Hat Aktivisten der 15M-Bewegung in Madrid und Valencia getroffen

Von den Plätzen in die Viertel

Ein Besuch bei Aktivistinnen und Aktivisten der 15M-Bewegung in Madrid, der Stadt, in der vor zwei Jahren die erste acampada organisiert wurde.

Die Folgen der Krise sind in Madrid nicht sofort sichtbar. Auf den ersten Blick scheint sich das alltägliche Leben nicht grundlegend verändert zu haben. Die Bars sind immer noch zu jeder Tageszeit gut gefüllt und Menschen, die im Müll nach Verwertbarem suchen, sieht man zumindest nicht häufiger als vor einigen Jahren. Wer die Statistiken verstehen möchte, die eine Rekordarbeitslosigkeit und Hunderttausende Räumungen von Wohnungen in den vergangenen Jahren dokumentieren, muss genauer hinschauen. Erst dann wird nachvollziehbar, wie schwierig das Leben für viele Menschen geworden ist. Sichtbar werden dabei auch die Gegenstrategien, die entwickelt worden sind.
Viele dieser Strategien firmieren unter dem Label 15M, was für die soziale Bewegung der Indignados steht, die ihren Ursprung am 15. Mai 2011 hatte. Inspiriert von den arabischen Revolten besetzten die »Empörten« vor zwei Jahren die zentralen Plätze zahlreicher spanischer Städte mit der Forderung: »Democracia Real Ya!« (echte Demokratie jetzt). Die Bilder der vielen Tausend Menschen, die auf der Puerta del Sol im Zentrum Madrids kampierten und sich dort in Basisdemokratie übten, gingen um die Welt.
Die acampada von Madrid, die als der Ursprung der Bewegung gilt, beschloss nach einigen Wochen ihre Selbstauflösung. Stattdessen wurden zahlreiche kleinere Versammlungen in den Bezirken der spanischen Hauptstadt ins Leben gerufen.
»Die acampada hat bewirkt, dass wichtige Themen, wie etwa das Problem mit dem nicht vorhandenen bezahlbaren Wohnraum, von Tausenden Menschen öffentlich diskutiert wurden«, sagt Gonzalo, Ende 20, der eine Vokuhila-Frisur trägt, wie es bei vielen spanischen Linken und Libertären üblich ist. »Viele dieser Menschen waren bis zur Besetzung der Puerta del Sol noch nie politisch aktiv gewesen«, fährt er fort, »diese Diskussionen bekamen dann einen konkreteren Charakter, als sie in die Stadtteile übertragen wurden.« Gonzalo hat sich zu Beginn in der 15M-Bewegung engagiert, er gehört aber nicht zu den Menschen, die sich erst durch de Erfahrung der acampadas politisierten. Heute nimmt er an der Stadtteilversammlung von Lavapiés und der ihr angeschlossenen Arbeitsgruppe teil, deren Schwerpunkt die Wohnungspolitik ist.
Lavapiés gilt als der alternative Stadtteil von Madrid. Libertäre Einrichtungen gibt es hier viele, etwa das anarchistische Lokal »Magdalena« in der gleichnamigen Straße und das Gewerkschaftslokal der syndikalistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) an der Plaza Tirso de Molina. Außerdem gibt es viele Kneipen und Restaurants, die anarchistisch geprägt sind, etwa die »Bar Kunin«. Auch die linke Zeitung Diagonal, die zweiwöchentlich erscheint, hat hier ihren Sitz. Viele Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika leben und arbeiten in Lavapiés und prägen das Straßenbild und Geschäftsleben.
