Zum linken Diskurs um die kindliche Sexualität

Kleine große Männer

Daniel Cohn-Bendits Erzählungen von »Flirts mit Kindern« zeigen, dass die Kommunen beim Fortgang der Menschen in die selbstgewählte Unmündigkeit generationenpolitische Avantgarde waren.

Wer als Kind und wer als Erwachsener gilt, entscheidet nicht die Natur, sondern die Gesellschaft, die sich in den Überzeugungen darüber, was kindgemäß sei, als zweite Natur verfestigt hat. Im Mittelalter figurierten Menschen, die heute als Kinder betrachtet würden, bekanntlich als »kleine Erwachsene«, der seit der bürgerlichen Epoche als Kindheit bezeichnete Lebensabschnitt war, der ökonomischen Entwicklung wie der psychosozialen Konstitution der Einzelnen gemäß, kaum mehr als eine Vorbereitung auf den Existenzkampf, der möglichst früh beginnen musste. Aber in jenen Zeiten galten auch Frauen kaum als Menschen. Erst das Bürgertum schuf, indem es mit der Kleinfamilie die Kindheit als vergleichsweise autonome Sphäre und mit der bürgerlichen Ehe die Frau als potentiell gleichberechtigten Vertragspartner setzte, die Voraussetzungen dafür, dass nicht nur, wie es die frühe Frauenbewegung forderte, »die Weiber«, sondern auch die Kinder »Menschen werden« konnten.
Doch die neue Freiheit war nur die halbe und daher die falsche. Wie weibliche Emanzipation auch unter der Bedingung formeller Gleichberechtigung bis heute nur um den Preis des Verzichts auf die ungeteilte Freiheit zu haben ist, so wurde die Kindheit, indem sie als von den Zwängen des Erwerbslebens freigestellte Sphäre geachtet wurde, einem Bann unterworfen. Die grausamen Erziehungsmethoden des Bürgertums, die Kaltschnäuzigkeit, mit der Kindern unter Berufung auf ihre vermeintliche Unschuld nicht nur bürgerliche Rechte, sondern auch eine autonome Sexualität abgesprochen wurde, diskreditieren jeden Versuch, die bürgerliche Kindheit als Realität zu glorifizieren. Dennoch hat sie, als reflektierte Erfahrung, bei jedem Einzelnen Erinnerungen an Unabgegoltenes, Trauer um Verlorenes und Hoffungen auf nie Dagewesenes hervorgebracht, ohne die kein Fortschritt denkbar gewesen wäre. Was das Glück ist und wovor man sich zu fürchten hat, was abzuschaffen und was zu retten wäre, weiß man aus der Kindheit oder überhaupt nicht. Dass man, um erwachsen zu werden, die Erinnerung an sie verraten muss, zeugt unwiderleglich gegen die Welt, die die Kindheit erst ermöglicht hat.

Die Bedeutung, die Kinderrechte und Kinderschutz seit den achtziger Jahren erlangt haben, spricht nicht dafür, dass die Bürger endlich ihre Ideale beim Wort und die Kinder als Individuen ernst nähmen. Eher ist der Kinderschutz, der sich in der Abwehr von Sigmund Freuds Entdeckung der kindlichen Sexualität mit dem Puritanismus einig ist, Ausdruck der Torschlusspanik angesichts einer Verwischung der Generationengrenze. Gerade weil die Kinder, statt zwischen Familie und Schule zu pendeln, in Kinderläden und »freien Gruppen« einem Flickwerk aus pädagogischen und intimen Zuwendungen ausgesetzt sind, das den Unterschied zwischen Eltern, Freunden und Erziehern nivelliert, während die Erwachsenen, deren Leben eine einzige Fortbildungsmaßnahme ist, aus dem Schülerdasein nie herauskommen; weil also der Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein dabei ist, in einer sistierten Unmündigkeit zu verschwinden, wird der Kinderschutz zur Aufgabe der Familienpolitik.
Insofern ist es konsequent, dass ausgerechnet die Grünen nun ein »Pädophilieproblem« haben. Daniel Cohn-Bendits Beschreibungen der »Flirts mit Kindern« aus seiner Zeit als Erzieher in dem 1975 erschienenen Buch »Der große Basar« und die Texte für die Zeitschrift Pflasterstrand bezeugen, dass die Kommunen der siebziger Jahre die schlechte Aufhebung der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, zwischen Kindern und Erwachsenen, die sich heute über die Individuen hinweg vollzieht, offensiv zu leben suchten. Die linken Männer erscheinen in den Darstellungen von sexuellen Kontakten mit Kindern jedoch weder erwachsen noch kindlich, sondern unfähig, erwachsene sexuelle Beziehungen einzugehen. »Letztes Jahr hat mich ein sechsjähriges Genossenmädchen verführt«, wird in einem Text 1978 im von Cohn-Bendit presserechtlich verantworteten Pflasterstrand erzählt. »Es war eines der schönsten und sprachlosesten Erlebnisse, die ich je hatte. Vielleicht war es so schön, weil es so sprachlos war. Ich hielt diese Sprachlosigkeit aber schon wieder nicht aus und konnte mich danach nicht mehr zu ihr verhalten. Es war das einzige Mal, wo es mir nicht zu früh kam.« Das zu frühe Kommen beschäftigt den Erzähler überhaupt obsessiv. Im selben Text heißt es: »Meine Sexualität ist über weite Strecken langweilig. Außerdem kommt es mir immer zu früh.« In einem Artikel aus demselben Jahr schreibt Cohn-Bendit: »Ich bin nicht nur ein Papierwichser, sondern ein überzeugter Wichser mit vielen Phantasien und Träumen, die weder alle hässlich noch schön sind (…). Nur das Ausloten von dem (…), was in unseren Beziehungen schwelgt, ist schwer.«

