Die Linke, die Freiheit und die Sexualmoral

Der Frühling der Patriarchen

Die Forderung nach Legalisierung der Pädophilie stand in den Jahren um 1980 im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Kinder- und Jugendrechtsbewegung. Zurückgewiesen wurde sie von feminis­tischen Kritikerinnen und Kritikern.

Man könnte es sich in der Debatte um die Linke und die Pädophilie einfach machen und sich ein Beispiel an den schärfsten Kritikern der Grünen und Daniel Cohn-Bendits nehmen, die sich stets über die political correctness beklagen und nicht auf die Idee kämen, den Papst als Vorsitzenden einer Pädophilen-AG zu bezeichnen. Immerhin hat der nunmehr grüne Politiker einst als Linksradikaler wirklich ein Tabu gebrochen: »Die Sexualität eines Kindes ist etwas Fantastisches.« Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen. Und überhaupt, vielleicht gab es da einige schwarze Schafe, aber das sind doch alles alte Geschichten, die von der Medienmeute aufgeblasen werden, um einer erfolgreichen Partei zu schaden.
Derartige Abwehrreflexe sind jedoch weder sinnvoll noch notwendig. Es kann allerdings nicht schaden, sich daran zu erinnern, dass sämtliche Fortschritte in der Sexualgesetzgebung von linken Bewegungen, SPD und Grünen gegen den erbitterten Widerstand von Konservativen und Reaktionären durchgesetzt wurden. Dass Menschen nicht zum Sex gezwungen werden dürfen, war noch vor 20 Jahren keine Selbstverständlichkeit. 1966 urteilte der Bundesgerichtshof, dass die Ehefrau zum Geschlechtsverkehr verpflichtet sei, überdies wurde es ihr verboten, dabei »Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen«. Erst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe zur Straftat.
Die »Unzucht mit Abhängigen«, also die Ver­gewaltigung von Kindern und Jugendlichen, gehörte hingegen zu den schmutzigen Geheimnissen der Mehrheitsgesellschaft. Dass so etwas nicht eben selten vorkam, war auch damals, in den Jahren um 1980, allgemein bekannt, offen redete man darüber jedoch nicht. Der Tabubruch der Linken bestand zunächst darin, über ein Thema zu sprechen, das die Mehrheitsgesellschaft noch drei Jahrzehnte lang, bis zu den Enthüllung über Missbrauch in katholischen Institutionen, erfolgreich verdrängen sollte.
Die damalige Debatte in der Linken kann ohne diesen gesellschaftlichen Kontext nicht verstanden werden. Einerseits waren infolge der 68er-Bewegung viele Autoritätsverhältnisse aufgebrochen, eine rebellische Haltung zeigten nicht nur Jugendliche, die sich der Linken zugehörig fühlten. Wenn ein Meister seinen Lehrling schlug, was in den sechziger Jahren noch als völlig normal galt, musste er nun mit Gegenwehr rechnen. Doch auf das »Recht auf gewaltfreie Erziehung« mussten Kinder und Jugendliche noch bis zum Jahr 2000 warten. Auch die Heim- und Psychiatrie­reform hatte gerade erst begonnen.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Elternhaus und in staatlichen Einrichtungen war auch ein Thema für die Linke, und radikale Gruppen wollten sich nicht mit der Forderung nach besserem Schutz zufriedengeben. 1974 war das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt worden. Doch was gab Eltern und Staat überhaupt das Recht, Minderjährigen Menschenrechte wie das auf freie Bestimmung des Aufenthaltsortes vorzuenthalten? Sollten Kinder und Jugendliche nicht von jeder elterlichen und staatlichen Bevormundung befreit werden?
Und welche Berechtigung hatte das damals noch nach Hetero- und Homosexualität gestaffelte Schutzalter für sexuelle Beziehungen? In Anlehnung an Wilhelm Reich machten viele Linke die Triebunterdrückung für die Herausbildung des autoritären Charakters verantwortlich. Somit lag es nahe, die Befreiung des Sexuallebens von allen Normen zu fordern und auch entsprechend zu handeln. »Wir dachten, wenn wir das Wort ›Ficken‹ nur oft genug schreiben, dann werden die gesellschaftlichen Fundamente schon einstürzen«, berichtet etwa Henryk M. Broder über seine Arbeit bei den St. Pauli Nachrichten, die, wie in den siebziger Jahren das Magazin das da, Pornographie und linke Inhalte vereinten.
Der Bruch mit der repressiven Sexualmoral des christlichen Obrigkeitstaats, aber auch der tradi­tionellen Arbeiterbewegung, die oft asketisch-puritanische Ideale propagierte, war zweifellos notwendig. Hier hatten auch Wilhelm Reichs Theorien ihre Bedeutung, dessen einflussreichstes Werk, »Die Massenpsychologie des Faschismus«, sich vornehmlich mit der Konzeption einer linken »Sexualökonomie« befasst. Ungeachtet der notwendigen Kritik an vielen Thesen Reichs muss diesem kommunistischen Theoretiker zugute gehalten werden, dass er nicht empfahl, einfach mehr zu ficken. Vielmehr forderte er »die Schaffung einer straffen internationalen sexualökonomischen Organisation«, die »gründlichst geschulte Leiter« einsetzen müsse.
Doch wie andere linke Theoretiker diente auch Reich oft nur als Stichwortgeber, der persönlichen Bedürfnissen und Ansichten Autorität verlieh. Schnell wurde klar, dass viele linke Männer unter sexueller Befreiung die Verfügbarkeit aller von ihnen Begehrten verstanden. So unterschied sich die linke Pornographie nicht von ihrem bürger­lichen Vorbild, abgebildet wurden nackte Frauen in Kopulationsbereitschaft signalisierenden Posen. In das da waren es oft auch »Lolitas«, sehr junge oder sehr jung aussehende Mädchen.
Gegen diese praktizierte »Sexualökonomie« wendete sich eine seit 1968 erstarkende Frauenbewegung, die darauf verwies, dass patriarchale Verhältnisse weiter bestanden, auch in linken Gruppen. Somit könne es auch keinen einvernehmlichen Sex mit Kindern geben. »Alarmierend ist, dass bei dieser Debatte ganz einfach geleugnet wird, dass es sich hier um eine Herrschaftsbeziehung handelt – nämlich um die zwischen einem Erwachsenen und einem Kind«, sagte Alice Schwarzer 1980. »Die Erwachsenen reden immer nur von ihren sexuellen Gefühlen, was bei den Kindern los ist, steht in Wahrheit nicht zur Debatte.«

