Über den Roman »Vor dem Verdursten« von Kettly Mars

Hilfe, Hilfe

Schon vor dem Erdbeben 2010 galt Haiti als »Armenhaus der Welt«. In ihrem Roman »Vor dem Verdursten« erzählt die haitianische Autorin Kettly Mars von der humanitären Katastrophe und vom Scheitern der Hilfsprojekte.

Wer die Geschichte liest, die die haitianische Autorin Kettly Mars erzählt, stolpert unmittelbar in eine Hölle. Der Schauplatz ihres neuen Romans, »Vor dem Verdursten«, ist das haitianische Canaan, ein aus Planen gebastelter Nicht-Ort, der den obdachlos gewordenen Opfern der Erdbebenkatastrophe von 2010 Schutz gewähren soll. In dem Lager, in dem 100 000 Menschen leben, gibt es weder eine Schule noch ein Krankenhaus. Arbeit gibt es kaum in Canaan, zumindest keine reguläre. Die Ökonomie der Flüchtlingssiedlung wird von Gangs und Drogendealern bestimmt. Zuhälter vermitteln junge Mädchen, vorzugsweise Jungfrauen: Zwölfjährige, die »nach Angst, Unschuld und Basilikum riechen«, wie es im Roman heißt. Die Geschichten von Kétia, Fabiola, Rosemé, Esther und Medjine bleiben fragmentarisch. Im Zentrum der Handlung steht ein Mann namens Fito, der sich als pädophiler Freier entpuppt. Dass die Autorin eine derart zwiespältige Figur zum Protagonisten macht, kommt einem Schlag in den Magen gleich.
Dabei ist er uns erschreckend nah, dieser von Zweifeln geplagte Schriftsteller namens Fito Belmer. Die Autorin blickt so kühl und genau in sein Inneres, dass man den Mann als moralisch Verirrten, nicht als Monster erlebt. Auf den ersten Blick scheint Fito Belmar das Opfer einer gewöhnlichen Midlife-Crisis zu sein. Er ist 55 Jahre alt und hat zwei Scheidungen hinter sich, auch seine gegenwärtige Beziehung droht zu scheitern. Anders als die Bewohner des Flüchtlingslagers vor den Toren von Port-au-Prince leidet er keine existentielle Not, ihn plagen vielmehr Erektionsstörungen und eine Schreibblockade. Als gefeierter Autor steht er nun unter dem Druck, endlich wieder einen neuen Roman vorzulegen. Aber nach und nach wird klar, dass auch der privilegierte Fito von den Problemen seines Landes betroffen ist. Sein Engagement als Katastrophenhelfer hat ihn nach Canaan geführt, wo er Dinge gesehen hat, die er nicht mehr vergessen kann.
Mars inszeniert die pädophilen Neigungen des Schriftstellers wie eine Krankheit, an der er als Helfer im Kampf gegen die Not erst zu leiden beginnt. Anders als der Kriminalroman, der darauf drängt, Schuldige dingfest zu machen, geht es hier nicht um die Überführung des Täters. Die Autorin verlegt die Spannung ihres dicht erzählten Romans ganz ins Innere ihres Protagonisten, ins Labyrinth seines Gewissens. Fito nimmt gleichsam die Qualen einer traumatisierten Gesellschaft auf sich: »Ich liebe niemanden mehr. Ich lebe gewissermaßen in einem Loch, in dem ich mich verstecke, um mir selbst zu entkommen. (…) Sobald ich im Bauch von Canaan bin, vergeht mir Hören und Sehen.« Seine Freundin lässt ihrem untreuen Freund seine selbstmitleidige Rede nicht durchgehen. Ungerührt kontert sie: »Bullshit! Schriftstellergesülze!«
