Övül Durmuşoğlu im Gespräch über den Umgang der türkischen Medien mit den Protesten

»Im Fernsehen liefen Pinguine«

Die in Berlin und Istanbul lebende Kuratorin Övül Durmuşoğlu gehört zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes, in dem türkische Künstler, Filmemacher und Autoren sich mit den Protesten solidarisch erklären und die türkischen Medien auffordern, objektiv und ausgewogen über den Widerstand zu berichten.

So unterschiedliche Gruppen wie die »antikapitalistischen Muslime«, LGBT-Gruppen, kurdische Organisationen und Kemalisten demonstrieren gemeinsam. Ist das eine neue Entwicklung?
Der einzige annähernd vergleichbare Protest fand nach der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink statt. Damals waren wir alle auf der Straße und haben gerufen: »Wir sind alle Armenier, wir sind alle Hrant Dink«. Damals reagierte die Regierung überrascht. Sie hatte nicht erwartet, dass eine solche Masse von Menschen zusammenkommen könnte. Jetzt ist es genauso: Die Menschen wurden überhaupt nicht ernst genommen. Sie dachten, ach, ein paar Umweltschützer, die wollen ein paar Bäume retten. In seiner ersten Erklärung sagte der Ministerpräsident: »Wenn ihr Bäume wollt, kann ich euch mehr Bäume geben. Also, was ist euer Problem?«
Verfolgen die Menschen, die jetzt protestieren, wirklich dieselben Ziele?
In der New York Times wurde von Demonstranten eine Anzeige geschaltet, die einige Ziele nennt: Wir wollen offene Kommunikationskanäle für die Demokratie, wir wollen, dass die Polizeigewalt aufhört, wir wollen nach unserer Meinung gefragt werden, wenn wichtige Entscheidungen über unsere Städte, unser ­Leben getroffen werden, wir wollen nicht eine bestimmte Lebensweise übergestülpt bekommen. Alle sollen ihr Leben auf die eigene Weise führen können. Außerdem wollen wir natürlich freie Medien. Die türkischen Medien sind absolut lächerlich. Gestern hatten sieben oder acht Zeitungen exakt dieselbe Schlagzeile auf dem Titel. Man kann sie nicht ernst nehmen.
Ich stimme nicht mit allen Demonstrierenden überein, etwa nicht mit den Ultra-Kemalisten, die rufen: »Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal.« Wir sind niemandes Soldaten. In den letzten zehn Tagen haben wir gelernt, unsere Individualität zu genießen und die Möglichkeit, unsere Meinung frei zu äußern.
Wenn die verschiedenen politischen Frak­tionen jetzt versuchen, die Ausrichtung ein wenig zu ändern, erscheint mir das ganz normal, und ich bin neugierig auf die nächsten Schritte: Wie können wir diese Energie zu einer starken politischen Stimme kanalisieren? Es wird der nächste Schritt sein, herauszufinden, wie die unterschiedlichen Forderungen in der Gesellschaft widergespiegelt werden können.
Sie haben gemeinsam mit anderen Künstlern einen offenen Brief verfasst. Welche Rolle spielen Künstler in der Protestbewegung?
Jeden Tag werden uns wichtige Rechte genommen, auch die Freiheit, sich künstlerisch auszudrücken. Die Lage der Theater und Kinos ist besonders ernst, weil sie von der staatlichen Förderung abhängig sind. Diese wurde eingeschränkt, es wurden Theaterdirektoren ausgetauscht und Leute eingesetzt, die nichts mit Kunst zu tun haben. Ohne eine Verbindung zur Regierung ist jede Handlung unmöglich geworden. Künstler sind deshalb stark in der Bewegung vertreten. Als die Proteste anfingen, waren wir mit einer Gruppe von Künstlern aus der Türkei in Venedig. Innerhalb von sieben Stunden formulierten wir unser Statement. Zu diesem Zeitpunkt waren schon einige unserer Freunde verletzt worden. Wir wollten vor allem, dass die Menschen von dem friedlichen Protest erfahren. Sie sollten erfahren, dass die Polizei ihn mit Gewalt unterdrückt und dass er nicht endet, weil die Leute immer wütender werden. Natürlich schwiegen die Medien und zeigten Dokumentationen über Pinguine, während die Proteste stattfanden. Es war unglaublich.