Wann aber haben Jugendliche das Recht, ihre Sexualpartner frei zu wählen? In der damaligen wie heutigen Debatte wird »Pädophilie« meist als Sammelbegriff für Sex mit Minderjährigen verwendet, doch ist es sinnvoll, die Ephebophilie und Parthenophilie, die »Liebe« zu Jungen und Mädchen im Teenageralter, davon abzugrenzen. Auch hier handelt es sich um Machtbeziehungen, etwa wenn ältere Männer aus gewalttätigen Elternhäusern oder Heimen entflohene Jugendliche aufnehmen. Doch dürfte es kaum einen 16jährigen geben, der sich für zu unreif hält, um selbst seinen Sexualpartner zu wählen. So stand die Pädophiliedebatte lange im Zeichen der Jugendrechtsbewegung.
Die Indianerkommune schrieb in einem 1984 verteilten Flugblatt: »Wir wissen, dass gerade die entzogene, durch unsere Erzieher kastrierte Kinder- und Homosexualität ein Hauptgrund ist für die krebsartig sich ausbreitende Konsumwelt, Verseuchung und Kriegsgefahr. Kein Mensch macht Kriege, der seine Sexualität in der Kindheit erleben durfte! Auch Faschismus und Neofaschismus können nicht aufgehalten werden, solange die Kinder-, Jugend- und Homosexualität in unseren innersten Gefängnissen, Ängsten und Vorurteilen eingesperrt ist.«
Die 1976 gegründete, wegen ihres provozierenden Auftretens bei diversen Veranstaltungen vom Katholikentag bis zu autonomen Internationalismuskongressen bekannte Indianerkommune – nicht zu verwechseln mit den zur gleichen Zeit aktiven Stadtindianern, die sich an den spontaneistischen italienischen indiani metropolitani orientierten – hatte einige Jahre lang erheblichen Einfluss auf linksradikale Gruppen. Verwunderlich ist das nicht. Freiheit von elterlicher Bevormundung, Abschaffung der Schulpflicht, selbstbestimmtes Leben ohne Lohnarbeit und dazu noch die Aussicht auf viel Sex – für 16jährige ist das ein reizvolles Programm.
»Aus der Erlanger Psychiatrie kam ein Junge zu uns. Als er nach zwei Jahren Klapse mal seine Akte zu Gesicht bekam, erfuhr er, dass seine ›Schizophrenie‹ damit begründet wurde, dass er Punk sei«, berichtete die Indianerkommune 1986. Überprüfbar sind solche Berichte zwar nicht, doch wurde die Indianerkommune, mit der sich etwa 1985 bei einem Konflikt mit der Stadtverwaltung die Nürnberger »Vollversammlung des Verbundes alternativer Projekte und autonomer Frauenprojekte« solidarisierte, als Selbsthilfegruppe für Ausreißer ernst genommen. Allerdings scheint es zumindest einen erwachsenen »Indianer« gegeben zu haben, der die Lage der Jugendlichen ausnutzte. Gruppen von »Pädophilen«, die damals eine Legalisierung ihrer Sexualpraktiken forderten, bedienten sich ähnlicher Argumente wie die Indianerkommune.

