Techno aus den Favelas: Das brasilianische Tecnobrega

Wer hat’s erfunden?

Entstanden in den Armenvierteln im Norden Brasiliens, wird Tecnobrega heute weltweit gespielt. Nicht zuletzt, weil die Musiker auf Copyrights verzichten, wurde das Genre populär. Inzwischen tanzen auch die Hipster der brasilianischen Mittelschicht zu den Klängen aus den Favelas.

Global Bass, Tropical Bass, Global Ghettotech – die Begriffe sind so vielfältig, wie die Musik vielschichtig ist. Diese Vielfalt nährt seit einem Jahrzehnt die Hoffnung auf eine globale Musik, in der die Peripherie und ihre Kultur nicht mehr nur schmückendes Ornament, sondern selbst sichtbar sind. Die Verfügbarkeit günstiger digitaler Technik und die Möglichkeit, Musik direkt im Internet zu publizieren, haben in den ehemaligen Kolonialländern zu einem Boom neuer Musikstile geführt, die elektronische Clubmusik des Nordens mit regionalen und lokalen Musiktraditionen des Südens verschmelzen. Mit der ewigen Suche der Weltmusik nach möglichst authentischen Ethnoklängen hat dies kaum noch etwas zu tun. Beim Lusotronics-Festival am 19. und 20. Mai in Berlin versammeln sich nun einige der wichtigsten und interessantesten Musiker der lusophonen Welt, Tecnobrega spielt dabei eine bedeutende Rolle.
Dabei galt die internationale Aufmerksamkeit zunächst gar nicht der Musik: Der Verzicht auf Copyrights durch Tecnobrega-Künstler und der nicht trotz, sondern wegen dieses Schrittes einsetzende wirtschaftliche Erfolg ließen weltweit aufhorchen. Im wirtschaftlich schwachen Norden Brasiliens ist mit Musik kaum Geld zu verdienen. Mangelnde Vertriebsmöglichkeiten machen den Musikern das Leben schwer. Gut funktionierende Netzwerke besitzen aber die überregional agierenden Raubkopierer und die Straßenhändler. Tecnobrega-Produzenten lassen ihre Werke nicht nur frei im Internet zirkulieren, sondern auch im gesamten Amazonasgebiet als günstige CDs über diese Distributionsnetzwerke verbreiten. Innerhalb kurzer Zeit wurde das Genre zu einem Massenphänomen, ohne dass etablierte Radiostationen oder die Musikpresse davon Notiz nahmen. Geld wird nicht mit dem Verkauf von Musik verdient, sondern durch die Parties, zu denen jedes Wochenende Tausende Menschen strömen.
Brega bedeutet kitschig, bezeichnet aber auch ein sich nah am Schlager bewegendes Musikgenre, das in den neunziger Jahren besonders im Bundesstaat Pará und seiner Hauptstadt Belém populär war. Ab der Jahrtausendwende wurde Brega in den Armenvierteln der Stadt mit elektronischen Beats aufpoliert, Tecnobrega war geboren. Durchweg an heimischen PCs, mit billigen Synthesizern und Drumcomputern produziert, entsprach die Musik trotz der meist miesen Qualität dem Massengeschmack, zumindest dem der verarmten Massen der urbanen Peripherie. Gerade in Pará wird auch all das als brega bezeichnet, was als Unterschichtkultur gilt und damit als minderwertig und unkultiviert angesehen wird. Der fehlende Zugang der Marginalisierten zu Radio und Presse hat die Entwicklung von Tecnobrega nicht gehemmt. Gerade das Fehlen der üblichen Veröffentlichungs- und Promotionszyklen beschleunigte die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung. Was Donnerstag fertig gestellt ist, kann Samstagnacht schon von den gigantischen »Aparelhagens de Som«, den mit aufwendigen Licht- und Pyroshows garnierten Sound-Systems, gespielt und über Nacht zum neuesten Hit werden. Der Erfolg ermöglicht dann eine technische Professionalisierung; dazu wurden auf der Nordhalbkugel populäre Sounds wie House und Techno adaptiert. Tecnobrega war immer noch ziemlich kitschig, wurde aber immer professioneller produziert.
