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Was braucht eine Zeitung, um Aufmerksamkeit zu erlangen? Brandheiße Themen und kontroverse Beiträge? Die können sicher nicht schaden, aber auf den ersten Blick zieht vor allem eines: Poppig bunt muss die Titelseite leuchten. Zumindest ging die letzte Ausgabe der Jungle World am Stand auf dem Berliner Mariannenplatz am 1. Mai weg wie warme Falafel. »Oh, so knallige Farben!« »Viel bunter als die Junge Welt!« So wurde da gelobt, und auf den zweiten Blick anerkannt: »Interessantes Thema.« Mit Psycho-Knacksen können eben alle etwas anfangen und bald schon schwanden die Stapel dieser und anderer Ausgaben (»Gratis, aber nicht umsonst!«) am traditionellen Jungle-World-Anlaufpunkt des 1. Mai. Zudem gab es ganz exklusiv die Zeitung von morgen schon heute, wohlgemerkt bereits ab dem Vormittag. Doch alle, die am 1. Mai nicht in Berlin waren, müssen nicht traurig sein: Am nächsten Tag kam die bonbonfarbene Ausgabe ja auch zu Ihnen in den Briefkasten – und das, ohne sich durch betrunkene Menschenmassen und Grillschwaden kämpfen zu müssen. Wirklich verpasst haben Sie, außer dem Live-Chat mit unseren charmanten Kolleginnen und Kollegen am Stand, an diesem 1. Mai in Berlin bekanntlich nichts: Keine Krawalle, Revolution verschoben, Polizei glücklich. Wie der Kampftag der Arbeiterinnen und Arbeiter für die Kolleginnen und Kollegen nach der Zeitungswache weiterging, hing ab von den individuellen Vorlieben (»Grillen!«), dem Alter (»Noch die zwei Stunden bis zum Beginn der Demo im Köfte-Rauch stehen? – Viel zu anstrengend!«) und dem Grad des naiven Idealismus (»Demonstrieren ist revolutionäre Pflicht!«). Wer noch richtig Krawalle und gesellschaftliche Auseinandersetzungen erleben wollte, musste sowieso etwas weiter weg danach suchen, etwa in Tunis. Dass das nicht immer erfreulich ist, können sie nicht ganz so knallig-bunt, aber brandheiß in dieser Ausgabe lesen. Wie viel eigentlich gestreikt und demonstriert wird und was das alles bringt, ebenso. Dass nicht nur am 1. Mai protestiert wird, sowieso. Und natürlich vieles mehr, nicht nur in schwarzweiß. Für die Redaktion der Jungle World ist der 1. Mai dennoch ein besonderer Tag. Nur an diesem Tag und zum Geburtstag von Jesus gönnen wir uns Feiertage, ansonsten wird hart geackert. Streiken bringt da nach 1997 auch nichts mehr, schließlich haben wir uns für Selbstausbeutung entschieden. Die macht jetzt übrigens noch mehr Spaß, denn gegönnt haben wir uns nicht nur einen Feiertag, sondern auch ein paar neue Flachbildschirme. Vorbei sind also die Zeiten, in denen Sie an dieser Stelle Anekdoten über steinzeitliche Arbeitsgeräte lesen müssen. Aber keine Angst, Flachheit und bunte Poppigkeit allein reichen uns nicht und Ihnen sicher ebenso wenig.