Eine wichtige Funktion im Läuterungsprozess Fitos hat seine schriftstellerische Tätigkeit. In einem Interview hat die Autorin Fitos Entschluss, über seine Erlebnisse in Canaan Zeugnis abzulegen, gar als »Wiedergutmachung« bezeichnet. Doch ist der Bruch zwischen gutem Schreiben und schlechten Taten tatsächlich so deutlich, wie hier suggeriert wird? Als Fito für ein paar Tage mit einer Professorin aus Japan ans Meer ins idyllische Abricots fährt, gelingt es ihm für eine Weile, seine Obsession für Minderjährige zu besiegen. Vor sonnendurchfluteter Kulisse klappt auch der Sex mit der etwa gleichaltrigen Tatsumi. Sie weist Fito auch den Weg, wie er seine traumatischen Erfahrungen im Flüchtlingscamp verarbeiten kann, und fordert ihn auf, ein Buch über das Lager zu schrei­ben. Schreiben als Therapie? Kann das funktionieren? Der hohen Wertschätzung der Schrift als Technik der Aufklärung haftet in einem Land mit einer Analphabetenquote von 47 Prozent etwas Optimistisches an.
Der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier hat in einem Essay von einer Reise nach Haiti berichtet, die ihm schlagartig die Augen für die Einzigartigkeit der lateinamerikanischen Literatur geöffnet habe. Anders als in Europa, wo der Surrealismus sich verkrampft abmühe, Begegnungen eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch herbeizuphantasieren, sei das Wunderbare in der Karibik, wo noch viele Menschen an Werwölfe glaubten, eine alltägliche Realität. Mars knüpft an Carpentiers Gedanken an, indem sie uns von Kétia erzählt, einem jungen Mädchen, das Fito sexuell zu Diensten sein muss. Trost gewinnt Kétia aus den Erzählungen einer alten Frau, die man im Flüchtlingslager für eine Werwölfin hält: »Viola war ihr Schutzengel (…). Sobald die Hand eines Mannes sich auf ihrer Haut schwerer anfühlte, hielt die Stimme Violas Einzug in ihren Kopf und erzählte ihr eine seltsame Geschichte, die zu ihrem Durst passte.« Für das Kind aus dem Slum ist die Erzählung der alten Frau eine reale Kraft, die den Missbrauch erträglicher macht. Sowohl dem gesprochenen als auch dem geschriebenen Wort wohnt bei Mars eine heilende Wirkung inne.
Der Historiker Walther L. Bernecker hat Haiti als »Armenhaus der Welt« bezeichnet. Zwar sei das Land einst die reichste Kolonie der Welt gewesen, in der es früher als in anderen Staaten Lateinamerikas zum Ende der Sklaverei und zu einer sozialen Revolution gekommen sei. Dennoch habe Haiti von dieser Entwicklung nicht profitieren können. Die 1958 in Port-au-Prince geborene Mars zeigt, wie sich die Situation Haitis nach der Erdbebenkatas­trophe weiter verschlechtert hat. Am Beispiel einer Handvoll Menschen beschreibt sie, wie das wenig durchdachte und von einem namenlosen Hollywoodstar initiierte Flüchtlingsprojekt (man fühlt sich deutlich an Sean Penn erinnert) allmählich ins Desaster führt. Als die Erdbebenopfer den einigermaßen komfortablen Golfplatz der Hauptstadt wegen einer Überschwemmung räumen müssen, landen sie in Siedlungen ohne Infrastruktur – in Lagern wie Canaan.
Mars hat einen wichtigen Roman über eine humanitäre Katastrophe geschrieben, die in den Medien fast schon wieder vergessen ist. Ihre Entscheidung, einen pädophilen Schriftsteller zur Hauptfigur zu machen, entbehrt nicht gewisser moralischer Tücken, hat jedoch auch einen Vorteil: Sich aus dieser Prosa unberührt wegzuducken, ist kaum möglich.

Kettly Mars: Vor dem Verdursten. Litradukt-Verlag, Trier 2013, 124 Seiten, 12,90 Euro