Auch wenn häufig behauptet wird, Musik aus allen Winkeln der Welt sei immer nur einen Mausklick entfernt, nahm man international weiterhin kaum Notiz von diesem Genre. »Westliche« Musik wurde in Belém rezipiert, ein Austausch fand hingegen nicht statt. Damit Buraka Som Sistema und Batida den angolanischen Kuduro über Lissabon weltweit bekannt machen konnten, bedurfte es erst westlicher Vermittler. Der unvermeidliche Diplo griff den Brega-Rhythmus in seinen Produktionen auf, der Berliner Daniel Haaksman veröffentlichte auf seinem Label Man Recordings einen Tecnobrega-Sampler. Haaksman, der schon Baile Funk aus Rio einer größeren Hörerschaft bekannt gemacht, kuratiert das Lusotronics-Festival und sieht diese Entwicklung als normal an. »Die Botschafter- und Agentenrolle hat es auch in Brasilien immer gegeben. Jazz oder Funk wurden zuerst von einzelnen Leuten propagiert und dann von einer breiteren Masse von Musikern aufgenommen.« Westliche Trends würden aber eindeutig schneller adaptiert, als umgekehrt der Westen die Entwicklungen an den Rändern rezipiere. »Musikstile der Nordhalbkugel sind früher aufgrund von Distributionsproblemen mit extremer Verspätung in Brasilien angekommen. Dank des Internet geht das jetzt fast in real time. Aber die Musikindustrie spiegelt auch die real existierenden Machtverhältnisse wider. Die Kanäle, in denen die Musik des Nordens zirkuliert, sind halt viel mächtiger als die, in denen die Musik des Süden zirkuliert.«
Auffällig ist, dass Künstler wie Banda Uó und João Brasil, die aus dem Süden Brasiliens stammen, die ersten waren, die mit ihren Tecno­brega-Produktionen rezipiert wurden, was mit dem Verhältnis von Metropole und Peripherie innerhalb von Brasilien zu tun hat. Belém mag das kulturelle Zentrum eines Gebietes sein, das viermal so groß wie Deutschland ist, von den nationalen Zentren Brasiliens ist es Tausende Kilometer entfernt. Der Amazonas ist Provinz und die Stereotype über die Region sind in Brasilien ebenso verbreitet wie in Europa. Die Kultur Parás, die aufgrund der geographischen Nähe viele Einflüsse der Karibik und Guyanas aufweist, ist im Rest des Landes fast unbekannt. »Natürlich verkörpern Banda Uó die Großstadt-Hipster, die vor fünf Jahren noch etwas völlig anderes gemacht haben«, charakterisiert Haaksman die erste Tecnobrega-Welle außerhalb Beléms. Erst als die Trendsetter sich dieser Musik widmeten, ihr einen urbanen Style verpassten und den Sound noch kosmopolitischer gestalteten, wurde die Marginalisierung von Armut und Provinz etwas abgeschwächt. Mittlerweile genießen auch Musiker aus Belém eine größere Aufmerksamkeit. Gaby Amarantos, aufgewachsen in der innerstädtischen Favela Jurunas, ist längst ein Superstar. Waldo Squash, DJ und Produzent von Gang do Eletro, hat höchste Weihen erfahren: Die Pet Shop Boys baten um einen Remix. Während die Ursprünge zahlreicher im Westen aufgegriffener Sounds früher unsichtbar blieben, betreten heute zumindest ihre Superstars die globale Bühne.
Die internationale Aufmerksamkeit hat Tecnobrega auch in Belém aus der Schmuddel­ecke geholt. Tecnobrega läuft, was vor einigen Jahren noch völlig undenkbar war, nun auch in den schicken Clubs der Mittelschicht. Längst ist der hochdynamische, trashige Sound – der ein Produkt der ökonomischen Zwänge in den Armenviertel ist – mit seinem charakteristischen Beat konsensfähige Partymusik geworden. Die einstige Verachtung von Tecnobrega weicht immer mehr der Einsicht, das die Hafenstadt am Äquator dank dieser Musik weltweit Aufmerksamkeit und Anerkennung erfährt. Mit den Bewohnern der Viertel, in denen Tecnobrega entstand ist, will aber doch niemand feiern. Brega bleibt brega.