Über den chinesischen Fünfjahresplan

Plane den Markt

In der Volksrepublik China gibt es heute noch einen Fünfjahresplan. Darin werden in erster Linie strategische Industriepolitik und volkswirtschaftliche Prioritäten definiert. Zusätzlich dient er der Regierung in Peking, um die lokalen Regierungen zu disziplinieren und die Kontinuität bei Führungswechseln zu wahren.

Wir befinden uns im dritten Jahr des 12. Fünf­jahresplans, der den Zeitraum von 2011 bis 2015 abdeckt. Korrekt übersetzt, handelt es sich nicht mehr um einen »Plan«, sondern um »Richtlinien«. Heute schreibt die chinesische Regierung ihren Unternehmen und dem ganzen Land nicht vor, wie viele Tonnen Stahl oder Reis produziert werden müssen. In den aktuellen Fünfjahresrichtlinien sind viele allgemeine politische Maßnahmen umrissen und nur wenige konkrete Planziele vorgegeben. Bindend ist allerdings, dass die Bevölkerung bis 2015 nicht mehr als 1,39 Milliarden Menschen umfassen darf. Die Geburtenplanung gehört immer noch zu den strengsten Vorgaben. Auch wichtige Maßnahmen im sozialen Bereich, der Ausbau der Infrastruktur sowie die Reduktion des CO2-Ausstoßes und des Energiekonsums sind als verbindliche Ziele festgelegt. Einige Beispiele: Es soll erreicht werden, dass 90 Prozent der Arbeiter einen Arbeitsvertrag bekommen. Außerdem sollen 36 Millionen neue Apartments gebaut werden, die sich Menschen mit geringem Einkommen leisten können. Der Umfang des Agrarlands darf in den fünf Jahren nicht verringert werden. In der Vergangenheit gab es immer wieder Bauernproteste gegen Landnahme für Industrieprojekte oder wegen zu geringer Entschädigungen.
In den Richtlinien werden aber auch unverbindliche Richtwerte angeben, wie sich China bis zum Jahr 2015 entwickeln soll. Die Regierung hofft, dass das Bruttosozialprodukt jährlich um sieben Prozent wächst, in fünf Jahren 45 Millionen neue Jobs in den Städten geschaffen werden und sich die Lebenserwartung der Chinesen von 73,5 auf 74,5 Jahre erhöht. In diesem Zeitraum soll China sich von der Werkbank der Welt zu einer höheren Stufe in der globalen Produktionskette hoch arbeiten.
Die Entstehung eines Fünfjahresplans, seine Umsetzung und Überwachung sind ein langwieriger und komplizierter Prozess. Er untersteht der mächtigen Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform und am Ende muss der Plan vom chinesischen Volkskongress genehmigt werden. Zur Durchführung ist die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ministerien und Staatsorganen auf allen Ebenen notwendig. Mittlerweile hat sich ein Evaluationssystem für Kader etabliert, die nur befördert werden oder den Posten behalten dürfen, wenn sie bestimmte Zielvorgaben erfüllen, zum Beispiel im Hinblick auf Wirtschaftswachstum, soziale Stabilität sowie Reduktion des Energiekonsums. Einige lokale Regierungen machen eine positive Evaluation von Kadern auch von der Umsetzung der bindenden Ziele des Fünfjahresplans abhängig.
Lea Shih, Politikwissenschaftlerin an der Universität Trier, betont die politische Funktion des Fünfjahresplans. »Er gilt als ein Instrument der Zentralregierung, um für die dezentralen Entscheidungen der subnationalen Regierungen einen politischen Rahmen zu schaffen sowie politische Konstanz zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Regierungswechseln zu gewährleisten.« Der derzeitige Fünfjahresplan begann zwei Jahre vor der Einsetzung des Staatspräsidenten Xi Jinping durch den Volkskongress 2013. Die Nachfolger werden so auf bestimmte Ziele festgelegt, Fraktionskämpfe sollen verhindert werden.