Warum hat sich der Protest dieses Mal so ausgeweitet? Anlässe gab es schon früher, etwa die Inhaftierung von Journalisten, die Einschränkung des Abtreibungsrechts, Bauvorhaben wie die dritte Bosporus-Brücke oder zuletzt den Versuch, Küsse in der Öffentlichkeit zu verbieten.
Es ist der letzte Tropfen. Seit Jahren wird das Verhalten der Bürger immer weiter reguliert. Beispielsweise findet Erdoğan, dass jede Frau drei Kinder zur Welt bringen sollte. Die Leute konnten es einfach nicht mehr ertragen. Bisher hat die Regierung erfolgreich mit der Polarisierung in Religiöse und Säkulare Politik gemacht und die Kritik so in den Griff bekommen. Das hat viele gelähmt.
Den ganzen letzten Monat wurden die Menschen ständig mit Tränengas eingenebelt: am 1. Mai, bei Fußballspielen von Beşiktaş, bei Protesten gegen den Abriss des Emek-Kinos. Die Menschen haben protestiert und protestiert, und wie immer hat der Ministerpräsident nichts gehört. Die Polizei hat versucht, diese Proteste zu unterdrücken. Das Lustige ist, je mehr sie mit Tränengas eingenebelt wurden, umso enger kamen die Menschen zusammen.
Im Westen ist die Wahrnehmung der Türkei immer noch von dem Konflikt zwischen ­säkularen Kemalisten und religiösen AKP-Anhängern geprägt. Stimmt dieses Bild?
Erdoğan nutzt diese Wahrnehmung – aus dieser Quelle speist sich seine politische Karriere. Nur aufgrund dieser Polarisierung ist er zehn Jahre lang an der Regierung geblieben. Er will nicht verstehen, dass wir darüber längst hinaus sind. Natürlich gibt es unter den Protestierenden immer noch Leute, die so denken. Aber viele von ihnen wollen weg davon. In erster Linie ist es eine antikapitalistische Bewegung.
Wir sorgen uns, weil diese Regierung alles bis auf den kleinsten Krümel verkauft. Es ist kein Zufall, dass diese Bewegung beim Umweltschutz begonnen hat. In Anatolien kämpft seit letztem Jahr eine große Umweltbewegung dagegen, dass Flüsse und Wälder für den Bau von Atomkraftwerken zerstört werden. Wie immer hat die Regierung das ignoriert. Dieser Antikapitalismus ist ein starkes Fundament. Ich glaube, es gibt in der Bewegung niemanden, der damit nicht übereinstimmt.
Was sollten die nächsten Schritte sein?
Ich stelle mir vor, dass nach dieser Bewegung so etwas wie ein Bürgerkongress, eine Bürgerkommission geschaffen wird; eine selbstorga­nisierte Gruppe, die bei wichtigen öffentlichen Entscheidungen beratend tätig ist. Wir sehen an den Reaktionen des Ministerpräsidenten, dass es noch viel zu tun gibt. Das hier ist erst der Anfang. Diese neue Stimme muss gefestigt werden, ohne ihre Pluralität zu verlieren.
Und natürlich sollten als nächstes alle, die Polizeigewalt erfahren haben, vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen. Die Regierung sollte ihre Lektion daraus lernen. Es muss ermittelt werden, wer die Polizei beauftragt hat, sich so brutal zu verhalten. Meiner persönlichen Meinung nach muss es auch eine neue Regierung geben. Ich habe nichts gegen die AKP, aber Erdoğan hat die Fähigkeit verloren, sein Volk zu vertreten.
Erdoğan sagt, er und seine Partei hätten 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich und könnten sie mobilisieren.
Ja, er droht. So spricht er immer, das ist sein Tonfall. Wir haben gesehen, was sie inszeniert haben, als er von seiner Nordafrika-Reise zurückkehrte. Sie haben behauptet, es sei eine spontane Begrüßung, aber diese Männer wurden dort hingeschafft, um auswendig gelernte Slogans zu rufen. Danach wurde überall kommentiert: »Also das waren die 50 Prozent, die er mobilisieren wollte?«
Sie halten das nicht für bedrohlich?
