Guy Debord in der französischen Nationalbibliothek

Krieger im Museum

Die französiche Nationalbibliothek ehrt Guy Debord mit einer großen Ausstellung.

Soll man diesen revolutionären Denker dem nationalen Erbe Frankreichs einverleiben und ihn mit einer Ausstellung in der französischen Nationalbibliothek ehren? Diese Frage stellten sich die Kuratoren der Ende März eröffneten Ausstellung »Un art de la guerre« (»Eine Kunst des Krieges«), die dem Theoretiker, Künstler, Filmemacher und Mitbegründer der Situationistischen Internationale, Guy Debord, gewidmet ist. Um dem Ankauf durch die US-Universität in Yale zuvorzukommen, war das private Archiv des Autors von der Nationalbibliothek aufgekauft worden. Zuvor war es offiziell zum trésor national, zu einem »nationalen Schatz« erklärt worden war.
»Guy Debord hätte auf diese Bezeichnung ganz sicher mit Ablehnung oder mit Sarkasmus reagiert«, erläutert der Kurator der Ausstellung, Bruno Racine, auf einer Schautafel im Eingangsbereich der Ausstellung. »Aber«, fügt Racine hinzu, »indem Debord sämtliche Dokumente akribisch aufbewahrte und ordnete, bewies er, dass es ihm um eine ›Aneignung für immer‹ ging – frei nach einem Ausspruch des antiken griechischen Autors Thukydides im ›Peloponnesischen Krieg‹, den Debord sehr gerne zitierte«. In einer von der Bibliothek herausgegebenen Zeitschrift schreibt Racine: »Würde die Bibliothek nur konformistische oder die herrschende Ordnung liebende Autoren aufnehmen, wären ihre Sammlungen sehr viel weniger interessant. Auch für diejenigen, die sich von revolutionären Ideen inspiriert sehen.«
Debord wurde 1931 als Sohn eines Schuhfabrikanten in Paris geboren und litt in seiner Jugend keine materielle Not. Wie viele Angehörige der jungen Nachkriegsgeneration bedrückte ihn die gesellschaftliche Situation während des Wiederaufbaus, das die revolutionären Ideale der Résistance verleugnete. Einen Ausweg aus der bürgerlichen Enge fand er um 1950, als er sich der künstlerischen Bewegung des Lettrismus anschloss, die der rumänisch-jüdische Einwanderer Isidore Isou um 1945 in Paris begründet hatte. Einige der ersten Exponate der Ausstellung sind die Briefe des jungen Debord an seine Freunde und das Foto eines Leuchtturms in Cannes, der mit der Aufschrift »Isou! Isou!« verziert ist.
Isou und seinen Anhängern ging es vor allem darum, eine künstlerische Avantgarde zu initiieren, bestehende Konventionen in Frage zu stellen und traditionelle Kunstformen zu sprengen. 1951 zeigte er auf dem Festival in Cannes seinen Film »Traité de bave et d’éternité« (»Traktat über Schleim und Ewigkeit«), der einen Skandal und heftige Debatten auslöste. Ein fünfminütiger Ausschnitt wird in der Pariser Ausstellung gezeigt. Der Film sollte die Filmkunst revolutionieren, indem er die lineare Erzählform sprengt und Ton und Bild entkoppelt. Man sieht einen jungen Mann, der durch die Straßen von Paris schlendert und Alltagsszenen beobachtet, während die Stimme im Off über Konzepte zur Umwälzung der Kunst spricht.
Die Ausstellung bietet bisweilen auch Überraschendes. Zwar ist bekannt, dass die künstlerische Avantgarde auch fragwürdige politische Ideen vertrat, dennoch wundert man sich. In einem Ausschnitt aus einer lettristischen Zeitung etwa wird für die »Freilassung der jungen Milizionäre« – gemeint sind Angehörige der Miliz des profaschistischen Regimes von Vichy – plädiert. Der auf der Titelseite erschienene Artikel behauptet: »Wir waren alle in der Résistance, manche von uns als Kommunisten, andere als Gaullisten oder als Katholiken.« Letztlich seien die Angehörigen der Résistance genauso durch die Altvorderen des Establishments getäuscht worden wie die jungen Faschisten von den alten Herren, die sie mit falschen Idealen geblendet hätten. Die Jugend müsse über alle Grenzen hinweg zusammenhalten, fährt der Artikel fort, der auch ein Plädoyer gegen Nationalismus und nationalstaatliche Grenzen ist. Es gelte, »die französische, die amerikanische, sowjetische, arabische und jüdische Jugend« zusammenzuführen. Am Ende des Beitrags wird dann die Freilassung und Amnestierung der ehemaligen jüngeren Vichy-Anhänger gefordert. Ein anderer lettristischer Artikel plädiert dafür, alle »proletarischen revolutionären Institutionen« zu einer »bewaffneten Intervention« im franquistischen Spanien aufzufordern, um das Feuer des 15 Jahre zuvor beendeten Bürgerkriegs wieder anzufachen und die franquistischen Herrscher zu vertreiben.