Die Stadtteilversammlung der 15M-Bewegung thematisiert unter anderem die immer zahlreicheren rassistischen Polizeikontrollen im Viertel. Kontrollierende Polizisten wurden in den vergangenen zwei Jahren immer wieder von sich spontan bildenden Gruppen umringt und aus dem Viertel gedrängt. Möglich wurde dies, weil antirassistische Initiativen die lokale 15M-Versammlung als Katalysator nutzen konnten. Allerdings gestaltet sich die politische Arbeit auf dem Territorium nicht immer einfach: »Die Migrantinnen und Migranten dauerhaft in unsere Aktivitäten einzubinden, ist uns nicht gelungen«, räumt Gonzalo ein. »Sie haben zwar die gleichen Probleme wie wir, zum Beispiel im Bezug auf Wohnraum, nutzen aber ihre eigenen Netzwerke. Man hat bei Versammlungen übersetzt, um sie für Migrantinnen und Migranten zugänglich zu machen, aber leider brachte dies keine dauerhaften Erfolge.«
Die Anzahl der Menschen, die in der 15M-Bewegung aktiv sind, hat sich in den vergangenen zwei Jahren stark reduziert. Viele haben sich desillusioniert wieder ins Privatleben zurückgezogen, nachdem durch die zahllosen Demonstrationen keine einzige der Hauptforderungen durchgesetzt werden konnte. Die konservative Regierung von Mariano Rajoy hält nach wie vor unbeirrt an der Austeritätspolitik fest. Nicht einmal die Räumungen konnten bislang gestoppt werden, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Viele engagieren sich aber auch immer noch in den Gruppen, die aus der 15M-Bewegung hervorgegangen sind. »Viele Leute, die nicht mehr an den Stadtteilversammlungen teilnehmen, machen jetzt andere Dinge. Sie bauen eine freie Bibliothek auf, engagieren sich in einem Kulturzentrum oder ähnliches. Die sozialen Strukturen wurden durch 15M generell gestärkt«, sagt Maite, die augenscheinlich aus dem gleichen subkulturellen und politischen Milieu wie Gonzalo stammt. Tatsächlich: In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Zahl der selbstverwalteten sozialen Zentren in Madrid verdreifacht. Einige von ihnen sind besetzt, andere gemietet worden. Die jeweilige 15M-Stadtteilversammlung spielte für die Entstehung solcher Zentren eine entscheidende Rolle.
Insbesondere die Diskussion zum Themenkomplex »Wohnen« ist durch die 15M-Bewegung stark beeinflusst worden. Die wichtigste Rolle spielt hier die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (Plattform der Betroffenen von Hypotheken, PAH). Diese existierte zwar schon vor dem 15. Mai 2011, aber auch für sie diente die Bewegung als Diskussionsforum. Die lokalen Versammlungen nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in Kleinstädten und Dörfern, haben zahlreiche Initiativen, die zuvor im Zusammenhang mit der PAH isoliert arbeiteten, zusammengebracht. Dies hat die Mobilisierungsfähigkeit und die Ausstrahlungskraft der Plattform erheblich gestärkt. Die Aktivistinnen und Aktivisten der PAH nutzen jetzt die 15M-Versammlungen, um über anstehende Räumungen zu informieren und um zu eigenen Blockaden oder Besetzungen aufzurufen.
Maite findet jedoch, dass die PAH in Madrid zu institutionell und legalistisch agiert. »In anderen Regionen des Landes sieht es anders aus«, erzählt sie. »In Andalusien unterstützt die PAH auch Besetzungen von Wohnraum.« Maite arbeitet für die Oficina de Okupación de Madrid. Die Gruppe berät Menschen, die Gebäude für verschiedene Zwecke besetzen wollen. Diese Strategie wird in Spanien derzeit immer häufiger diskutiert und praktiziert. In einer Situation, in der Hunderttausende Wohnungen geräumt werden, während gleichzeitig sehr viel Wohnraum leer steht, scheint dies für immer mehr Leute eine materielle Notwendigkeit geworden zu sein. Die Diskussion in der Bewegung verläuft dennoch kontrovers. »Es gibt immer noch viele Leute, für die eine Besetzung unvorstellbar ist«, sagt Maite, »sie ziehen es vor, zu zehnt in einer Wohnung zu wohnen.« Die allermeisten der Menschen, die ihre eigene Wohnung verlieren, kommen zunächst bei Familienmitgliedern unter. »Andere wiederum können sich auf eine Besetzung nicht einlassen, weil ihr Aufenthaltsstatus dadurch gefährdet würde«, ergänzt Gonzalo. Eines steht für Gonzalo und Maite jedenfalls fest: Die Besetzung von Wohnraum sei in letzter Zeit enttabuisiert worden. »Viele Menschen, von denen man es früher niemals erwarten hätte, zeigen heute Verständnis für diese praktische Infragestellung von Privateigentum.«
Patricia Horillo ist anderer Meinung. Sie sitzt vor dem Eingang des Medialab-Prado, einer durch die Stadtverwaltung von Madrid finanzierten Institution im Zentrum der Stadt, die Kulturprojekte fördert. Patricia ist freie Journalistin, im Medialab arbeitet sie mit weiteren Aktivistinnen und Aktivisten an dem Projekt »15M.cc«. Sie produzieren ein Buch, einen Film und die Website www.15m.cc, die die Entwicklung der Bewegung dokumentieren sollen. »Privateigentum ist hier ein Naturgesetz«, sagt sie in Bezug auf die Besetzungen. Es sei viel besser, den juristischen Weg einzuschlagen, »denn es gibt viele wohlmeinende Richter in Spanien, denen bislang nur die Instrumente fehlten, um die Betroffenen von Hypotheken zu schützen.« Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. März biete nun Anlass zu Hoffnung, meint sie. Darin wurde die spanische Praxis der Räumungen für unvereinbar mit europäischem Recht erklärt. »Die 15M sollte Parallelstrukturen aufbauen, anstatt die direkte Konfrontation mit dem System zu suchen«, meint sie.
