Der Prozess gegen den Pfarrer Lothar König

Die total falsche Erinnerung

Vorenthaltene Ermittlungsakten, zweifelhafte Aussagen von Belastungszeugen: Im Prozess gegen den Pfarrer Lothar König bedient sich die Staatsanwaltschaft fragwürdiger Methoden.

Wenn an einem Mittwochabend auf der Alaunstraße in der Dresdner Neustadt ein Grill und ein Piano auf der Straße stehen und etwa 30 junge Menschen »Bella Ciao« singen, während die Würstchen brutzeln, dann ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass wieder ein Tag im Prozess gegen Lothar König vorbei ist. Der Solidarität der Singenden und zahlreicher anderer Menschen und Gruppen kann sich der Jenaer Pfarrer, der sich seit April wegen des Vorwurfs des schweren Landesfriedensbruchs vor dem Dresdner Amtsgericht verantworten muss (Jungle World 11/2013), sicher sein.

Das ist bitter nötig, denn der Prozess geht dem 59jährigen Mann mit dem Rauschebart an die Nieren. »Für mich stehen vier Jahre auf dem Spiel. Und eine Berufskarriere. Und sie lachen«, wirft er der Staatsanwältin Ute Schmerler-Kreuzer am fünften Verhandlungstag vor, als sie ihm grinsend gegenübersitzt. Gerade war in der Verhandlung bekannt geworden, dass der Verteidigung wiederholt Ermittlungsakten vorenthalten worden waren.
Königs Verteidiger, Johannes Eisenberg und Lea Voigt, sehen die rechtsstaatlich vorgeschriebene »Waffengleichheit« zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung in der Hauptverhandlung nicht gewährleistet. Bereits der Prozessauftakt musste verschoben werden, nachdem die Verteidigung im Büro von Amtsrichter Ulrich Stein Aktenteile gesichtet hatte, die ihr offensichtlich vorenthalten worden waren. Bei diesem ersten Zufallsfund handelte es sich um einen ganzen Stapel nichtpaginierter Seiten, die inzwischen Teil der Beweisführung für Königs Unschuld geworden sind. Inzwischen sind weitere Funde hinzugekommen, darunter am fünften Verhandlungstag das Vernehmungsprotokoll eines Polizeibeamten, das einen der Tatvorwürfe der Dresdner Staatsanwaltschaft entkräftet. Der Polizist sagte in einer Vernehmung aus, dass König entgegen der Anklageschrift keine Einsatzwagen abgedrängt, sondern ordnungsgemäß gebremst habe.
Rechtsanwältin Voigt sagt im Gespräch mit der Jungle World, dass es »selbst bei schlampiger Aktenführung schon ein sehr großer Zufall wäre, wenn ausgerechnet die entlastenden Aussagen in der Akte zur Hauptverhandlung fehlen und das der Staatsanwaltschaft Dresden nicht auffällt, obwohl sie selbst die Vernehmung in Auftrag angeordnet hat«. Ihrer Einschätzung nach wäre das Verfahren für diesen Tatvorwurf gar nicht eröffnet worden, wenn die Akten vollständig gewesen wären. Staatsanwältin Schmerler-Kreuzer antwortete bisher nicht auf die Frage der Verteidigung, ob weitere Akten fehlten. Auch zu dem aufgetauchten Vernehmungsprotokoll wollte sie sich noch nicht äußern. So entsteht der Eindruck, dass es der Staatsanwaltschaft darum geht, an König ein Exempel zu statuieren.
Am 19. Februar 2011 verliefen die Proteste gegen geplante Aufmärsche von Neonazis in Dresden äußerst turbulent. Etwa 20 000 Demonstranten sorgten stundenlang für Chaos in der Stadt. Die Polizei war sichtlich überfordert und geriet immer wieder in heftige Auseinandersetzungen. Mindestens 150 Demonstranten wurden nach Angaben des Allgemeinen Sanitätsdienstes von der Polizei verletzt. Mindestens 200 weitere Personen wurden durch den polizeilichen Einsatz von Pfefferspray in Mitleidenschaft gezogen. Nach Polizeiangaben wurden auch mehr als 100 Beamte verletzt und zahlreiche Fahrzeuge beschädigt.