Anhand von Flugblättern, die die Ausstellung präsentiert, lässt sich die weitere Entwicklung Debords nachvollziehen: 1952 wuchs die Distanz zwischen Debord und der Avantgardebewegung. Debord und eine Handvoll Gleichgesinnter gründeten in Brüssel die Lettristische Internationale und wandten sich von Isou ab. Zum endgültigen Bruch kam es, als Debord und eine Handvoll Abtrünniger in Paris eine Aktion gegen den Besuch von Charlie Chaplin durchführten. Aus heute kaum mehr nachvollziehbaren Gründen lancierten sie ein denunziatorisches Flugblatt unter dem Titel »Schluss mit den Plattfüßen«, in dem Chaplin als »verkappter Faschist« und »Gefühlsbetrüger« bezeichnet wird. Isou distanzierte sich öffentlich davon.
1954 intervenierten die Dissidenten um Debord bei einer Aktion der Lettristen. Aus Anlass einer Feier zum 100. Geburtstag von Arthur Rimbaud veröffentlichten die Lettristen gemeinsam mit den Surrealisten um André Breton ein Flugblatt mit der Parole »Das fängt ja gut an!«, in dem sie die französische Literaturkritik angriffen. Die Lettristische Internationale ergänzte das Flugblatt auf der Rückseite und schrieb: »Und es hört schlecht auf«. Sie verhöhnten die Avantgarden als »Opposition von Ihro Majestät Gnaden« und kritisierten: »Der Skandal innerhalb eines Systems zeitigt keine Konsequenzen. Die Surrealisten haben sich behaglich in einer Wirtschaftsordnung eingerichtet, die zu verurteilen sie vorgeben (… ). Man muss die Leute nach ihrer Lebensweise beurteilen, und nicht nach ihren Phrasen. Für die Surrealisten sind die wirtschaftlichen Probleme und die soziale Revolution keine vorrangigen Angelegenheiten. Sie geben vor, dass man solchen Zwängen entfliehen könnte, und scheinen es selbst zu glauben. Doch sie leben und konsumieren. Auf den ersten Blick haben sie nicht den Anschein des Kapitalisten, Falschmünzers oder Gangsters. Man könnte sie für Büroangestellte oder Seminaristen halten. Also sind sie Büroangestellte.«
Die Dissidenten um Debord näherten sich Spielarten der Marxschen Kritik an, vor allem ihrer rätekommunistischen Variante, und den Ideen der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie von Cornelius Castoriadis, die für die linke Stalinismus-Kritik jener Zeit eine wichtige Rolle spielte. Im Juli 1957 rief die Gruppe um Debord bei einem Treffen in Cosio d’Arroscia, einem Dorf im Hinterland der ligurischen Küste, die Situationistische Internationale aus. Ihren Namen leitet die Gruppe aus dem Ansinnen ab, Situationen zu schaffen, in denen Gesellschaftskritik greifbar und plastisch gemacht werden kann. Zum Anspruch der Gruppe gehörte, dass sie – weit über die Kritik an den Arbeitsverhältnissen hinausgehend – eine Kritik am zeitgenössischen Städtebau, an der Konstitution der Subjekte in der herrschenden Gesellschaft und an Formen der Sexualität in ihre künstlerische Produktion einbezogen.
