Berichten über die Proteste und die Repression in Ankara

»Jeder hat eine Rechnung offen, jeder möchte etwas niederreißen«

Der Widerstand in der türkischen Hauptstadt Ankara wurde von Beginn an von ­extremer Polizeigewalt begleitet. Aus diesem Grund haben sich verschiedene ­Protestzentren herausgebildet.

In Ankara begannen die Proteste mit einer Solidaritätskundgebung für die Opfer des gewaltsamen Polizeieinsatzes im Istanbuler Gezi-Park am 31. Mai. Zu der Demonstration hatten verschiedene politische Organisationen aufgerufen; es war die erste und bisher letzte organisierte Demons­tration in Ankara. Im Anschluss an diese Kundgebung kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, die sich in den folgenden Tagen in anderen Teilen der Stadt fortsetzten. Besonders gegen die Proteste im Stadtzentrum Kızılay ging die Polizei mit äußerster Härte vor. Bereits am zweiten Protesttag gab es ein Todesopfer, den 22 jährigen Arbeiter Ethem Sarısülük, der durch den unerlaubten Einsatz scharfer Munition von einem Polizisten tödlich verletzt wurde.
Ein Grund für das exzessive Vorgehen der Sicherheitskräfte war die Nähe des Protestes zum Regierungsviertel und dem Sitz des Ministerpräsidenten. In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni kam es zu einer regelrechten Menschenjagd durch die Polizei, bei der Hunderte Personen festgenommen und verletzt wurden. Schlimmeres verhinderten die Restaurant-, Café- und Barbesitzer, die die Protestierenden vor der Polizei schützten, obwohl sie dabei selbst in Gefahr gerieten. Daraufhin änderten die Sicherheitskräfte ihre Strategie: Anstatt den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten und dann vereinzelte Demonstrierende anzugreifen, griffen sie nun bereits tagsüber auch große Menschenansammlungen an.

Die große Streikkundgebung im Stadtzentrum, zu der die Gewerkschaften am 5. Juni aufgerufen hatten, wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Während der Polizeieinsätze wurden zeitweise der Strom sowie die Überwachungskameras abgestellt, wohl um das brachiale Vorgehen der Sicherheitskräfte zu verbergen. Nach diesen Ereignissen zogen sich die Demonstrierenden aus dem Stadtzentrum zurück, da sie der Polizeigewalt nicht standhalten konnten. Die Proteste verlagerten sich in südliche Richtung, in die Kennedy-Straße sowie in den Kuğulu Park. Es kam zu nächtlichen Straßenschlachten zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstrierenden. Auch wenn der Protest weiterging, verringerte sich die Dynamik des Widerstands.
Einen erneuten Aufschwung erlebten die Demonstrationen mit der Räumung des Gezi-Parks am 15. Juni in Istanbul. Wieder versammelten sich in Ankara Zehntausende Menschen, um gegen das Vorgehen der Regierung und der Sicherheitskräfte in Istanbul zu demonstrieren. Am darauffolgenden Tag wurde der Trauerzug zur Beerdigung Ethem Sarısülüks noch vor dem eigentlichen Beginn der Veranstaltung durch einen massiven Polizeieinsatz unterbunden.
Die Demonstrierenden konzentrierten sich nun auf den zentralen Verkehrsknotenpunkt Kızılay. Dieser bildet mit dem anliegenden »Park des Vertrauens« – der ironischerweise das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheitskräfte symbolisieren soll – den nördlichen Rand des Regierungsviertels. Aus dem »Park des Vertrauens« wurde im Laufe des Widerstands der »Park der Schläge«. Diese Umbenennung resultiert aus der exzessiven Gewalt, die die Polizei einsetzte, um die Demonstranten aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. Selbst für an Auseinandersetzungen mit dem staatlichen Gewaltapparat gewöhnte Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreichte der Polizeieinsatz neue Dimensionen. »Es gab viel mehr Polizei als normal, mehr Tränengas, mehr Wasserwerfer, Gummigeschosse, deutlich mehr Festnahmen und zum Teil schwer Verletzte. Der Polizei war jedes Mittel recht, um die Menge aufzulösen. Sie zielten direkt auf die Protestierenden. Deswegen hatten wir ab dem 5. oder 6. Juni keine Kraft mehr, dem viel entgegenzusetzen«, sagt der in einer anarchistischen Gruppe organisierte Demonstrant Recep.
Es ist zwar davon auszugehen, dass die Proteste in Kızılay stark von etablierten politischen Orga­nisationen unterstützt wurden, doch machten diese nie die Mehrheit aus. Im Gegenteil spielten sie eine untergeordnete Rolle, der weitgehend friedliche Protest zog viele bis dahin politisch nicht aktive Menschen an. Recep drückt es so aus: »Ich bin nicht als Anarchist zu den Demonstra­tionen gegangen, sondern als ganz normaler Mensch. Und so ging es auch den anderen. Jeder hat eine Rechnung offen, jeder möchte etwas niederreißen.« »Wir haben es einfach satt«, fügt ein anderer Demonstrant hinzu, »und die ungeheure Polizeigewalt hat die Menschen mehr vereint als getrennt.«