Wir haben ein solches Selbstbewusstsein erlangt, dass wir uns davon nicht mehr einschüchtern lassen. Früher hatten wir Angst. Wir trauten uns nicht, unsere Sorgen auszusprechen, weil wir immer dachten, da sind diese 50 Prozent, die genau diese Regierung gewählt haben. Was können wir schon tun? Das hat sich geändert. Wir haben gesehen, wie wir uns mobilisieren können. Das ist eine neue Kraft. Aber auch an der religiösen Basis der AKP waren viele betroffen von der Polizeigewalt. Viele ganz normale Muslime können nicht ­akzeptieren, was sie da gesehen haben – nicht im Fernsehen, aber auf freien Medienkanälen oder aus ihren Fenstern.
Der Protest ist also kein rein urbanes Phänomen mehr, kein Protest der gebildeten Schicht?
In Adana, Antakya und vor allem in Rize, wo auch Proteste stattgefunden haben, haben die Leute nicht den gleichen Zugang zum Internet wie in den großen Städten. Die Proteste hatten eine etwas andere Ausprägung, aber sie haben stattgefunden. In Anatolien waren die Minderheitenkonflikte stärker präsent. In Städten mit großer kurdischer und alevitischer Bevölkerung haben viele Auseinandersetzungen stattgefunden, und es gab viele Verletzte.
Die Erfahrung, dass die Medien nicht berichten, hat auch die Sicht vieler Menschen verändert. Weil die Medien zu dem geschwiegen haben, was den Menschen zugestoßen ist, haben diese verstanden, dass es in Diyarbakır ähnlich gewesen sein könnte. Sie konnten sich vorstellen, welche Erfahrungen die Menschen dort gemacht haben könnten und was uns nicht gezeigt wurde. Das ist eine der großartigen Veränderungen, dass Menschen anfangen, ihre Vorurteile abzubauen.
Viele Medien ziehen den Vergleich zum »arabischen Frühling«. Was halten Sie davon?
Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Unsere Situation unterscheidet sich beispielsweise vollkommen von der Ägyptens. Wie brutal Erdogan auch sein mag, seine Position ist eine andere als die Mubaraks. Es gab hier immer noch funktionierende demokratische Mechanismen. In Ägypten richteten sich die Proteste gegen eine Diktatur. Hier begannen sie als Widerstand gegen eine Regierung, die ihre Ohren verschloss und versuchte, das Verhalten der Leute zu reg­lementieren. Zudem haben wir eine säkulare Vergangenheit, aus der die Menschen ihr Selbstvertrauen ziehen.
Aber Elemente dieser Bewegung lassen sich hier wiederfinden. Es ist ein bisschen was vom Tahrir zu finden, von »Occupy Wall Street« und der »Wutbürger«-Bewegung. Auf ein Straßenschild in Ankara hat jemand gesprüht: »Taksim, Tahrir, Amed« (Amed ist der alte Name von Diyarbakır, Anm. d. Red.). Alle drei Kämpfe kommen hier zusammen.
Welche Bedeutung kommt der Berichterstattung der internationalen Medien zu?
Wir wollen nicht, dass die ausländische Presse diesen Protest mit den alten Begriffen deutet. Denn diese Bewegung hat mit der politischen Vergangenheit gebrochen und bewegt sich auf ein neues politisches Vokabular zu. Ich weiß nicht, wann wir das erreichen werden. Aber es ist auf jeden Fall ein wichtiger Bruch, der einer tiefergreifenden und genaueren Analyse bedarf. Ich wünsche mir, dass die westlichen Medien aufhören, von dem Konflikt zwischen Religion und Laizismus als zugrundeliegendem Widerspruch zu reden. Darüber sind wir längst hinaus. In der Hauptsache geht es um die persönliche Freiheit, um die Würde als Staatsbürger, um offene Demokratie.
Was sind für Sie die bisher größten Erfolge?
Vor ein paar Tagen habe ich ein Schild gesehen: »Wir haben einen Ministerpräsidenten, der die Leute aufhetzen will, und einen Fußballfanclub, der versucht, die Menschen zu beruhigen«. Es ist eine surreale Situation. Und einer der größten Erfolge ist, dass die Leute neue Wege gefunden haben, zusammenzuleben. Metaphorisch gesprochen wurde der Gezi-Park zu einem gemeinsamen Raum, den die Menschen sich selbst geschaffen haben, mit ihren eigenen Händen. Wir wussten nicht, dass wir dazu in der Lage waren.
Interview: Claire Horst