Rithy Pan im Gespräch über den Massenmord der Roten Khmer

»Es gibt keine visuellen Dokumente des Genozids«

Der kambodschanische Regisseur RITHY PANH ist der filmische Chronist seines Landes. Der 49jährige beschäftigt sich mit den Folgen des Terrors und des Massenmords der Roten Khmer.

Rithy Panhs Spielfilm »The Sea Wall« (2008) spielt in der Kolonialzeit, als das kleine südostasiatische Land zusammen mit Laos und Vietnam zum französischen Protektorat Indochina gehörte. 1953 verlangte der junge König Sihanouk von der französischen Kolonialmacht die Unabhängigkeit und erhielt sie zur allgemeinen Überraschung auch. Sihanouk trat als König zurück und regierte fortan als Staatsoberhaupt, bis er durch einen Staatsstreich 1970 entmachtet wurde. Das amerikanische Bombardement des durch kambodschanisches Staatsgebiet führenden Ho-Chi-Min-Pfades, das von Sihanouk stillschweigend toleriert wurde, führte zu einer Radikalisierung der Landbevölkerung im Norden des Landes, die einer kleinen Guerillagruppe großen Zulauf verschaffte – den Roten Khmer, die sich nach dem Vorbild der Vietcong organisierten. 1976 übernahmen sie nach jahrelangem Bürgerkrieg Phnom Penh und evakuierten innerhalb eines Tages die städtische Bevölkerung aufs Land, wo alle am Aufbau eines agrarischen Kommunismus mitwirken sollten. In den folgenden drei Jahren, acht Monaten und 20 Tagen starb ein geschätztes Drittel der Bevölkerung – zum Teil an Unterernährung und Entkräftung bei der Zwangsarbeit, zum Teil, weil sie als »Verräter« hingerichtet wurden. Besonders Intellektuelle, Akademiker und Künstler verfolgte Diktator Pol Pot mit gnadenloser Härte. Rithy Panh verlor durch die Roten Khmer fast seine ganze Familie. Ihre Diktatur ist das wichtigste Thema in seinem filmischen Werk geworden. In »S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer« (2003) lässt er ehemalige Wächter und die wenigen überlebenden Gefangenen den Haftalltag nachspielen. »Duch, Master of the Forges of Hell« (2012) porträtiert Kaing Guek Eav, den Lagerkommandanten von S 21, »Bophana« eine ­ermordete Gefängnisinsassin. Rithy Panhs Spielfilm »Eine Liebe nach dem Krieg« (1998) zeigt das Elend des Landes nach dem Ende der Schreckensherrschaft der Rothen Khmer, als das Land von der UN verwaltet wurde. Sein Debütfilm »Das Reisfeld« über das Leben einer Bauernfamilie wurde 1997 auch in Deutschland im Kino gezeigt. Panh hat zudem ergreifende Dokumentarfilme über das Kambodscha der Gegenwart gedreht, unter anderem »Land of the Wandering Souls« (2000) über eine Gruppe von Wanderarbeitern, die das erste Glasfaserkabel in Kambodscha verlegen, und »The Burnt Theatre« (2005) über das Ensemble des ausgebrannten Nationaltheaters. Für seinen neuen Film »The Missing Image« hat er beim diesjährigen Filmfestival in Cannes den Preis in der Sektion »Un Certain Regard« gewonnen. Darin beschäftigt er sich mit den Auswirkungen, die der Terror der Roten Khmer auf seine Familie hatte. Weil ihm nicht ein einziges Foto seiner eigenen Familie geblieben ist (das »fehlende Bild« gibt dem Film seinen Titel), inszeniert er wichtige Szenen mit Hilfe von Figuren des Bildhauers Sarith Mang. Über seine Erfahrungen unter den Roten Khmer hat Panh im vergangenen Jahr in Frankreich das Buch »Auslöschung: Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet« veröffentlicht, das vor einigen Monaten auch auf Deutsch erschienen ist. In der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh richtete er das Medienarchiv Bophana Center ein, das das audiovisuelle Erbe des Landes sammelt und bewahrt. Dort wurde auch das Interview geführt.