Die Vorstellung, gesellschaftliche Hierarchien könnten in einem »kämpfenden Kollektiv« umstandlos aufgelöst werden, dürfte weitgehend überwunden worden sein. Mit dem naiv-romantischen Anarchismus der Kinder- und Jugend­befreiungsbewegung gerieten allerdings auch die Probleme in Vergessenheit, die ihn hervorgebracht hatten. Die Zurichtung des Humankapitals erfolgt nun auf anderen Wegen, statt Schlägen gibt es Ritalin. Ob ein Alter für Medikationsmündigkeit festgesetzt werden muss und Jugendliche ohne Mitspracherecht in schulischen Angelegenheiten bleiben sollten – das wären Fragen, für die sich auch Linke interessieren könnten.
Die Festsetzung eines Schutzalters ist zwar eine unerlässliche zivilisatorische Errungenschaft, doch kann das Strafrecht nur definieren, ob ein Verbrechen oder Vergehen vorliegt. Welche magische Wandlung vollzieht sich in der Sekunde des Übergangs zum 19. Lebensjahr, die aus einer schutzbedürftigen Jugendlichen ein problemlos verwendbares Sexualobjekt macht? In dieser Hinsicht ist die bürgerliche-patriarchale Moral toleranter, Neigungen, wie sie etwa Silvio Berlusconi hegt, gelten als lässliche Sünde.
Die Linke hat Pädo-, Ephebo- und Parthenophilie nicht erfunden, sondern nur als erste gesellschaftliche Gruppe öffentlich diskutiert. Anders als im trial and error-Verfahren kann der richtige Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt leider nicht ermittelt werden. Die dabei angerichteten Schäden durch einen Vergleich mit der bürgerlichen Normalität zu relativieren, wäre ein zynisches Verfahren. Bizarr ist dennoch, dass Cohn-Bendit und die Grünen derzeit vor allem von Männern attackiert werden, die ansonsten eher selten mit Patriarchatskritik auffallen. Denn zu danken wäre vor allem feministischen Kritikerinnen und Kritikern wie Alice Schwarzer und Günter Amendt, die klarstellten, dass ideologisierte patriarchale Wünsche mit sexueller Befreiung nichts zu tun haben. Während die Grünen die damalige Debatte in ihren Reihen von Wissenschaftlern untersuchen lassen, könnte man sich in der CDU/CSU ja mal Gedanken darüber machen, warum so viele Konservative es noch Mitte der neunziger Jahre unproblematisch fanden, wenn ein Mann seine Ehefrau vergewaltigt.