Wie die Revolte vom Taksim-Platz die Türkei verändert

Das große Kennenlernen

Das geplante Bauprojekt im Gezi-Park symbolisiert Erdoğans Türkei. Genau daran hat sich der Widerstand entzündet. Die Revolte vom Taksim-Platz hat das politische System des Landes grundlegend verändert.

»Ehrerbietung vor der nationalen Souveränität« war das Motto der Großkundgebung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Sonntag in Istanbul. Die Masse war herangekarrt worden: vom Wohlwollen der Herrschenden Abhängige wie Beamte und städtische Angestellte. Die Busflotte der Stadt Istanbul stand ganz zu Diensten der Kundgebung. Auf Schnellstraßen, die für den Normalverkehr gesperrt wurden, mit Schiffen und sogar mit Flugzeugen kamen die Kolonnen der regierenden AKP. Vielleicht 200 000, vielleicht 300 000 Menschen. Doch die Jubelstimmung, die vor Jahren noch Erdoğans Wahlkampfkundgebungen prägte, stellte sich diesmal nicht ein. Ob die internationale Verschwörung – CNN und Reuters wurden namentlich als deren Agenten genannt – oder der Vorwurf gegen den Eigentümer eines des größten türkischen Konzerne, er beherberge Terroristen in seinem Fünf-Sterne-Hotel am Taksim-Platz (nach der Gewaltorgie der Polizei am Wochenende war die Hotellobby faktisch ein Notlazarett) – es wollte einfach keine Stimmung aufkommen. Selbst die übliche rhetorische Formel »Wir überlassen dieses Land nicht den Terroristen« blieb unwirksam. Die Kundgebung sollte den »nationalen Willen« gegen die »Anarchisten«, »Terroristen« und »Marodeure« medienwirksam zum Ausdruck bringen. Es ging daneben. Es war ein Pyrrhussieg Erdoğans.

An den Händen des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan klebt Blut. Es ist der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere. Auf Leichen lässt sich schlecht tanzen. Während Erdoğan seine Rede hielt, bewegte viele Menschen etwas anderes: Angst um ihre Söhne und Töchter auf den Straßen rund um den Taksim-Platz. »Jeder, der jetzt noch zum Taksim-Platz geht, ist ein Terrorist«, hatte Erdoğans Europa-Minister Egemen Bağis erklärt. Und trotzdem waren Zehn-, wenn nicht Hunderttausende verstreut auf den Straßen und versuchten erfolglos, zum Taksim-Platz zu gelangen. Gegen jene unbewaffneten, meist friedlichen Demonstranten führte die Staatsmacht über Tage einen erbarmungslosen Krieg. Fast 10 000 Menschen wurden im Laufe der Tage verletzt. Es gab Tote und Erblindete. Über Tage hinweg wurden ganze Wohnviertel in Tränengaswolken eingehüllt. Von der »Säuberung« des Taksim-Platzes und des benachbarten Gezi-Parks hat Erdoğan gesprochen. In zehntausenden Videos, die über Twitter verbreitet werden, sind diese »Säuberungen« nun dokumentiert. »Was mich am meisten beeindruckt hat«, erzählt ein Jugendlicher, auf den die Polizisten mit Gasgranaten und Gummigeschossen zielten, »war das Summen der automatischen Türöffner überall in den Wohnhäusern.« Eine ungeheure Solidaritätswelle hat die Revolte am Taksim-Platz nach sich gezogen. Statt über die regierungstreuen Medien informieren sich Eltern am Computer ihrer Kinder. Da gibt es das Video, das zeigt, wie ein Journalist des alternativen Fernsehsenders IMC von einem halben Dutzend Polizisten getreten und misshandelt wird. Von den Wohnhäusern hagelt es Mehl und Eier auf die Polizisten.
Der zentrale Taksim-Platz und der Gezi-Park sollten nach ihrer Umgestaltung zum Symbol der neuen Türkei werden. Tayyip Erdoğans Türkei: mit der Wiedererrichtung einer zum Einkaufszentrum umfunktionierten osmanischen Kaserne, mit einer riesigen Moschee, mit unterirdischen Schnellstraßen und Bushaltestellen. Ein Platz, wo sich Modernität und islamischer Konservatismus kreuzen und Größe und Machtfülle der neuen Türkei, Tayyip Erdoğans Türkei, offenbaren. Der Traum dürfte sich nicht erfüllen. Denn die Juni-Revolte vom Taksim hat das politische System der Türkei grundlegend verändert.