Die chinesische Variante der Planwirtschaft war auch schon unter Mao Zedong wesentlich dezentraler und flexibler organisiert als das sowjetische Vorbild. Bereits in den sechziger Jahren wurden viele Kompetenzen an Provinzregierungen abgegeben. Obwohl es seit 1953 Fünfjahrespläne gab, fand die Planung eher auf jährlicher Basis statt. Alle folgenden Fünfjahrespläne unter Mao wurden nicht so realisiert wie gedacht. Fraktionskämpfe zwischen den Befürwortern des Primats der Schwerindustrie und den Anhängern einer ausgewogenen Entwicklung aller Sektoren führten genauso zur Adjustierung der Pläne wie die Hungersnot 1959 bis 1961 und die Ab- beziehungsweise Zunahme der äußeren Bedrohung durch die USA oder UdSSR. Dieses Wirtschaftsmodell war geeignet, in kurzer Zeit eine nachholende Industrialisierung durchzusetzen, die Grundbedürfnisse der Chinesen konnten bis in die frühen achtziger Jahre jedoch nicht befriedigt werden, und alle lebenswichtigen Güter blieben rationiert. Allerdings gehörten die Kernbelegschaften der Staatsbetriebe zu den Privilegierten und hatten sichere Arbeitsplätze auf Lebenszeit. Deshalb wurde während der Privatisierungswelle der neunziger Jahre von manchen in dieser Schicht die Ära der Planwirtschaft nostalgisch verklärt.

China unterscheidet sich von anderen kapitalistischen Staaten durch eine starke Staatsindustrie in strategisch wichtigen Branchen wie Energie, Finanzen, Telekommunikation und Transport sowie durch das Staatseigentum an Grund und Boden. Auch die Staatsbetriebe müssen profitorientiert wirtschaften. Dieses System nennt sich offiziell »Sozialismus mit chinesischer Besonderheit«. Der Übergang von einer staatlich gelenkten Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild zu einer Marktwirtschaft mit staatlicher Steuerung zog sich von 1979 bis Mitte der neunziger Jahre hin. Politisch legitimierte Deng Xiaoping diese Transformation damit, dass Markt und Plan nicht den Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus reproduzieren würden, sondern nur verschiedene Steuerungsinstrumente seien. Die Entwicklung der Wirtschaft wurde zum Primat erhoben und mit den hohen Wachstumsraten die Ausweitung der Reformen gerechtfertigt.
In den achtziger Jahren diskutierte die Partei über die sowjetische NEP (Neue Ökonomische Politik, 1921 bis 1928) sowie Marktreformen in Ungarn und Jugoslawien. Die Schriften von Nikolai Bucharin, dem wichtigsten Theoretiker der NEP, wurden ins Chinesische übersetzt. Lea Shih argumentiert aber, dass vor allem die Industriepolitik Japans ein wichtiges Vorbild gewesen sei und japanische Berater regelmäßig von der Staatlichen Planungskommission konsultiert worden seien. Shih meint: »Geplante Industriepolitik wurde Ende der achtziger Jahre als eine Übergangslösung zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft eingeführt, um 20 bis 30 Jahre zu überbrücken, bevor eine funktionierende Marktwirtschaft entsteht. In dieser Übergangsphase existieren Plan und Markt in unterschiedlichen Branchen. Diese Phase endet voraussichtlich im Jahr 2020, bis dahin soll eine Marktwirtschaft daraus entstehen, nicht aber der Rückfall in die Kommandowirtschaft.«

Nach Karl Marx könnte man diese Industriepolitik auch als »sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals« bezeichnen, also als die massenhafte Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln mit Hilfe der Staatsgewalt. Obwohl jeder Bürger mit ländlichem Haushaltsregister ein Anrecht auf ein Stück Land zur Nutzung hat, verloren bis 2005 40 Millionen Bauern ihr Land. Da es bis heute kein Privateigentum an Grund und Boden gibt, konnte der Staat ohne Kosten oder gegen nur geringe Entschädigungszahlungen an die Dörfer massenhaft Land zur Verfügung stellen, das für Industrieprojekte, Sonderwirtschaftszonen für ausländische Unternehmen und Infrastrukturmaßnahmen genutzt wurde. Durch das Haushaltsregistersystem schuf der Staat erst die diskriminierte Klasse der »Bauernarbeiter«, deren Arbeitskräfte billig zur Verfügung stehen. Ob die sozialen Konflikte als Folgen dieser Umwälzung bis 2020 ohne den autoritären Staat und seine Planung unterdrückt werden können, bleibt fraglich.