Diese Passagen verdeutlichen, unabhängig von der Frage, inwieweit sich Tatsachenberichte darin mit eigenen Phantasien vermischen, dass sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern in den Kommunen keine kulturrevolutionäre Praxis zwecks Befreiung kindlicher Sexu­alität waren, sondern Ausdruck einer Krise (zuvorderst männlicher) erwachsener Subjektivität, für deren illusionäre Lösung man die Entdeckung der kindlichen Sexualität in Dienst nahm. So phantasiert Herbert Röttgen im Pflasterstrand davon, Kinder hätten »ihre ›Unschuld‹ noch nicht verloren, weil sie ihre Sexualität ohne Schuld praktizieren«: »Was an Explosivkraft in der kindlichen Erotik verborgen liegt, können wir verstümmelten Erwachsenenexistenzen allenfalls ahnen.« Gegenüber dieser Romantisierung des angeblich Unverstümmelten wirken Erzählungen wie die aus dem Pflasterstrand zitierte eher traurig, weil sie das Selbstverständnis der Kommune, eine libertäre Gegenwelt zu sein, als Ausdruck von Anmaßung und Ohnmacht erkennbar machen. Dass unter den gegebenen Bedingungen die eigene Sexualität »über weite Strecken langweilig«, das hinter den Beziehungen lauernde, unbearbeitete Unbewusste destruktiv und die Sehnsucht nach sprachlosem Glück anstelle des omnipräsenten Geschwätzes so legitim wie uneinlösbar ist – das wissen alle und mokieren sich über solche Aussagen umso lauter, je weniger sie daran erinnert werden wollen. Der Wunsch, nicht nur von einem Kind, sondern dadurch auch zur Kindheit verführt zu werden, um der Erwachsenenwelt als »Little Big Men«, wie Cohn-Bendit offenbar sich und die Kinder nennt, gleichsam durch den Hinterausgang zu entwischen, enthält in sich auch die Sehnsucht nach der Abschaffung von Verhältnissen, die nicht nur die Kinder, sondern alle Menschen in Unmündigkeit halten.

Weil sie ihre Phantasien von Kindheit aber mit den empirischen Kindern verwechselten, arbeiteten die Kommunarden, statt im Eingedenken an die uneingelösten Versprechen der Kindheit mit der ungeteilten Freiheit aller ernst zu machen, an der Verwandlung der Gesellschaft in einen Kinderladen, in dem die Kinder den Erwachsenen insofern gleichgestellt waren, als das Kollektiv auch ihnen keine Intimsphäre zugestand. Die umfassende Duz- und Kumpelwelt, die heute den Menschen mit Workshops und Netzwerken, Coaching, Mehrgenerationenhäusern und Supervision den letzten Rest an Selbstbesinnung nimmt, ist ihre Erbschaft. Doch während die Kommune sich als Gesellschaftsform totalisiert hat, ist die Sehnsucht nach sprachlosem Glück, die sich an das Bild der kindlichen Sexualität heftet, weil sie sich der Kindheit als Erfahrungsgrund verdankt, so ungestillt wie stets und sprachloser als jemals. Diese Sprachlosigkeit zu besiegeln, indem man seine eigene Vergangenheit »aufarbeitet« und »Lernfähigkeit« beweist – das wird den selbstbewusst regredierten Ex-Kommunarden problemlos gelingen.