Das Jazz-Festival in Moers

Radical, Jewish, Rootless

Aus Anlass seines 60. Geburtstags wurde der Avantgardemusiker John Zorn auf dem Jazz-Festival Moers geehrt.

Früchte des Zorns« – diesen berühmten Titel eines Romans von John Steinbeck haben die Veranstalter des Jazz-Festivals Moers dann doch nicht als kalauerendes Motto für den Aufritt des New Yorker Saxophonisten, Komponisten und Dirigenten John Zorn gewählt. Zorn wurde aus Anlass seines 60. Geburtstages gebeten, einen kompletten Festivaltag zu kuratieren. Das Programm taufte man auf den Namen »Zorntag«; es bestand aus neuen und alten Kompositionen des Meisters, einer Mischung aus Hardcore, Free Jazz, Metal, Country, Filmmusik, Streichquartett, mittelalterlichen Gesängen und natürlich Klezmer, dem sich Zorn seit mehr als 20 Jahren widmet und auf dessen Basis er die »Radical Jewish Culture« begründete.
Anfang der achtziger Jahre trat der Musiker auf dem Jazz-Festival in Moers erstmals vor einem größeren Publikum auf. Gemeinsam mit anderen Protagonisten der damals noch recht unbekannten New Yorker Downtown-Szene um David Moss, Fred Frith, Wayne Horvitz und Arto Lindsay brachte er eine wilde Mischung aus Rock, Noise und Punk auf die Bühne, die das auf den europäischen Free Jazz fixierte Festivalpublikum irritierte. Seitdem haben sich John Zorn und auch das Publikum weiterentwickelt.
Den Konzertabend beschloss er mit seiner Band Electric Masada, die aus dem 1993 gegründeten Masada-Quartett hervorgegangen ist. Der Name spielt auf die von jüdischen Widerständskämpfern besetzte Festung im judäischen Gebirge während der römischen Belagerung im Jahr 70 unserer Zeitrechnung an. Zorn hat sich in seinen Arbeiten immer wieder auf die jüdische Geschichte bezogen. Ein wichtiger Ausgangspunkt seiner Karriere ist das »Festival for Radical New Jewish Music«, das im September 1992 in München stattfand, der ehemaligen »Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung«, wie sie von den Nazis wegen der Gründung der NSDAP im Münchner Hofbräuhaus 1920 genannt wurde. In München wurde auch sein Musiktheaterstück »Kristallnacht« uraufgeführt; die Musiker trugen »Judensterne«. Klezmer-Melodien wurden mit Reden und Radioansprachen der NS-Führung untermalt und von Klängen unterbrochen, die an das Zerspringen der Fensterscheiben erinnern sollten. Im Programmheft des Festivals veröffentlichte Zorn ein Manifest, in dem er die Hinwendung zur Radical Jewish Culture forderte.
Kritiker warfen Zorn vor, mit dem Manifest andere innovative Musiker zu ignorieren. Der Gitarrist Elliott Sharp etwa distanzierte sich vor zwei Jahren auf dem Festival »Sound no Walls« im Jüdischen Museum Berlin von der Radical Jewish Culture, die vor allem »radikal zionistisch« sei, was für ihn gleichbedeutend sei mit »reaktionär, rassistisch und totalitär«. Nationalismus und Religion seien »zwei der schlimmsten Dinge auf diesem Planeten«, so Sharp. Seit dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973 beurteile er die Politik Israels kritisch.
Zorn hat die israelische Politik dagegen stets verteidigt. Sein Bandprojekt Painkiller mit dem Bassisten Bill Laswell und dem Napalm-Death-Schlagzeuger Mick Harris versuchte die Angriffe irakischer Scud-Raketen auf israelische Ziele während des Golfkriegs im Jahr 1991 musikalisch zu reflektieren. Die Songs heißen »Scud Attack« und »Warhead«. Den Musikern ging es um den klanglichen Ausdruck von Gewalt und Zerstörung und darum, das gesellschafliche Bewusstsein dafür zu schärfen, dass der Staat Israel in seiner Existenz bedroht ist.