Für die kommenden zehn bis 15 Jahre wurden die Situationisten eine wichtige Avantgarde der Gesellschaftskritik. Ihre Organisationsform ahmt die der kommunistischen Verbände nach: die Schaffung einer »Internationalen« und ihrer Sektionen, das formelle Ausschlussverfahren und die ideologischen Exkommunikationen. Damit sollten die von stalinistischen Organisationen bekannten Methoden parodiert werden. Die Internationale hatte zu keinem Zeitpunkt mehr als rund 15 Mitglieder, und während der gesamten Dauer ihres Bestehens insgesamt nicht mehr als 100, wie Gilbert Lascaut aus Anlass der Ausstellung in der Literaturzeitschrift Quinzaine Littéraire betont. Ausschlussgründe waren etwa »mangelnde Kreativität« oder »zu viel kritiklose Zustimmung«, während in stalinistischen Organisationen wohl ganz im Gegenteil Disziplin und Geschlossenheit erwartet wurden. Was bisher weniger bekannt war: Auch nach formellen Ausschlüssen aus der Organisation interessierte sich Guy Debord weiterhin für das künstlerische und intellektuelle Wirken von Ausgeschlossenen und hielt oftmals auch weiter Kontakt mit ihnen. Dies wird anhand von Briefwechseln, die Debord zum Teil über viele Jahre mit einzelnen Ausgeschlossener unterhielt, in der Ausstellung dokumentiert.
Der soziale und politische Aufbruch Mitte der sechziger Jahre, der unter anderem zum französischen Mai 1968 führte, verschaffte auch der Situationistischen Internationale und ihrer Gesellschaftskritik mehr Gehör. Am Beginn der Proteste stand auch der »UNEF-Skandal« in Strasbourg im Mai 1966: Eine Broschüre der Situationisten über die »Misere im studentischen Milieu, betrachtet unter ihren wirtschaftliche, sozialen, psychologischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten« wurde auf Kosten der Studentengewerkschaft gedruckt und verbreitet. Die Broschüre, die auch in der Ausstellung zu sehen ist, veranschaulicht die damals neue Stilmischung aus Comics, Zeichnungen und Pornographie, den die Situationisten gerne einsetzten. Im Mai 1968 wandten sich die Situationisten gegen die Vereinnahmung der Bewegung durch orthodox marxistische, teilweise autoritäre Organisationen und leiteten ein »Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzungen« an der Sorbonne. Bald bemerkte die Situationistische Internationale, dass sie von vielen Seiten Applaus bekam, während zugleich bei einigen ihrer Mitglieder eine Stagnation in der Praxis zu verzeichnen war. Ab 1970 begannen Mitglieder wie Debord, ihre eigene Organisation zu kritisieren, die im folgenden Jahr ihre offizielle Auflösung bekannt gab.
Der letzte Saal der Pariser Ausstellung präsentiert das berühmte »Jeu de la guerre«, ein »Kriegsspiel«, das Guy Debord seit den fünfziger Jahren entwickelt hatte und das er sich später auch patentieren ließ. Objekte und Figuren wie aus einer Modelleisenbahn gehören zu dem Strategiespiel, von dem der Künstler eine aus hochwertigen Materialen gefertigte Sonder­editon produzieren ließ. Debord war stark von Thukydides’ Schrift über den Peloponnesischen Krieg inspiriert. Es handelte sich um einen langen und komplexen Konflikt zwischen griechischen Stadtstaaten der Antike, bei dem es keinen wirklichen Sieger gab. Doch das Interesse der Situationisten entsprang nicht einer Faszination für Waffen oder das Töten, sie waren an einer Analyse von Macht- und Militärstrategien interessiert. Unter diesem Aspekt betrachtete Guy Debord auch die intellektuelle Auseinandersetzung.
Leider wird die Wirkungsgeschichte der Werke Debords in der Ausstellung kaum berücksichtigt. Sie wäre auch insofern interessant gewesen, als sich unter den Debord-Epigonen auch Leute befinden, die mit den radikalen Ideen der Situationisten wenig zu tun haben. In der Zeitschrift der Nationalbibliothek werden unter anderem »Autonome und Industriekritiker« als intellektuelle Nachfahren der Situationisten bezeichnet, was zumindest erläuterungsbedürftig wäre. In jüngerer Zeit wollten manche Kritiker in Julien Coupat, möglicherweise Autor von »Der kommende Aufstand«, den Nachfolger Debords erkannt haben. Das scheint reichlich übertrieben. Julien Coupats Auftritt in München am 10. Mai diesen Jahres, bei dem er kulturalistische Plattitüden absonderte – unter nicht kenntlich gemachter Berufung auf Giorgio Agamben behauptet er, die derzeitige Krisenpolitik in Europa resultiere aus der Konfrontation »des protestantischen Europa« und seiner Arbeitsethik mit dem »katholischen und orthodoxen Europa« – dürfte ein warnendes Beispiel dafür sein. N’est pas Guy Debord qui veut: Nicht jeder, der sich für Guy Debord hält, ist ihm intellektuell ebenbürtig.

»Un art de la guerre«. Bibliothèque Nationale de France, Paris. Bis 9. Juli.