Sie sind der einzige Filmregisseur aus Kambodscha, dessen Werk international zur Kenntnis genommen wird. Entsteht daraus für Sie eine besondere Verpflichtung, das Land filmisch zu repräsentieren?
Kino ist für mich, als könnte man die Erinnerung zurückspulen, so dass heutige und zukünftigen Generationen sich der Vergangenheit erinnern und von ihr lernen können. Der Genozid hat in meinem Land zu einer dramatischen Auslöschung von Erinnerung geführt. Wir haben unsere Identität und unsere Würde verloren, und ich will sie durch meine Filme wieder zurückbringen. Ich kann aus diesem Grund keine hübschen Filme mit netten Themen machen, schließlich war mein Leben ganz anders. Ich war dem Tod sehr nahe, und wenn ich heute Filme mache, ist das für mich wie eine Wiedergeburt.
Ihre Filme spielen in Kambodscha und wurden von europäischen Firmen produziert. Die meisten Arbeiten sind nie in Kambodscha ins Kino gekommen, wurden aber in Europa im Kino oder im Fernsehen gezeigt. Betrachten Sie sich als europäischen oder kambodschanischen Filmemacher? Oder als transnationalen Regisseur?
Ich verstehe die Frage nicht. Ich bin Kambodschaner, ich spreche Kambodschanisch und bin hier geboren. Ich bin, wer ich bin. Aber gleichzeitig ist die Welt nun offen, und deswegen gibt es internationale Koproduktionen.
Aber der größte Teil Ihres Publikums lebt nicht in Kambodscha.
Da bin ich mir nicht so sicher. Für die neunziger Jahre mag das stimmen. Damals hatten die Leute in Kambodscha schlicht nicht das notwendige Equipment, um sich Filme anzusehen. Aber heute ist das anders, jeder hat einen DVD-Spieler. Und wenn man mal guckt, was sich die Leute bei uns im Bophana Center ansehen, ist da immer einer meiner Filme in den Top Five. Ich wundere mich nicht darüber, meine Filme sind die Art von Melodramen, die in Kambodscha populär sind. Meistens ist es entweder »S 21 – The Khmer Rouge Killing Machine« oder »Bophana«. Die jungen Leute interessieren sich für Dokumentarfilme. Das ist gut. Ich dachte, sie interessieren sich nur für Hollywood. Aber die teuren amerikanischen Filme liefen meist nur ein paar Tage im Kino. Die Leute wollen eben auch Filme aus ihrem eigenen Land sehen.
Kambodschaner sehen viel fern. Sie wissen, wer der beste koreanische Popsänger ist, und gucken viel »National Geographic«. Wir haben jetzt 65 Fernsehkanäle, und auch das Internet ist besser zugänglich als früher. Einerseits ist das gut, denn die Leute haben dadurch Zugang zu all diesen Informationen. Andererseits ist das sehr gefährlich – nicht bloß für uns Kambodschaner, sondern für alle armen Länder. Wenn man seine Filme nicht auf all diesen Plattformen im Internet und in den Kabelkanälen zeigt, dann existiert man nicht. Deine Sprache existiert nicht, dein Erbe existiert nicht. Das kann sehr, sehr schnell gehen.
Was tun Sie dagegen?
Im Bophana Center bilden wir Leute aus, um Web-Dokumentarfilme zu drehen, die unsere Seite der Geschichte zeigen. Die technische Entwicklung geht sehr schnell. Die Leute in Kambodscha mögen nur von einem Dollar pro Tag leben, aber bald werden sie ein Smartphone mit 4G und einer Videokamera haben. Wir wollen den Leuten beibringen, wie man Web-Dokumentarfilme für nur einen Dollar macht. Die kommen dann auf unsere Website.
Das klingt, als wäre die Situation des Kinos in Kambodscha sehr schlecht.
