Die Interessenkonflikte im iranischen Regime

Heul doch, Mullah!

Die parlamentarischen Institutionen im Iran erfüllen ihre Funktion, Interessenkonflikte innerhalb des Regimes zu kanalisieren, immer weniger. Doch verzichten können die Machthaber auf die Wahlen nicht.

Der Präsidentschaftskandidat Ali Akbar Velayati hält seine potentiellen Wählerinnen und Wähler offenbar für sehr geduldig. Seine beiden Wahlkampfspots sind zusammen fast eine halbe Stunde lang, und auch die Dramaturgie ist etwas eigenwillig. Im ersten Spot sitzt Velayati in einem ansonsten völlig leeren Kinosaal und betrachtet mit wachsender Rührung Szenen der iranischen Revolution und der frühen Geschichte der »Islamischen Republik«. Der zweite Teil setzt diese Kinovorstellung fort, gezeigt wird nun häufiger der Kandidat selbst, der von 1981 bis 1997 Außenminister war. In Nahaufnahme ist zu sehen, wie Velayati weint, als Bilder des sterbenden Khomeini und der Trauerfeiern nach dessen Ableben über die Leinwand flimmern. Der Maskenbilder mag ein wenig nachgeholfen haben, damit die Tränen richtig kullern. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass Velayati glaubt, die demonstrative Trauer über den fast ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Tod Khomeinis werde ihm im Wahlkampf nutzen. Als unmännlich gilt das Weinen nicht, bereits bei Khomeinis Auftritten flossen bei gestandenen Bärtigen viele Tränen der Rührung, und Mohammed Reza Aref, der seine Präsidentschaftskandidatur am Dienstag zurückzog, weinte Ende Mai im Staatsfernsehen, als er auf die wachsende Zahl jugendlicher Drogenabhängiger im Iran angesprochen wurde. Doch sollte man erwarten, dass Wahlkampfspots ein wenig zukunftsorientierter ausfallen.

Nun könnte man sagen: Was soll’s? Am Ende entscheidet wohl ohnehin der religiöse Führer Ali Khamenei, wer Präsident wird und wie hoch die Wahlbeteiligung gewesen sein soll. Nach der offensichtlichen Manipulation der letzten Präsidentschaftswahl im Jahr 2009 erwarten auch die Anhänger der islamistischen »Reformer« nicht mehr, dass ihre Stimme etwas zählt. Der Wächterrat war bei der Zulassung der Kandidaten noch strenger als 2009, bei dieser Wahl dürfen die Kandidaten Reformen nicht einmal versprechen. Somit bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, als sich in einem Persönlichkeitswahlkampf zu profilieren. Die Berufung auf Khomeini, die Ideale der Revolution und den eigenen Veteranenstatus erscheint da als geeignetes Mittel. Die Hauptaufgabe des Präsidenten ist allerdings das Management von Wirtschaft, Innen- und Außenpolitik, nicht zu verwechseln mit dem Treffen bedeutender Entscheidungen in diesen Bereichen. Dieses Privileg ist Khamenei vorbehalten, und wenn ein Präsident zu selbständig agiert, wie Ahmadinejad es tat, fällt er in Ungnade. Der religiöse Führer muss sich allerdings mit den wichtigsten Stützen des Regimes – Klerus, Militär- und Handelsbourgeoisie, die sich in zahlreiche Fraktionen gespalten haben – absprechen. Die Wahlen haben eine plebiszitäre Funktion, sie sollen die Loyalität der Bevölkerung zum Regime belegen. Den Streit zwischen dessen Fraktionen zu kanalisieren, ist aber die wohl wichtigste Funktion der parlamentarischen Institutionen. Es geht dabei manchmal auch um ideologische Fragen. Die Fraktion des noch amtierenden Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad wollte den Islamismus um einen persischen Nationalismus ergänzen, sehr zum Unwillen vieler Geistlicher, die ihre »islamische Revolution« als universales Modell betrachten. Doch nicht zu Unrecht fragen sich viele Außenstehende, was denn nun der politische Unterschied zwischen den diversen Fraktionen der Prinzipialisten ist, die alle gleichermaßen islamistisch und borniert sind. Die »Parteien« und Listen repräsentieren politische und ökonomische Interessengruppen, deren Geflecht so unüberschaubar geworden ist, dass man mittlerweile den Eindruck gewinnen kann, die Machthaber blickten selbst nicht mehr durch. So weiß man, dass die Revolutionswächter auch eine wirtschaftliche Macht sind. Man weiß, dass sie von Hähnchenschenkeln bis zu Kurzstreckenraketen so ziemlich alles verkaufen, was vermarktet werden kann, und dass sie Einnahmen aus kriminellen Geschäften wie dem Schmuggel nicht verschmähen. Über ihren Anteil an der iranischen Wirtschaft hingegen gibt es nur vage Schätzungen. Aber auch die Geistlichkeit ist im Iran eine Wirtschaftsmacht, sie verfügt über religiöse Stiftungen. Wird etwa im Iran ein Betrieb privatisiert, dient die Verteilung der Aktien der Klientelbildung.