Natürlich ging es Zorn auch um die Beziehung zwischen Juden und Nicht-Juden. New York war damals schon der ideale Ort für Fusionen. Auch war nirgendwo sonst der Stellenwert jüdischer Kultur ähnlich hoch wie an diesem Ort. In New York ist die jüdische Kultur komplett mit der Alltagskultur der Stadt verschmolzen. Zorn und seine Mitstreiter konnten dabei an die Geschichte des Punk anknüpfen, wie er sich an der Ostküste seit den frühen siebziger Jahren entwickelt hatte. Sie beginnt irgendwo bei Lou Reed, führt über die Ramones, über Jonathan Richman, Suicide und Richard Hell bis zur Downtown-Szene der frühen achtziger Jahre.
Musiker wie Lou Reed und Allen Vega hatten anfangs keinen Wert darauf gelegt, als Juden wahrgenommen zu werden; erst später, in den achtziger Jahren, als immer deutlicher wurde, dass die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe des Judentums auch cool und hip sein konnte, hatten viele Musiker ihr Coming-out. Religiöse Motive spielten dabei kaum eine Rolle, es ging stärker um ihre Beziehung zum Judentum, die aus der Kindheit der Musiker herrührt und die nicht immer positiv war. Doch je stärker sie sich mit ihrer jüdischen Herkunft und dem damit verbundenen kulturellen Erbe auseinandersetzten, desto größer wurde auch die öffentliche Aufmerksamkeit. Dies war auch der Versuch, religiöse und nationale Grenzen in Frage zu stellen und einzureißen.
Der Gitarrist Marc Ribot, der in Moers bei mehreren Projekten gemeinsam mit John Zorn auf der Bühne stand, nannte sein erstes Soloalbum aus dem Jahr 1990 »Rootless Cosmopolitans«. Es war eine Würdigung der von Stalin 1952 hingerichteten Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK).
Darauf Bezug nehmend stellte John Zorn im Jahr 1992 wohl die entscheidende Frage: »Inwieweit hat die traditionelle jüdische Eigenart, die unterdrückten Elemente aus anderen Kulturen zu verteidigen und aufzunehmen, zur Patchwork-Musik beigetragen, die in den achtziger Jahren aus New York kam?« Drei Jahre später gründete er das Plattenlabel Tzadik, benannt nach dem 18. Buchstaben des hebräischen Alphabets. Tzadik bedeutet zudem »Der Gerechte«.
Musikalisch versuchte sich Zorn daran, den Klezmer in die Tradition des Jazz zu überführen. Das Masada-Quartett orientierte sich an dem Quartett von Ornette Coleman der späten fünfziger Jahre, während Electric Masada deutlich an die elektrische Phase von Miles Davis zwischen Bitches Brew und Drak Magus erinnert. Nach der Auflösung seiner Band schrieb Zorn mehr als 300 Stücke, die sich an der klassischen jüdischen Musik orientieren. Sie bilden gleichzeitig die Basis für Improvisation und für die Fusion mit anderen Stilen. Unter dem Titel »Book of Angels« beziehen sich diese Stücke auf die jüdische Mythologie. Die Aufnahmen sind allesamt auf Tzadik erschienen.
Vor einigen Jahren versuchte Zorn in einem seiner raren Interviews die Frage nach der Intention des Labels zu beantworten: »Ich mache das Label jetzt schon seit einiger Zeit, aber ich glaube nicht, dass ich diese Frage exakt beantworten kann. Das können eine Menge Dinge sein. Es kann auch einfach die Intention sein, eine solche Musik machen zu wollen. Es kann eine bestimmte Tonleiter sein, ein dramatisches Thema oder ein Motiv; es kann etwas Historisches sein, es kann etwas rein Emotionales sein. Es kann alles und nichts sein. Ich weiß es nicht.«
Und so ist es für Zorn konsequent, dass in Moers neben dem radikalen Elektro-Klezmer-Sound von Electric Masada auch die Projekte »Holy Visions« und »Moonchild: Templars – In Sacred Blood« gespielt wurden, die sich mit der Mystikerin Hildegard von Bingen und dem Schicksal der mittelalterlichen Tempelritter befassen. Es sind Protagonisten, die zwar dem Christentum entstammten, sich aber mit dem Vorwurf der Ketzerei konfrontiert sahen und verfolgt wurden – »Rootless Cosmopolitans« ihrer Zeit, die durchaus an das Konzept der Radical Jewish Culture anschließen können.