Hinter den unterschiedlichen Ansichten zur Wohnungsfrage stehen grundsätzliche Unterschiede in der Einschätzung der Krise. Während sich radikalere Aktivisten und Aktivistinnen wie Gonzalo und Maite die sozialen Verwerfungen des Spätkapitalismus kritisieren, diagnostiziert Patricia lediglich eine Krise des spanischen Parteiensystems: »Ich glaube, es werden viele neue Parteien entstehen, die den Bezug zur Bevölkerung suchen und offener, horizontaler, partizipativer sein werden«, sagt sie. »Wir werden das Zweiparteiensystem hinter uns lassen.«
Viele der Menschen, die erst durch die 15M-Bewegung politisch aktiv geworden sind, haben sich zwar von den sozialdemokratischen Parteien abgewandt, das bedeutet aber nicht, dass sie aufgehört haben, sozialdemokratisch zu denken. Die Forderung, die von ihrer Seite immer lauter wird, ist die nach einer neuen, republikanischen Verfassung, der Abschaffung der Monarchie, einem laizistischen Staat und einem offeneren Wahlsystem, das auch kleineren Parteien eine Regierungsbeteiligung erlaubt. In Madrid sieht man die Fahne der zweiten spanischen Republik mit den Farben Rot, Gelb und Violett neuerdings aus so manchem Fenstern hängen.
Diese grundlegenden Unterschiede in der Einschätzung der politischen und sozialen Situation treffen bei den 15M-Versammlungen aufeinander, ohne dass sich daraus eine wirkliche Diskussion entwickelt. Vorherrschend ist vielmehr ein pragmatischer, unideologischer Umgang miteinander. Dadurch wurde es zwar möglich, basisdemokratische Strukturen zu etablieren. Gleichzeitig tragen diese Konflikte aber dazu bei, dass die 15M inhaltlich immer noch ein reichlich diffuses Bild abgibt. Die gemeinsamen Positionen beschränken sich auf Minimalkonsens über bestimmte Themen und häufig auf Allgemeinplätze, wie es bei dem Slogan »echte Demokratie« der Fall ist. Patricia hat damit kein Problem: »Die 15M ist zu vielfältig, als dass man ein einheitliches Bild von ihr zeichnen könnte.« Skeptiker warnen indessen davor, dass die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften innerhalb der 15M-Bewegung bereits wieder an Einfluss gewinnen, ohne sich zu erkennen zu geben. Letzteres wäre ja auch kaum möglich, denn das Zeigen der Symbole der traditionellen Organisationen ist innerhalb der Bewegung nach wie vor verpönt. Für die dementsprechenden Positionen gilt dies nicht unbedingt.
