Es geht um die globale Krise des Kapitalismus

Taksim ist überall

Die Proteste in der Türkei reihen sich ein in einen globalen Protestzyklus gegen die kapitalistische Krise.

Ich sah den Hashtag #occupygezi, bevor ich wusste, was dort überhaupt los ist und was der Auslöser war. Das Label und die Fotos waren überzeugend genug, um diese sofort meinen Followern weiterzuleiten: »Taksim ist überall.« Es war bemerkenswert, wie schnell sich die Proteste in Istanbul, deren Ausgangspunkt der geplante Abriss eines Parks war, durch den Begriff »Occupy« mit den Protesten gegen die Zentren des globalen Kapitals in New York, autoritäre Krisenregime im Süden Europas und von westlichen Staaten gestützte Diktaturen in der arabischen Welt verbanden.
Inwieweit diese Kontextualisierung legitim ist, ließe sich schnell beantworten: Sobald sich die Akteure aufeinander beziehen und miteinander identifizieren, wird aus den einzelnen Ereignissen eine Kette, und unabhängig von einer gemeinsamen Substanz nehmen wir das Ganze als eine globale Protestwelle wahr.

Doch dem liegt mehr zugrunde. Es gibt ein gemeinsames Substrat dieser Proteste, die diese spontane Identifizierung ermöglicht. Diese Bewegungen haben gemeinsame Formen, werden von einem ähnlichen Milieu getragen und teilen grundlegende Forderungen. Darin liegt die erst heimliche und nun immer offenere Verwandtschaft der Demonstranten in Kairo, Madrid, Washington und Istanbul begründet.
Die Formähnlichkeit der Proteste ist unumstritten und markiert die Oberfläche der Verwandtschaft. Die markanteste ist die Besetzung der neuralgischen Punkte der Metropole, die als Ort der öffentlichen Äußerung und der Selbstfindung und Erstellung der Infrastruktur des Protests dient. Dazu kommt die starke Nutzung der sozialen Medien, die über die Nachrichtenfunktion hinaus eine intensive Kooperation bei gleichzeitiger Autonomie der Einzelnen ermöglichen. Durch diese Formen sind diese Bewegungen ohne zentralisierte Repräsentation sprach- und handlungsfähig. Politisch ist die Menge sehr pluralistisch. Keine Strömung, Organisation oder Person kann diese dominieren oder eine dominante Sprecherposition beanspruchen.

Diese formale Verwandtschaft ist an das wichtigste Milieu dieser Revolten gekoppelt, das sich überall ähnelt: In Kairo, Madrid, Washington und Istanbul ist es die prekäre urbane, gebildete Jugend, die diese Proteste hauptsächlich organisiert. Im Zuge einer allgemeinen Bildungsoffensive wurde in den vergangenen Dekaden ein beträchtlicher Teil der Weltbevölkerung mit größeren kommunikativen Potentialen ausgestattet, um in Zeiten des digitalen Kapitalismus Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Diese neuen Potentiale können aber nicht ausreichend in die kapitalistische Verwertung integriert werden, bis auf Ausnahmen wie zum Beispiel in der Bundesrepublik oder in neu entwickelten Teilen Ostasiens, wo das Aufstiegs- und Konsumversprechen für diese urbane Schicht noch Gültigkeit hat. Hieraus entsteht eine neue rebellische Subjektivität eines Milieus, das seine Vorstellungen und Wünsche von gesellschaftlicher Gestaltung und eigenem Leben immer weniger befriedigen kann, das arm, aber nicht verarmt ist.
Gegen den Autoritarismus und gegen diese Armut hieß es in der »Arabellion«: Brot, Freiheit und Würde! Die Parolen weisen auf die Verbindung der demokratischen mit der sozialen Frage. Kapitalismuskritik und Demokratie gehören zusammen und sind die Voraussetzung für ein würdevolles Leben. Die Fragen stellen sich in unterschiedlichen Formen, weisen aber auf denselben Kern der Kritik. Die Frage der Demokratie stellte sich in den meisten Ländern der »Arabellion« angesichts westlich gestützter Polizeistaaten. Jetzt wird in Tunesien, Ägypten und der Türkei gegen Islamismus gekämpft, während sich der Kampf im Süden Europas gegen die Abschaffung formal-demokratischer parlamentarischer Strukturen richtet.
Die soziale Frage ist in Ägypten die nach Brot und Gaskartuschen zum Kochen, in Spanien die nach Wohnungen und Jobs, und in Istanbul ist es die Gentrifizierung. Der Umbau des Gezi-Parks zu einer Shoppingmall mit militaristischem Antlitz würde die ärmeren Schichten und die prekäre Jugend weiter aus dem Zentrum der Stadt vertreiben. Es sind dieses soziale Unbehagen und der Schrei nach einem Recht auf Stadt, der diese Revolte trägt. Die Verbindung der demokratischen und der sozialen Frage bestimmt die innere Dynamik und schafft die Wucht dieses neuen globalen Protestzyklus. Der westlich-liberale Diskurs verschleiert hier den Blick: Die Reduktion dieser Revolten auf die demokratische Frage, die mit west­lichen Werten gleichgesetzt wird, verschließt sich der allgemeinen Grundlage dieser Proteste, die nichts weniger sind als eine Antwort auf die weitreichende politische und soziale Krise des globalen Kapitalismus.