Mitten in diesem unübersichtlichen Geschehen befand sich König mit seinem blauen VW-Bus samt Lautsprecheranlage. Nach eigenen Angaben wollte er die jungen Menschen begleiten, die an diesem Tag gegen Neonazis demonstrierten, und deeskalierend auf sie einwirken. Die Staatsanwaltschaft Dresden sieht in dem VW-Bus hingegen offenbar eine logistische Schaltzentrale für die Ausschreitungen. König soll über Lautsprecher dazu aufgefordert haben, die Polizei anzugreifen, und »rhytmisch-aufheizende Musik« abgespielt haben. In der Anklageschrift ist auch von Fahnen die Rede, mit denen angeblich vom VW-Bus aus »Signale an gewaltbereite Autonome« gegeben wurden. Außerdem wird König vorgeworfen, den Versuch unternommen zu haben, Polizeiautos abzudrängen und Menschen einer Festnahme zu entziehen, indem er ihnen in seinem Bus Schutz gewährte.
Nach Abschluss des fünften Verhandlungstages stellte der Personaldezernent der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Michael Lehmann, fest, dass bislang lediglich bewiesen worden sei, dass Lothar König mit seinem VW-Bus am 19. Februar 2011 in Dresden war. Alle bisher verhandelten Anklagepunkte dürften sich jedoch kaum aufrechterhalten lassen. So widersprechen die Aussagen der Belastungszeugen den Videoaufzeichnungen vom Tatgeschehen. Der Hundertschaftsführer einer Bundespolizeieinheit aus Pirna ist sich beispielsweise sicher, dass aus dem VW-Bus der Ausspruch »Deckt die Bullen mit Steinen ein!« zu hören war. Musik will er hingegen nicht wahrgenommen haben, das Lied »Bella Ciao« kennt er nach eigenen Angaben nicht. Seine Aussage spielt in den Anschuldigungen gegen König eine tragende Rolle. Videos vom Ort des Geschehens zeigen jedoch, wie der VW-Bus an der Polizeieinheit vorbeifährt, während dieses Lied zu hören ist. Auf keinem der Filme, auch nicht auf den Polizeivideos, lässt sich hingegen der Aufruf vernehmen, die Polizei mit Steinen zu bewerfen.
Ungewöhnlich erscheint auch die Tatsache, dass der Polizeibeamte wenige Wochen nach dem Einsatz zu Protokoll gab, dass der Ausspruch entweder aus einem Megaphon oder aus einer Lautsprecheranlage zu vernehmen gewesen sei. Ein halbes Jahr später legte er sich dann aber auf den VW-Bus als Quelle des Ausrufs fest. Vor Gericht erklärte er dies damit, dass er sich mit der gesamten Einsatzgruppe zusammengesetzt habe, »nachdem klar wurde, dass ein größeres Verfahren wegen schweren, aufwieglerischen Landesfriedensbruchs aus der Angelegenheit werde«. Dabei habe er gemeinsam mit allen Kollegen »Erinnerungen zusammengetragen« und sei zu dem Schluss gelangt, dass der Aufruf, gegen die Polizei vorzugehen, aus Königs VW-Bus gekommen sein müsse. Dessen sei er sich nun sicher.

Rechtsanwalt Eisenberg kündigte an, er werde die Angaben des Beamten als Falschaussage zur Anzeige bringen. Rechtsanwältin Voigt zeigt sich im Gespräch mit der Jungle World erfreut, dass es in diesem Verfahren wegen des ungewöhnlich umfangreichen eigenen Videomaterials ausnahmsweise einmal möglich sei, Angaben von Polizeibeamten zu widerlegen. Der Angeklagte selbst sagte in der vergangenen Woche: »Ich mache mir Sorgen um die, die demonstrieren und kein Videomaterial haben, das sie entlastet.«
Im Gegensatz zu Prozessbeobachtern und der Verteidigung lassen Richter Stein und Staatsanwältin Schmerler-Kreuzer nicht erkennen, dass sie die Aussage des Polizisten anzweifeln. Vielleicht muss sich demnächst ohnehin ein anderer Richter damit auseinandersetzen. Über den von der Verteidigung gestellten Befangenheitsantrag gegen Stein wird bis zum nächsten Verhandlungstag, dem 20. Juni, entschieden.