Neben der Schaffung neuer sozialen Zentren hat die 15M-Bewegung dazu beigetragen, eine weitere Form der Aneignung von öffentlichem Raum hervorzubringen. Dabei werden verwaiste Baugrundstücke für die Allgemeinheit nutzbar gemacht. Ein Beispiel ist El Campo de Cebada im Mittelschichtstadtteil La Latina. An diesem Ort, an dem einst der Markt stand, sollte eigentlich eine Sportanlage gebaut werden. Wie in unzähligen weiteren Fällen kam das Projekt durch die Krise zum erliegen. Was blieb, war der betonierte und eingezäunte Bauplatz, der nun durch die Stadtteilversammlung mit Leben erfüllt wird. Die Außenmauern des Geländes wurden von GraffitiKünstlern bemalt. Ein Basketball- und Fußballplatz sowie ein Garten wurden angelegt und zahlreiche Sitzmöglichkeiten geschaffen. Inmitten der dicht bebauten spanischen Hauptstadt haben Bürgerinnen und Bürger so einen öffentlichen Freiraum geschaffen, wo sich zahlreiche Menschen nach Feierabend aufhalten, ohne etwas kaufen zu müssen. Regelmäßig finden hier Diskussions- und Kulturveranstaltungen statt.

Ortswechsel. In Valencia treffen wir im Eingangsbereich der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Teresa Galindo und Miguel Angel Ferrís. Sie ist freie Journalistin, er Pädagoge und Dozent. Die beiden haben in letzter Zeit bereits viele Interviews gegeben, denn vor einem Jahr riefen sie die Ruta del Despilfarro (Route der Verschwendung; rutadespilfarrovalencia.wordpress.com) ins Leben. Es handelt sich dabei um eine Rundfahrt durch die an der spanischen Ostküste liegende Stadt, bei der die Besucherinnen und Besucher zahlreiche Beispiele von wahnwitzigen, überaus kostspieligen Bauprojekten besichtigen können. Gezeigt werden Bauvorhaben, die nie fertiggestellt wurden, die in sich zusammenfallen oder kaum ausgelastet sind. Spätestens seit die BBC einen Bericht über die Route produzierte, zeigen Medienvertreter aus aller Welt Interesse an dem Projekt, in Deutschland berichtet die Die Welt zuletzt über »Spaniens Hauptstadt der Verschwendung«. Die Route führt unter anderem zur Baustelle des neuen Stadions des CF Valencia, wo die Arbeiten bereits seit 2009 ruhen. Auch die »Stadt der Künste und Wissenschaften«, eine Ansammlung von futuristischen Gebäudekomplexen, deren Bau Unsummen verschlungen hat und deren Nutzen zweifelhaft ist, liegt auf der Route. Neuerdings gibt es eine weitere Rundfahrt: »Valencia in positiv«. Hier werden Beispiele der Selbstorganisation gegen die Krise präsentiert.
»Ich komme aus der anarchistischen Bewegung, dort habe ich niemals einen Konsens von 8 000 Menschen erlebt, nicht einmal von zehn. Dass es dies bei der 15M gibt, finde ich wunderbar«, sagt Miguel, der seit Jahrzehnten in Basisgewerkschaften aktiv ist. »Die sehr starke Fokussierung auf den Konsens ist aber manchmal auch die Schwäche der 15M«, fügt Teresa hinzu. »Es gibt dadurch einen Mangel an Effektivität.« Mi­guel stimmt ihr zu. Er hofft auf einen Generationswechsel: »Die 15M ist eine Schule der Selbstverwaltung, die garantiert, dass die alten Führungskräfte der traditionellen Linken bald abgelöst werden.« Er leitet seinen Optimismus aus den zahlreichen Basisaktivitäten ab, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. »Am 15. Mai 2011 hat sich in Spanien die erste wirklich politische Generation seit Jahrzehnten formiert«, sagt er. Auch in Valencia gab es etwas Ähnliches, vor allem in den Stadtteilen. So wurden lokale Medien, Zeitungen, Homepages und Fernsehkanäle gegründet. In vielen Vierteln der Stadt sind Literaturcafés entstanden, die als Treffpunkte zum Lesen und Diskutieren dienen. Auch hier erfreut sich die kollektive Gärtnerei wachsender Beliebtheit. Aber ob sich dort eine politische Alternative von unten entwickelt, die von der sozialpartnerschaftlichen Oligarchie verlorenes Terrain zurückerobern kann, oder noch unangenehmere Gruppen an Einfluss gewinnen, wird von den Entwicklungen abhängen, die weit außerhalb der Gärten und Stadtteile stattfinden.