Wegen des polizeilichen Vorgehens konnte sich in Ankara kein zentraler Protestort wie in Istanbul der Gezi-Park herausbilden. Ein wichtiger Ort des Widerstands, der dem in Istanbul zumindest ähnelt, ist jedoch der Kuğulu-Park. Die Menschen übernachteten in Zelten, schmückten den Park mit Spruchbändern, bis die Polizei auch dies am 12. Juni unterband. Während es tagsüber recht still zuging, versammelten sich abends Tausende Personen in und um den Park. Die Proteste hatten Happeningcharakter, unterstützt wurden sie von jungen Leuten, die sich selbst als »Plünderer« (çapulcu) bezeichnen. Trotzdem sind auch dort die Demonstrierenden auf polizeiliche Gewalt vorbereitet: Fast keiner kommt mehr ohne festes Schuhwerk, Gasmaske, Schal und Rucksack, schließlich weiß keiner, was man brauchen wird. Man hat seine Lektion gelernt.
Die Proteste in den verschiedenen Wohngebieten jenseits des Zentrums sind deswegen erwähnenswert, weil sie zeigen, wie intensiv der Widerstand von der Bevölkerung unterstützt wird. Jeden Abend pünktlich um 21 Uhr beginnen die Anwohner, Lärm zu machen, das Licht ein- und auszuschalten und sich zu Demonstrationszügen zusammenzufinden. »Es hat schon immer eine intensive politische Basisarbeit in den einzelnen Stadtteilen gegeben«, sagt der der Kommunistischen Partei TKP nahestehende Cemal, »aber bisher fehlte die Unterstützung der Menschen. Die ist jetzt gegeben.« In den Wohnvierteln fühlen sich die Menschen der polizeilichen Repression weniger ausgesetzt als im Stadtzentrum, doch auch hier entziehen sich die Proteste nicht völlig der Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte, sondern werden von Polizisten in Zivil begleitet.
Antrieb für alle Proteste in Ankara ist die Ablehnung des als arrogant empfundenen Politikstils der Regierungspartei AKP und besonders ihres Vorsitzendens Recep Tayyip Erdoğan. Die Menschen fühlen sich in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt. Eine Akademikerin drückt es so aus: »Vor dem Beginn der Proteste hatte ich das Gefühl, als könne ich nicht mehr atmen. Selbst bei meinen Mitteilungen auf Facebook habe ich mich dabei ertappt, mich selbst zu zensieren. Ich habe den Eindruck, die Leute haben das Imperium der Angst endlich satt. Sie wollen, dass die gesamte Denkhaltung der AKP verschwindet.« Es dominiere der Wunsch, endlich ein Leben nach eigenen Vorstellungen leben zu können, ohne dafür das Land verlassen zu müssen oder bestraft zu werden. Im Grunde speise sich die gesamte Widerstandsbewegung aus linken Protestformen und antikapitalistisch-revolutionären Ideen, meint Recep.
Die Strategie der Regierung, die Menschen gegeneinander auszuspielen, ist für die Mehrheit nicht mehr überzeugend. Dies vereint sämtliche Proteste über Alters-, Identitäts- und Klassengrenzen hinweg. Am Montag demonstrierten erneut mehr als 1 000 Gewerkschafter in Ankara. Ein ebenfalls für Montag angekündigter eintägiger Generalstreik in Istanbul und Ankara zeigte allerdings wenig Wirkung.
Viele hoffen auf einen politischen Neuanfang, bei dem sich sämtliche politische Organisationen neu ausrichten. Recep etwa schwebt eine neue linke Plattform vor. Doch bis die geschaffen sei, bleibe es weiterhin wichtig, sich im öffentlichen Raum auch gegenüber den Sicherheitskräften Geltung zu verschaffen, sagt er. Es gibt eine neue Dynamik der Proteste in Ankara und damit neue Slogans. Einer davon ist: »Das war erst der Anfang!«