Welchen Anteil soll Ahmadinejads Fußvolk der Basij-Milizionäre erhalten? Was beansprucht der Klerus? Und was bleibt dann noch für die zivile Bourgeoisie übrig? Wenn islamistische Politiker im Parlament einander Korruption vorwerfen, ist das ein Ausdruck solcher Interessenkonflikte. Obwohl die Sitten auch im Umgang der Herrschenden miteinander rauer geworden sind, ist der interne Machtkampf etwa im Vergleich zum Irak unter Saddam Hussein, der schon mal persönlich einen in Ungnade gefallenen Minister oder General erschoss, noch relativ friedlich. Da immer mehr Fraktionen von der Teilhabe an der legalen Politik ausgeschlossen werden, ist absehbar, dass das islamistische System der checks and balances an seine Grenzen stößt und die ausgleichende Funktion nicht mehr lange wird erfüllen können. Doch eine Alternative gibt es nicht, die das Regime tragenden Schichten sind aufeinander angewiesen. Als kapitalistischer Staat kann der Iran nicht umhin, der zivilen Bourgeoisie Einfluss einzuräumen, überdies gehören die Bazaris, die Großhändler, zu den Veteranen der »islamischen Revolution«. Als Diktatur bedarf der Iran eines gewaltigen Repressionsapparats, zumal die Bevölkerung bewiesen hat, dass sie auch unter härtesten Bedingungen zum Widerstand bereit ist. Folglich muss die Loyalität des Offizierskorps der diversen militärischen und paramilitärischen Verbände gesichert werden. Und als »Islamische Republik«, die einem nicht nur spezifisch schiitischen, sondern auch unter Geistlichen dieser Konfession umstrittenen Modell folgt, muss der Iran die ideologieproduzierende Kaste der regimetreuen Kleriker privilegieren. Während es eine Bourgeoisie und ein Offizierskorps in jeder kapitalistischen Diktatur gibt, ist die Macht der Geistlichkeit eine iranische Besonderheit, auch im Vergleich zu sunnitisch-islamistischen Diktaturen wie dem Militärregime des Sudan und sogar Saudi-Arabien, dessen Klerus einflussreich ist, aber nicht der herrschenden Kaste angehört. Das iranische Regime bedient sich der Ideologie nicht nur zur Rechtfertigung repressiver Elendsverwaltung, vielmehr dient der Staat ideologischen Zielen, die globale islamistische Mission ist in der Verfassung verankert.

