Wagner, das Spektakel und die Popkultur

Ist der noch zu retten?

Richard Wagner ist nicht nur der erste deutsche Superstar. An seinem künstlerischen Wahn nährt sich kultureller Größenwahn, seine Opern werden zu Vorbildern eines illusionistischen Superlativismus gemodelt, einem hysterischen Soundtrack zur Krise. Übertönt werden damit die Langeweile, die Einfallslosigkeit und das Banale, das im Übrigen auch schon bei Wagner selbst oft genug zu hören ist.

Was anlässlich der Feierlichkeiten zu Wagners 200. Geburtstag immer noch an ihm unheimlich bleibt, sind weniger der Komponist und dessen Kompositionen, es ist vielmehr die beinahe fanatische Faszination, mit der Wagner und sein Werk apodiktisch mit aller Gewalt der popkulturellen Industrie in pompösen Inszenierungen verkauft werden. Wagners Antisemitismus, ebenso auch sein national verbogener Kommunismus und sein falscher Anarchismus sowie die nazideutsche Huldigung können dem Spektakel nichts anhaben. Im Gegenteil, mit dem Regressiven bei Wagner wird kokettiert, das Reaktionäre wird zur treibenden Kraft einer Überbietungsästhetik verklärt, in der sich Wagners mythologischer Irrationalismus als irrationaler Wagner-Mythos verlängert. Kurzum, alles Problematische an und bei Wagner und seinem Werk wird zum künstlerischen Effekt verbastelt, wird also, nach Wagners Definition von »Effekt«, zur Wirkung ohne Ursache.
Wenn Wagner aufgeführt wird, wird es ohnehin meistens »irre«, »wahnsinnig«, »toll«. Als Entertainment funktioniert das heute freilich nur, wenn alles irgendwie ironisch gebrochen, überaffirmativ oder dekonstruktiv gemeint ist, wenn der Wahn lustig daherkommt. Gerade als Genie wird Wagner immer auch ein bisschen als Witzfigur vorgeführt, immer auch ein bisschen lächerlich dargestellt. Gerade weil man das, was bei Wagner problematisch ist, nicht ganz so ernst nimmt, kann der ganze Wagner mit allem Ernst geboten werden.
Zu bändigen ist Wagner gleichwohl nur durch seinesgleichen. Oder durch dramaturgisch-­musikalische Meisterschaft. Kein Komponist, kein Künstler im hochkulturellen Kanon ist mit seinem Werk so sehr überhöht in der bis ins Absurde gedehnten Spannung zwischen übergeschnappten Aufführungen und handwerklicher Perfektion. Hauptsache Pathos. Und das gibt es bei und mit Wagner zu Genüge, auch für ein Publikum, dessen Geschmack und Genuss längst überreizt ist, das für sein Geld Unterhaltung will und nicht Übungen in kritischem Urteilsvermögen.
Wagner konzipierte sein Musikdrama als Kunstwerk der Zukunft – ein sogenanntes Gesamtkunstwerk, das alle Künste in sich vereinigt, um derart, in Wagners Worten, zur »unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur« zu gelangen. Als Utopie ist dieses Gesamtkunstwerk nicht »die willkürlich mögliche Tat des Einzelnen, sondern (…) das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft«.

Wagners Gesamtkunstwerk bleibt illusionär. Adorno hat in seinem »Versuch über Wagner« darauf aufmerksam gemacht. Wagner reduziere das gesellschaftliche Subjekt auf das ästhetisch privatisierte, bürgerliche Individuum. »Wenn Wagner (...) im Namen des ›wirklichen‹, nämlich des ganzen und freien Menschen (...) Kooperation und Assoziation der Künste forderte, wie beim befreiten Menschen die Sinnesorgane, nicht länger mehr verstümmelt, einmal vielleicht sich zusammenfinden mögen, so hat er damit eine Forderung des realen Humanismus erhoben. Diese Forderung schlug ihm in Rausch und Verblendung um, anstatt mit der rationalen Lenkung des Arbeitsprozesses der Freiheit beizustehen. Das jedoch erklärt sich damit, dass das Gesamtkunstwerk von eben dem bürgerlichen ›Individuum‹ und seiner Seele getragen wird, das Ursprung und Substanz selbst jener Entfremdung verdankt, gegen welche das Gesamtkunstwerk aufbegehrt.«
Die Industrialisierung, die die gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts bestimmte, machte sich auch mehr und mehr in den Bereichen bemerkbar, die das bürgerliche Zeitalter als »Kultur« deklarierte. Insbesondere der Opern­betrieb wurde von einer den großen Fabriken vergleichbaren Arbeitsteilung erfasst. Zugleich verschwanden aber die Produzenten hinter den Produkten, wurden die Produktionsverhältnisse unsichtbar, versteckt. Für die im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehende Massenkultur und ihre Veranstaltungen wird dies unabdingbar, bedingt schließlich auch die neuen technischen Formen vom Massendruck bis zum Film. Wagner versenkt die Musiker im Orchestergraben. Sogenannte Phantasmagorien, etwa durch die Laterna Magica erzeugte Trugbilder, finden auch im Theater und in Opern Verwendung. Karl Marx spricht bekanntlich im »Kapital« vom gesellschaftlichen Verhältnis der Menschen, welches unter Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion »hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.« Theodor W. Adorno widmet der Phantasmagorie bei Wagner einen ganzen Abschnitt (und er kennt freilich Walter Benjamins Definition von »Kultur als die höchste Entfaltung der Phantasmagorie«): Wagners Gesamtkunstwerk antizipiert die Massenkultur, die sich im 20. Jahrhundert zur Kulturindustrie entwickelt und schließlich in den banalen wie ubiquitären Spektakeln der Popkultur mündet.
Über diesen Bogen, der mit technologischen Verfahren ebenso verbunden ist wie mit der allgemeinen Kommodifizierung, lässt sich Wagner ohne weiteres in das Programm des gegenwärtigen Betriebs einpassen, das Jubiläumsjahr ist dazu nur ein willkommener Anlass.
Dagegen: Die Rettung Wagners hat zum Maßstab die rücksichtslose Kritik der Kultur, die Zerschlagung ihrer Ideologie. Der erste Angriff ist einer der Aufklärung und zielt auf die Durchbrechung des Wagner-Mythos: zeigen, dass Wagner nur historisch interessant ist, ansonsten aber langweilig. Seit Wagner hat die Musikgeschichte wahrlich besseres hervorgebracht! Der zweite Angriff zielt dennoch, als Überraschungsangriff, auf Aktualisierung. Aber auch hier ist die Wendung gegen den Mythos entscheidend, und zwar ist gegen den Mythos das Märchen zu verteidigen. Im 19. Jahrhundert hat Jacques Offenbach das mit seinen Operetten gemacht, insbesondere mit den Féerien der 1870er Jahre (als Wagner nach Bayreuth kam).