Insgesamt ist es viel besser als früher. Denn jetzt gibt es neue Filme wie »Lost Loves« oder »Enemies of the People«. Das freut mich, denn vor 20 Jahren konnte niemand solche Filme drehen. Und zwar nicht nur wegen eines Mangels an Mitteln, sondern auch, weil die Leute Angst hatten, ihre Meinung zu sagen. Die junge Generation heute hat viel weniger Angst.
In Ihren Filmen ist die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation oftmals fließend. Können Sie beschreiben, wie ein Film wie »The People of Angkor« entstanden ist, Ihr Dokumentarfilm über die Arbeiter, die die Tempelstadt Angkor Wat restaurieren? Einige Szenen in diesem Film wirken gestellt.
Ich mache keine Filme über die Menschen, ich mache Filme mit den Menschen. Ich teile ihr Leben, ich erzähle keine Geschichte über ihr Leben. Und ich frage sie: Was willst du in dem Film zeigen?
In »The People of Angkor« gibt es eine Szene, in der ein kleiner Junge mit einer steinernen Apsara spricht, einer Nymphe, deren Skulpturen die Wände der Tempel von Angkor Wat schmücken. Wie ist diese Szene entstanden?
Ich habe den Jungen gefragt: »Was willst du machen?« Und er hat gesagt: »Ich will mit der Apsara reden.« »Okay, leg los.«
Die Wirklichkeit und die Leute sind die besten Drehbuchschreiber der Welt. Man muss bloß die Neugier besitzen, ihnen zuzuhören. Das Problem mit Dokumentarfilmen fängt an, wenn man eine Idee hat, und die Realität dieser Idee anpassen will. Was machst du, wenn die Realität anders ist als deine Idee? Die besten Dokumentarfilme sind die, bei denen man Regie führt wie bei einem Spielfilm, und die besten Spielfilme sind die, bei denen man Regie führt wie bei einem Dokumentarfilm.
Es gibt nichts Reales im Film. Alles ist subjektiv. Man dreht hier, nicht da, man montiert, man zeigt den ersten Drehtag in der Mitte, den zweiten Tag am Anfang des Films. Das ist nicht die Realität. Aber wenn man zuhört, was die Leute wollen, dann ist das in Ordnung. Die Moral eines Films ist nicht interessant. Aber die Moral des Filmedrehens ist sehr wichtig.
In »The People of Angkor« gibt es eine Szene, in der die Arbeiter über einen Film reden, der in der Gegend gedreht wird. Es gibt das Gerücht, dass das Filmteam nach einem Komparsen sucht, der sehr viel Geld bekommen soll, wenn er sich von einem Tiger fressen lässt. Ich kann nicht glauben, dass diese Unterhaltung wirklich so stattgefunden hat .
Solche Gespräche geschehen spontan. Ich kann mir so eine Geschichte wie die mit dem Tiger nicht ausdenken. Das kam von den Arbeitern. Wenn sie arbeiteten, durfte ich sie nicht stören. Wenn sie eine halbstündige Pause hatten, konnte ich drehen. Manchmal hatte ich auch 30 Minuten mehr. Darum verbringe ich eine Menge Zeit damit, ihnen beim Arbeiten zuzusehen. Das kann drei Tage dauern, und man fragt sich irgendwann, was man da eigentlich macht. Man sieht zu. Man wartet. Man sieht zu. Man wartet. Wenn sie fertig sind, kannst du drehen, aber das muss dann sehr schnell gehen.
Was für eine Beziehung haben Sie zu den Arbeitern?
Denen ist egal, wo ich herkomme. Ich könnte das, was sie tun, nicht machen. Es ist sehr schwer. Als wir »Land of the Wandering Souls« gedreht haben, habe ich auch mal versucht, so einen Graben für ein Kabel auszuheben. Ich konnte es nicht.