Auf der Staatsdoktrin basiert das politische System mitsamt seinen Klientelverhältnissen. Das Regime steht und fällt mit seiner Ideologie, diese wird daher nicht nur von den Fanatisierten verteidigt, sondern auch von jenen, die um ihre Privilegien fürchten. Weil Nachgiebigkeit zu weiteren Forderungen ermutigen würde, kann es auch keine ernstzunehmenden Zugeständnisse in Kernfragen geben, weder der innenpolitische Tugendterror noch die aggressive Außenpolitik stehen zur Disposition. Der eine oder andere Politiker und Geistliche mag es ernst meinen mit seinen Reformforderungen, doch die herrschenden Verhältnisse lassen deren Erfüllung nicht zu. Das ist die wichtigste aus den Massenprotesten nach den Wahlen 2009 zu ziehende Lehre. Damals hofften Millionen von Iranerinnen und Iranern, anhaltender Druck der Straße könne zunächst Präsident Ahmadinejad aus dem Amt treiben, dann den religiösen Führer entmachten und so den Weg für demokratische Reformen frei machen.

Die Proteste hatten kein geringeres Ausmaß als die Revolten in Tunesien und Ägypten, doch die Diktatur hielt stand. Mit Drohungen soll nun verhindert werden, dass es erneut zu Protesten kommt. »Zur Gewährung der Sicherheit der Wahlen« will der iranische Polizeichef General Ahmadi Moghaddam 300 000 Angehörige der Sicherheitskräfte einsetzen, weitere 50 000 sollen sich in Bereitschaft halten. Dass den Machthabern eine Mobilmachung wie für einen Krieg angebracht erscheint, spricht nicht für Vertrauen in die Loyalität der Bevölkerung. Die Frage ist nicht ob, sondern wann und aus welchem Anlass es wieder zu Massendemonstrationen kommt. Allerdings ist auch deutlich geworden, dass ein revolutionärer Umbruch eher zu syrischen als zu ägyptischen Verhältnissen führen wird. Unbewaffnet lässt sich ein regime change nur erkämpfen, wenn die Armee wie in Ägypten den Diktator fallen lässt. Dies war 1979 auch im Iran beim Sturz des Schahs der Fall, denn Khomeini war es gelungen, die Militärführung zur Neutralität zu bewegen.

Nach der Revolution hat das islamistische Regime Vorsorge getroffen und parallel zur Armee die Revolutionswächter aufgebaut, die besser bewaffnet sind als die regulären Truppen. Rechnet man die Bassij-Milizen hinzu, stehen den Machthabern mehrere Hunderttausend loyale, wenn nicht gar fanatisierte Bewaffnete zur Verfügung. Eine revolutionäre Bewegung im Iran wird sich daher wohl eher mit klassischen Konzepten des Umsturzes befassen müssen, vor allem mit der Unterwanderung der Armee, denn im Fall einer Eskalation wird es darauf ankommen, wie sich die schätzungsweise 300 000 Wehrpflichtigen verhalten. Die iranischen Oppositionellen, die abgesehen von Selbstverteidigung gegen Polizeigewalt immer friedlich geblieben sind und, soweit ersichtlich, keine straffen Untergrundorganisationen gebildet haben, wollen sich einer solchen Herausforderung derzeit offenbar nicht stellen. Das ist verständlich und sympathisch, bedeutet aber leider, dass ein regime change auch bei der nächsten Protestwelle nicht zu erwarten ist. Die interne Dynamik des Regimes treibt den Iran unterdessen zu einer immer aggressiveren Innen- und Außenpolitik.

Somit ist auch eine Stabilisierung der Diktatur ausgeschlossen. Die kapitalistische Modernisierung bedarf nicht unbedingt der Demokratie, doch wird die strikte ideologische Ausrichtung der Politik im Iran zur Fessel der Produktivkräfte. Die nächste große Krise ist spätestens beim Tod Khameneis zu erwarten. Ihren charismatischen Führer haben die Machthaber bereits mit Khomeini verloren, und es dürfte ihnen kaum noch einmal gelingen, sich auf einen Kompromisskandidaten für das Amt des religiösen Führers zu einigen. Tränen dürften die Iranerinnen und Iraner dann kaum vergießen, aber da kann man ja mit Reizgas nachhelfen.