Es ist der Taksim-Platz, wo türkische Jugendliche fast zwei Wochen ohne Polizei Demokratie praktizierten. Wo Jugendliche von den »antikapitalistischen Muslimen« auf dem Platz ihr Freitagsgebet verrichteten, während es nebenan Frauen-Yoga gab. Ein Platz, wo ohne Zensur innerhalb eines Tages eine Bibliothek errichtet wurde. Ein Platz, wo Fußballrabauken sich beschämt von Feministinnen belehren ließen, dass man keine sexistischen Sprüche klopft. Ein Platz, der frühmorgens bis zum letzten Zigarettenstummel aufgeräumt wurde. Wo das politisch so heterogene Kollektiv eine funktionierende Großküche und eine Müll­entsorgung organisierte. Ein Platz, wo Tierärzte vom Gas und den Geschossen verletzte Straßenhunde und -katzen behandelten. Ein Platz, wo ein Kurde einem nationalistischen Türken zeigt, wie man sich vor den Geschossen der Polizei in Acht nimmt. Familien, die sich nicht für Politik interessieren und die noch nie an einer Demons­tration teilgenommen haben, machten zu den friedlichen Zeiten Ausflüge zum Taksim-Platz. Da wurde gelacht über den Witz der Demonstranten.
Die jugendlichen Rebellen haben in praktischer, politischer Aktion die Deutung, dass in der Türkei die politischen Fraktionen Islamisten einerseits und kemalistische Nationalisten andererseits seien, wobei erstere bei den Wahlen die Mehrheit erringen, in Frage gestellt. Erdoğan hatte ein leichtes Spiel gegen das alte kemalistische Establishment, gegen das er eine breite Mehrheit schmieden konnte. Der Demokratiebewegung vom Taksim-Platz ist er dagegen hilflos ausgeliefert. Er behauptet, es handle sich um einen Konflikt zwischen einer bösen privilegierten, säkularen Minderheit (die »weißen Türken«) und der Mehrheit der armen, frommen Muslime (die »schwarzen Türken«).
Es ist ein hilfloses Unterfangen. Er findet kein einziges Beispiel zur Illustration und muss sich in allen Reden der vergangenen Tage Lügen bedienen. Wie etwa jener von den Gräueln in der Dolmabahçe-Moschee. Ohne die Schuhe auszuziehen hätten dort die Jugendlichen randaliert und gesoffen. Es gibt Videos, die offenbaren, wie die Moschee faktisch zum Notlazarett für verletzte Demonstranten wurde. Auch der Imam, mittlerweile vom Dienst suspendiert, erklärte öffentlich, dass er Menschen in Not geholfen habe, dass die jungen Leuten respektvoll gewesen seien und keinen Alkohol getrunken hätten. Frauen mit Kopftuch würden von Demonstranten auf dem Taksim-Platz misshandelt, erklärte Erdoğan. Ihm folgten Botschaften empörter Demons­trantinnen mit Kopftuch, die erklärten, alles sei erstunken und erlogen. Eine Zehra twitterte: »Ich werde nicht Untertan eines Mannes, der glaubt, mein Kopftuch zu verteidigen, und Millionen unterdrückt. Weil ich nicht blind bin. Weil ich an Gott glaube.« Für die Nachrichten über benutzte Präservative in den Zelten des geräumten Gezi-Parks, von denen Erdoğan gefällige Medien berichteten, gibt es viel Spott und Hohn.

Die Initiatoren der Revolte waren unorthodoxe, libertäre Linke. Kinder säkularer, bürgerlicher Eltern. Sie begann als Revolte gegen die konservativ-religiöse Kultur, die Erdoğan repräsentiert: »Macht drei Kinder!« – »Keine Geburten mit Kaiserschnitt!« – »Das ist nicht Kunst, das ist ein monströses Denkmal. Reißt es ab!« – »Wer trinkt, ist Alkoholiker«. Es zeugt von einer manifesten Differenzierung der türkischen Gesellschaft, dass binnen kürzester Zeit ein breites Bündnis gegen Erdoğan zusammengeschweißt wurde. Da kamen die »Feministinnen«, die »Schwulen und Lesben«, die Globalisierungsgegner von den »antikapitalistischen Muslimen«, die Fußballfans, die sich nicht in Erdoğans Reihen einfügten, die Kinder von AKP-Wählern, die alten linken Gruppen, Gewerkschafter, PKK-Anhänger und zuletzt auch die Kemalisten. Und gemeinsam, beschossen von den Gummigeschossen und Tränengasgranaten der Polizei, haben sie sich kennengelernt und haben sich verändert.
Auch die kurdische Frage erscheint in einem neuen Licht. Im klandestinen Deal mit dem inhaftierten Führer der PKK, Abdullah Öcalan, wollte Erdoğan Frieden mit den Kurden schließen, vor allem der imperialen Energiepolitik und der Geschäfte mit dem kurdischen Nordirak wegen. Ganz ohne Abrechnung mit der eigenen blutigen Vergangenheit. Die Revolte vom Taksim-Platz gefährdet nun auch dieses Projekt. Kann eine Guerillabewegung den Friedensversprechungen eines Mannes vertrauen, der selbst friedfertige, demonstrierende Jugendliche niederknüppeln lässt? Öcalan schickte aus dem Gefängnis Grüße an die Demonstranten vom Taksim-Platz und warnte: »Wer mich instrumentalisieren und betrügen will, der täuscht sich.« Auch dies ist eine Botschaft der Revolte. Es kann nur einen ehrlichen Frieden geben, der auf Gleichberechtigung und Transparenz beruht.