Warum reden Leute mit dir? Man kommt aus der Stadt und fährt in ein paar Wochen wieder – warum sollten sie einem vertrauen? Warum sollten sie mit einem reden und einem ihre Geschichte erzählen? Deshalb gehe ich im Regen, wenn sie im Regen gehen. Wenn sie nass werden, werde ich auch nass. Und wenn sie acht Stunden am Tag in der glühenden Sonne arbeiten, setzte ich mich nicht ins Auto und mache die Klimaanlage an. Wenn ich zum Wagen gehe und Musik höre, werden sie mich nicht respektieren, wenn sie Pause haben.
In einer der bewegendsten Szenen Ihres Films »S 21« demonstriert ein ehemaliger Wärter vor der Kamera, wie er die Insassen in dem Gefangenenlager behandelt hat. Haben Sie ihn dazu aufgefordert?
Wie könnte ich ihm das sagen? Ich weiß nicht, wie das Leben in der Zelle war. Dieser Mann war ein Wärter, aber ich glaube nicht, dass er Leute gefoltert hat. Er war nur ein einfacher Wärter, und er war damals auch noch sehr jung, vielleicht 14 oder 15. Die Gewalt in diesem Gefangenenlager war so schrecklich, dass er 25 Jahre danach immer noch nicht darüber sprechen konnte, was seine Arbeit war und was er getan hat. Wir haben versucht zu reden, und er versuchte, es mir zu beschreiben, aber er konnte einfach nicht. Ich bin kein Journalist. In meinen Filmen gibt es kein Voice-over und keine Erklärungen, nichts wie: »Dies ist der Wärter, der ...« Darum musste er reden. Aber das ging nicht. Mir fiel aber auf, dass er die ganze Zeit gestikulierte, während er zu sprechen versuchte. Darum sagte ich ihm: »Du kannst uns auch zeigen, was du gemacht hast, wenn du nicht darüber sprechen kannst.« Wenn man ein guter Beobachter ist und viel Zeit mit den Leuten verbringt und oft zu ihnen nach Hause geht, dann findet man solche Lösungen, um ihnen zu helfen, sich auszudrücken. Als ich ihm sagte, dass er sich bewegen kann, war er so eifrig dabei, uns alles zu zeigen. Nach den Dreharbeiten bekam er hohes Fieber. Es war, als habe er eine schwere Operation gehabt und als sei ihm etwas herausgenommen worden. Es war wie ein Geständnis.
In Ihrem neuen Film geht es um Ihre Familiengeschichte unter den Roten Khmer. Sie verwenden Ausschnitte aus Propagandafilmen aus dieser Zeit. Können diese geschönten Bilder etwas über die damaligen Zustände aussagen?
Die Bilder aus den Filmen der Roten Khmer sind für sich genommen nicht interessant. Was interessant ist, sind die Leute, die diese Bilder aufgenommen haben. Das ist das Gute an einem Archiv wie dem Bophana Center. Bilder zu schaffen, ist nicht so interessant. Das kann heute jeder mit seinem Handy. Aber wenn man in einem Archiv arbeitet, dann bekommt man die Gelegenheit, die Leute kennenzulernen, die die Bilder gemacht haben, und sie zu fragen: Wie hast du gearbeitet, wie hast du das gefilmt?
Besitzen die Bilder, die so entstanden sind, eine dokumentarische Wahrheit?
Ich weiß, dass bei den Exekutionen in dem Todeslager S 21 Fotos gemacht worden sind, aber niemand scheint diese Bilder je gesehen zu haben. Es gibt keine visuellen Dokumente des Genozids in Kambodscha. Vielleicht wurden sie zerstört. Vielleicht hat sie jemand in eine Kiste getan und sie in einem Loch in der Erde versteckt, bevor er Phnom Penh an 7. Januar 1979 verlassen hat. Wir wissen es nicht.
Aber wenn ich Bilder von den Hinrichtungen gefunden hätte, könnte ich sie dann zeigen? Ich bin mir da nicht sicher. Vielleicht wollte ich diese Bilder gar nicht finden. Die Suche nach den Bildern ist möglicherweise wichtiger als die Bilder selbst.