyse des Verfassungsentwurfs, die auf dem tunesischen Internetportal Leaders.com erschienen war und von Le Monde übernommen wurde. Demzufolge sei der Entwurf inakzeptabel, unter anderem aus folgenden Gründen: Artikel 5 bezeichnet den Staat als »Garanten der Religion«, nicht »der Religionen«, im traditionellen Diskurs sei dieser Singular nur auf den Islam gemünzt, der in Artikel 136 zur Staatsreligion erklärt wird. Ebenfalls in Artikel 5 wird der Staat als »Beschützer des Heiligen« (sacré) bezeichnet, das bringe eine Begrenzung in der Ausübung der Freiheit mit sich. Beispiele dafür sind die teils gewaltsamen islamistischen Proteste gegen als blasphemisch empfundene Kunstwerke, Texte und Filme. Überdies wird im gleichen Artikel die Glaubensfreiheit erwähnt, nicht aber die Gewissensfreiheit, die es erlaubt, die Religion zu wechseln oder abzulegen. Bereits in der Präambel werden die Menschenrechte einerseits den Bedingungen der »unveränderlichen Prinzipien des Islam«, andererseits den »kulturellen Besonderheiten des tunesischen Volkes« untergeordnet. Die Verfassung schaffe Einschränkungen im positiven Recht, durch die die Bestimmungen der Sharia Einzug halten könnten. Zudem sei die Verfassung ideologisch, weil sie sich bereits in der Präambel für die »palästinensische Befreiungsbewegung« ausspreche und gegen »Rassismen, die Feinde der Menschheit«, »an ihrer Spitze der Zionismus«.

Auch aus den Reihen des Gewerkschaftsdachverbands UGTT wird der Verfassungsentwurf kritisiert. Bemängelt wird insbesondere die Einschränkung des Streikrechts in Artikel 33, etwa durch die erforderliche »Kontinuität des öffentlichen Dienstes« während der Streikzeit. Das war auch ein Thema auf der Demonstration am 1. Mai in Tunis. Ausgangspunkt der gewerkschaftlichen Demonstration war der Platz Mohammed Ali vor der Gewerkschaftszentrale in Tunis, wo am 4. Dezember schwere Zusammenstöße zwischen Gewerkschaftern und Anhängern der die Übergangsregierung dominierenden islamistischen Partei al-Nahda sowie Mitgliedern der sogenannten Ligen zum Schutz der Revolution, die die Opposition als Milizen al-Nahdas bezeichnet, stattgefunden hatten. Neben den Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel wurde auf der Demons­tration die politische Gewalt kritisiert. Viele Beteiligte, vor allem aus dem großen Block des linken Front Populaire, hatten sich ein Porträt des am 6. Februar vor seiner Haustür erschossenen linken Politikers Chokri Belaïd umgehängt, der die Islamisten scharf kritisiert hatte. Die Ermittlungen dauern an, ein Ende ist nicht in Sicht. Die Frage »Wer hat Chokri Belaïd getötet?« eint die Opposition und die UGTT, ebenso die Forderung nach einer Auflösung der Ligen.
Die in Massen präsenten Polizeikräfte hatten für die Demonstration den Fußgängern reservierten Mittelstreifen der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis beiderseits mit spanischen Reitern abgesperrt. Auf der einen Seite demonstrierten Tausende Gewerkschafter und Linke, auf der anderen fanden sich einige Hundert Anhänger des Kongresses für die Republik (CPR) mit neuen grünen Fahnen vor einer Bühne ein. Der CPR ist die Partei des Übergangspräsidenten Moncef Marzouki, eines ehemaligen Menschenrechtlers, der kürzlich »extremistischen Laizisten« mit dem Galgen gedroht hatte, sollten sie versuchen, die Übergangsregierung zu stürzen, die aus der islamistischen al-Nahda und ihren mittlerweile überaus geschwächten Koalitionspartnern CPR und Ettakatol besteht. Auf der Bühne glänzte Marzoukis Berater Tarek Kahlaoui mit einem bemerkenswert aggressiven Auftritt. Er bezeichnete die Opposition als eine »Bande von Bengeln« und beschuldigte nach Angaben des oppositionellen Webportals Nawaat die radikale Linke, das Spiel des ancien régime zu spielen. Inmitten der Anhänger des CPR agitierte Recoba, ein berüchtigtes Mitglied der Ligen zum Schutz der Revolution, auf den Schultern zweier Adlati. Der CPR und al-Nahda treten strikt gegen eine Auflösung der Ligen ein und sind bislang nicht bereit, sich an einer von der UGTT vorgeschlagenen Konferenz gegen politische Gewalt zu beteiligen.
Tags darauf wurde das Urteil in dem Marathonprozess gegen Dekan Habib Kazdaghli (Jungle World 13/2013) veröffentlicht, den linken Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Manouba, wo Salafisten monatelang eine militante Kampagne zur Durchsetzung des Niqab, der Vollverschleierung von Frauen, in den Vorlesungen und Prüfungen durchgeführt hatten. Für die Opposition war der Prozess ein Testfall, inwieweit sich die Justiz gegen Säkulare funktionalisieren lässt. Das Urteil lautete: Freispruch für Kazdaghli und vier bzw. zwei Monate Haft auf Bewährung für die Studentinnen, die sein Büro verwüstet hatten und von denen eine ihn beschuldigt hatte, sie geohrfeigt zu haben. Am nächsten Tag protestierten an der Fakultät etwa 50 Anhänger der Studierendengewerkschaft UGTE, die al-Nahda nahesteht, gegen das Urteil und forderten dem Internetportal Leaders.com zufolge, den Dekan des Amtes zu entheben, als »Feind des Islam, der die Niqab-Trägerinnen verfolgt und ihnen ihr Recht auf Ausbildung verweigert«.
Zudem fanden vorige Woche auf dem Berg Chaambi nahe der Grenze zu Algerien und im Gouvernement Kef großangelegte Aktionen von Gendarmerie und Militär gegen zwei Gruppen von bewaffneten Jihadisten statt. Von insgesamt 50 Jihadisten ist die Rede, die teils aus Algerien stammen. Auf dem unübersichtlichen Gelände des Bergs hatten sie selbstgebaute Minen gelegt, gut ein Dutzend Angehörige der bewaffneten Kräfte des Staats wurden durch sie teils schwer verletzt. Ob es direkte bewaffnete Auseinandersetzungen gab, ist unklar, das tunesische Verteidigungsministerium dementiert das.
Der tunesische Demokratisierungsprozess gestaltet sich schwierig.