Schon die Avantgarden haben solche Aktualisierung radikalisiert. Wenn auch nicht mit Bezug auf Wagner, so doch mit real-humanistischer Perspektive auf eine revolutionäre Reformulierung eines Entwurfes des Gesamtkunstwerks könnte etwa die futuristische Oper »Sieg über die Sonne« verstanden werden. Ihre Uraufführung fand 1913 in einem Amüsement-Park in St. Petersburg statt. Die sachliche Rettung Wagners in den zwanziger Jahren fand dann im Kino statt und gelang spätestens mit dem Tonfilm »The Jazz Singer« (1927) oder bei Brecht, mit »Mahagonny«.
Ernst Bloch plädierte 1935 in »Erbschaft dieser Zeit« für eine »Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage«. Nicht Wagner selbst, sondern einige seiner utopischen Motive sollten gerettet werden, »Traumkitsch«, »Hieroglyphen im Hohlraum des XIX. Jahrhunderts«, wie Bloch notiert. Konfrontiert wird Wagner mit Karl May. »Und Karl May, an sich schon einer der spannendsten, buntesten Erzähler, steht für Jahrmarkt, Kolportage, für Wesen also, deren Improvisationen und Grelle man wichtig, fast ernst zu nehmen hat. ›Rettung‹ Wagners durch Karl May bedeutet also keinen Witz auf einem Leichenschmaus, sondern ein lebendiges Stück«, schreibt Ernst Bloch.
1942 verwandelte ausgerechnet Disney Wagner in dem Anti-Nazi-Trickfilm »Education for Death« in Kolportage: Deutschland als blondes Dornröschen, wachgeküsst von Hitler als Ritter, dazu dann eine grotesk-komische Version des Walkürenritts.

Nach 1945 sind solche Rettungsversuche schwierig geworden. Und umso schwieriger, je mehr gerade im Namen von Wagner Restauration betrieben wird. Umso schwieriger aber auch, weil angesichts der Geschichte sich die Frage der Rettung womöglich gar nicht mehr mit Wagner stellt: zu dünkelhaft, zu langweilig, zu weltfremd, als dass hier etwas zu verteidigen oder beerben wäre, was nicht in jeder Hinsicht unterhaltsamer, leichter und auch klüger mit der Popkultur gestaltet werden könnte.
Immerhin hat gerade der Pop als ursprünglich internationale, US-amerikanische Kultur, einige technische Ausdrucksmittel auch von Wagner übernommen (so zum Beispiel das Leitmotiv für die Filmmusik, überhaupt die Idee des Gesamtkunstwerks für das Kino, schließlich auch die Tonmalerei und Klangfarben, die als Sound wiederkehren), aber eben nicht das Rheingold, das Deutsche (dabei versuchte man in New York noch um 1900, gerade mit Wagner und der deutschen Oper die Hochkultur rassistisch gegen den »niederen« Jazz zu verteidigen). Wie bei Karl May mit imaginierter Prärie nimmt auch hier die surrealistische Rettung Wagners den Umweg über Amerika, nicht zuletzt über André Breton, Marcel Duchamp, Max Ernst – und Hollywood.
So kommt schließlich ein kulturindustriell aktualisierter, spektakulär kolportierter Wagner wieder – aber versteckt, im Kleinen, fast unkenntlich: Little Richard, Marilyn Monroe, das Musical, der ganze Broadway, Komödie mit Traumkitsch, Drama mit Happy End. Seit den siebziger Jahren schreibt sich diese Geschichte aus sich selbst heraus fort: Die Phantasmagorien sind lauter, bunter, auch tanzbarer geworden. Das Gesamtkunstwerk heißt Soundsystem, mit Punk, HipHop und Techno emanzipieren sich die Effekte. Was mit dem Kunstwerk der Zukunft beabsichtigt war, hat sich vollends in ästhetische Ideologie verkehrt – eine Verschmelzung von Hoch- und Trash-Kultur: Das Spektakel, auch die Oper, auch Bayreuth, ebenso wie jede belanglose Fernsehshow und jede Casting-Band, sind bloß noch Reklame für die Welt, wie sie ist. Auf Wagner und seine Werke kann dabei gut verzichtet werden.