Der Anschlag in der türkischen Stadt Reyhanlı

Der Konflikt kennt keine Grenzen

Der Hintergrund des Anschlags in der türkischen Grenzstadt Reyhanlı von Mitte Mai ist noch nicht geklärt.

In diesem Krieg gibt es alles außer klaren Fronten. Die türkische Polizei hat einen Hauptverdächtigen für den Doppelanschlag in Reyhanlı gefasst. Zwei mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge waren am 11. Mai vor dem Rathaus und der Post der nahe der Grenze zu Syrien gelegenen türkischen Stadt explodiert. 51 Menschen wurden getötet, rund 100 weitere verletzt. Celalettin Lekesiz, der Gouverneur der vom Krieg in Syrien stark betroffenen Provinz Hatay, gab am Freitag vergangener Woche bekannt, die Polizei habe Beweise für Treffen und Telefongespräche der mutmaßlichen Täter mit dem syrischen Geheimdienst. Der Mann sei am Donnerstagabend beim Versuch, die Grenze nach Syrien zu überqueren, gefasst worden. Er werde verdächtigt, die Autos für den Doppelanschlag organisiert zu haben. Nach zwei weiteren Verdächtigen, die ebenfalls versucht hätten, nach Syrien einzureisen, werde noch gesucht. Alle Verdächtigen sind türkische Staatsbürger, denen vorgeworfen wird, von der syrischen Regierung unterstützt zu werden. Ankara vermutet die syrische Führung hinter den Anschlägen, diese weist hingegen jegliche Verwicklung zurück. Lekesiz zufolge sind derzeit 13 Verdächtige in Haft.

Die Ermittlung verlief auffällig glatt, nachdem zunächst eine Nachrichtensperre verhängt und in der vergangenen Woche »linksextreme Gruppen« von der türkischen Polizei beschuldigt worden waren. Mitglieder der »Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front« (DHKP-C) sowie einer Splittergruppe der »Türkischen Volksbefreiungspartei-Front« (THKP-C) wurden zunächst als Handlanger des Assad-Regimes hinter dem Anschlag vermutet. Dieser Zusammenhang wird seit einiger Zeit hergestellt, wenn es darum geht, Urheber von ungewöhnlichen Terroranschlägen zu finden. Der Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Ankara, bei der neben dem Attentäter ein türkischer Wachmann starb, wurde ebenfalls als Wahnsinnstat eines DHKP-C-Anhängers zu den Akten gelegt. Der Täter habe gegen die Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei protestieren wollen.
Der marxistisch-leninistische Untergrund hat in der Türkei in den vergangenen Jahren aber immer nur kleinere Bombenanschläge auf Polizeistationen verübt, neben seinen gewaltfreien Aktivitäten wie Demonstrationen, Hungerstreiks in den Gefängnissen und ideologischer Mobilisierungsarbeit. Das hat gute Gründe. Der letzte große Anschlag 1996 hatte Verbindungen zwischen den Organisationen und der türkischen Konterguerilla zu Tage gefördert. Im Jahr 1996 wurde Özdemir Sabancı in der Chefetage des Sabancı-Konzerns in den Sabancı-Twin-Towers erschossen, zusammen mit seiner Sekretärin Nilgün Hasefe und dem Konzernmanager Haluk Görgün. Die Familie Sa­bancı hatte sich zu dem Zeitpunkt im Rahmen des einflussreichen Unternehmerverbandes TÜSİAD für eine Lösung der Kurdenfrage engagiert. Nach dem Anschlag traten ihre Mitglieder nie wieder politisch in Erscheinung. Die linksextreme Bewegung verlor gleichzeitig politische Sympathien und wurde noch stärker marginalisiert. Warum sie sich nun zu diesem Zeitpunkt für das Assad-Regime einsetzen sollte, ist nicht wirklich nachvollziehbar, zumal Zivilisten Ziel des Anschlags waren.

Wer wirklich für den Anschlag in Reyhanlı verantwortlich ist, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht klären. Gerüchte gibt es viele. Die türkische Zeitung Milliyet meldete am Montag, der in den USA lebende syrische Geschäftsmann A.M.H.A. habe den Doppelanschlag finanziert. Welche Motive er haben soll und ob er Verbindungen zur syrischen Regierung hat, wurde nicht berichtet.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte auf seiner Reise nach Washington erneut die syrische Regierung beschuldigt. Das Assad-Regime klagt im Gegenzug die Regierung Erdoğan an, durch die Protektion islamistischer sunnitischer Gruppen selbst für die Anschläge verantwortlich zu sein. Sherif Shehata, Sprecher von Präsident Bashar al-Assad, sagte dem arabischen Nachrichtensender al-Jazeera kurz nach dem Anschlag: »Die Grenzen zwischen Syrien und der Türkei sind immer noch offen für diese Terroristen, die von Erdoğans Seite kommen und nicht etwa von der Shabiha-Miliz oder den Regierungstruppen.« Das Einzige, was die türkische Regierung tun müsse, um den Terror zu beenden, sei, den Strom von Waffen und arabischen Extremisten über die Türkei nach Syrien zu stoppen. Das syrische Regime hat sich allerdings vergangene Woche gleichzeitig bereit erklärt, gemeinsam mit der türkischen Regierung zu ermitteln. Der syrische Informationsminister Omran al-Zoubi bot dies an. »Wenn die Regierung von Erdoğan eine gemeinsame transparente Untersuchung fordern sollte, sehen wir keine Probleme für unsere Teilnahme daran mit dem Ziel, die Wahrheit festzustellen«, so al-Zoubi. Die türkische Regierung ging nicht weiter darauf ein. Mit der Festnahme von Verdächtigen ist die türkische Öffentlichkeit nun erst einmal zufriedengestellt, ein Generalverdacht gegen das syrische Regime steht im Raum.
In der Region Hatay selbst wachsen die Spannungen täglich. Dort leben Türken, Araber und Kurden unterschiedlicher Glaubensrichtungen – Arabische Alawiten, Sunniten, Christen und Juden. Die Provinz profitierte in der Vergangenheit von einem bescheidenen Tourismus, den die Provinzhauptstadt Antakya, das antike Antiocha, und die nahegelegene syrische Stadt Aleppo anzogen. Mittlerweile häufen sich Zusammenstöße mit syrischen Flüchtlingen, die auch nach dem Anschlag von Reyhanlı von Teilen der Bevölkerung verdächtigt und auf der Straße tätlich angegriffen wurden. Wer immer hinter dem Anschlag stehen mag, das Ziel war eine Destabilisierung der Region und der Versuch, ein Eingreifen in den Konflikt notwendig werden zu lassen.