Ist skeptisch gegenüber der Bezeichnung »Occupy«

Taksim ist ein Platz in Istanbul

Ob die Proteste in der Türkei zu Recht in die Tradition von »Occupy« gestellt werden, wird sich zeigen. Zu wünschen ist es ihnen nicht.

Namen sind Schall und Rauch und können doch wirkmächtige Labels werden. Die radikalsten bürgerlichen Revolutionäre hießen Jakobiner, nach ihrem Treffpunkt in einem ehemaligen Kloster. Bolschewiki nannten sich die Anhänger Lenins nach der zweifelhaften Mehrheit, die sie bei einer Abstimmung errangen, die die Spaltung der russischen Sozialdemokratie besiegelte. In nächster Zeit wird wohl jeder Protest auf diesem Planeten mit »Occupy« verglichen, so wie es hierzulande keinen Studentenstreik geben kann, der nicht in eine Linie mit »Achtundsechzig« gestellt wird. Selbst Linksradikale halten Proteste gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt unter dem Titel »Blockupy« für zugkräftiger.
Dabei ist nicht einmal die namensgebende Aktionsform originell. Jede Massenbewegung hat sich bislang nicht bloß virtuell versammelt, sondern sich auf öffentlichen Plätzen eingefunden. Occupy Bastille, Occupy Winterpalais und Occupy Gorleben hatten wir schon. Ob die Bewegung, die am Taksim-Platz ihren Ausgang hat, sich nun »Occupy Istanbul« nennt oder von europäischen und nordamerikanischen Linken so bezeichnet wird, ist darum zunächst irrelevant.

Die Frage ist, ob es Gemeinsamkeiten mit »Occupy« in den USA oder den »Indignados« in Spanien gibt. Es handelt sich jeweils um spontane Massenbewegungen, die kleine, relativ neue und eher informelle Gruppen vorbereiteten, während die traditionelle (radikale) Linke von den Ereignissen überrascht wurde. Daraus ergibt sich eine weitere Ähnlichkeit: Die Proteste in den USA, Spanien, Portugal und Griechenland richten sich gegen eine Verarmung infolge der Weltwirtschaftskrise, die auch die Mittelschicht trifft, sind aber in der Wahrnehmung der Krise und ihrer Ursachen sowie der Perspektiven heterogen und für obskure und rechte Einflüsse offen. Das ist bei jeder Massen­bewegung so und kein Hinderungsgrund für linksradikale Einmischung.
In ihren Anfängen ähnelte die Bewegung in der Türkei eher den Protesten gegen »Stuttgart 21« als »Occupy Wall Street«. Fast zwei Jahre kämpfte eine Bürgerinitiative in Istanbul gegen einen Umbau des Taksim-Platzes und die Zerstörung des Gezi-Parkes ohne große Resonanz, ähnlich wie Umweltschützer in Stuttgart viele Jahre lang gegen die Tieferlegung des Bahnhofs. Die erste Platzbesetzung von »Occupy« in New York war dagegen eine Einzelaktion, die kein konkretes Anliegen verfolgte, sondern sich allgemein gegen die Folgen des neoliberalen Kapitalismus richtete. Alle drei Bewegungen erhielten wiederum erst durch brutale Polizeieinsätze ihre ungeheure Resonanz. Während jedoch der Kampf gegen »Stuttgart 21« thematisch und lokal begrenzt blieb, verbreiteten sich die Aktionen von New York, Madrid und Istanbul sehr schnell über das ganze Land.

In der Türkei hat sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen islamistische Fortschrittspartei (AKP) seit mehr als zehn Jahren das Land regiert, sofort als Feindbild angeboten. Das Besondere besteht darin, dass die Demonstranten auch die Islamisierung angreifen, die sich zuletzt in Gängelungen des Alkoholkonsums, von Partys oder Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit zeigte. In Istanbul bündeln sich Motive wie der Schutz von Bäumen, die Verteidigung städtischer Freiräume gegen eine intensivere kapitalkonforme Nutzung in Gestalt von Einkaufsmeilen und der Unmut gegen den Plan der AKP, das Atatürk-Kulturzentrum als Symbol des Laizismus abzureißen und mit dem Bau einer Moschee an dieser Stelle zu triumphieren.
Vielleicht öffnen dieser Protest und die Auseinandersetzungen in Nordafrika einer kulturrelativistischen Linken, die Islamisten immer noch für Verbündete hält, die Augen. Andererseits ist ­Widerstand gegen Islamisierung in der Türkei, sofern er sich auf die Tradition des Republikgründers Kemal Atatürk beruft, autoritär und nationalistisch.
Worte mögen einem Bedeutungswandel unterliegen. In Zeit und Raum aber hat jeder Begriff konkrete Bedeutungen. »Occupy« steht für verkürzte Kapitalismuskritik, wenn man eine Kritik, die sich auf Banken und Zinsen kapriziert, überhaupt so nennen will. »Occupy« glorifiziert Massenversammlungen als Form direkter Demokratie und missachtet die Gefahr der Manipulation. Die Rede von den »99 Prozent« der Bevölkerung mag Postoperaisten verzücken, die überall die Multitude am Werke sehen, verstellt aber den Blick auf die Komplexität von Klassengesellschaften und suggeriert ein homogenes Volk, wo unterschiedlichste Interessen zu finden sind. Wiederholt die Bewegung in der Türkei solche Attitüden von »Occupy«, hat sie auch den Namen verdient.