Lucio Urtubia im Gespräch über Anarchismus und die radikale Linke damals und heute

»Anarchistische Ideen sind notwendig«

Über die Aktionen, die ihn berühmt machten, will Lucio Urtubia nicht so gern reden. Dem 82jährigen ist das Heute wichtiger als das Gestern. Bekannt wurde der Maurer, Anarchist und ehemalige Expropriateur, der seit seiner Desertion vom franquistischen Militär in Frankreich lebt, unter anderem für die massenhafte Fälschung von Reiseschecks der Citibank Ende der siebziger Jahre, mit deren Erlösen Guerillas und revolutionäre Bewegungen unterstützt wurden. 2010 erschien eine Autobiographie Urtubias beim Verlag Assoziation A (»Baustelle Revolution. Erinnerungen eines Anarchisten«), und es gibt einen gleichnamigen Film über ihn. Mit der Jungle World sprach Lucio Urtubia über seinen Weg zum Anarchismus und über die radikale Linke heute.

Sie haben ein sehr bewegtes Leben geführt. An welche Aktion erinnern Sie sich am liebsten?
Die Aktion, die mir am liebsten ist und auf die ich sehr stolz bin, ist noch nicht lange her: Ende März gelang es mir, Argi Perurena dem Gefängnis zu entreißen. Dafür musste ich dem Richter an der Strafvollstreckungskammer für Terrorismus beweisen, dass anarchistische Ideen stichhaltig sind. Argi Perurena ist wunderbar – wie ihre Erhebung gegen ein ungerechtes und alltägliches Leben.
Wer ist Argi Perurena? Warum saß sie ein?
Sie war Mitglied der ETA und war seit 14 Jahren im Gefängnis von Rennes in der Bretagne. Ich habe ihr also einen kleinen Arbeitsvertrag ausgestellt, und das Gericht hat das akzeptiert. Das hat mich sehr zufrieden und stolz gemacht. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit dem Richter an der Strafvollstreckungskammer für Terrorismus, einem hohen Tier der Richterschaft. Es gibt zwar Tausende Richter, aber für diesen Bereich gibt es nur den einen, und der entscheidet. Er hatte der Freilassung von Argi Perurena 2012 nicht stattgegeben, weil sie eine bedeutende Anarchistin ist und weil mein Haus, »Espace Louise Michel«, ein Ort der Anarchie ist.
Es ist immer dasselbe, sie haben Angst. Auch Deutschland, das reichste Land der Erde, hat Angst. So viel Angst, dass sie eine Frau von 80 Jahren einsperren, eine Freundin von mir, die 40 Jahre lang in Frankreich gelebt und da nichts Schlimmes gemacht hat. Ich rede von Sonja Suder und ihrem Gefährten Christian Gauger, die seit 2011 in Frankfurt eingesperrt sind. In meinen Augen ist das keine Justiz, das ist Ungerechtigkeit! Schuld sind die französische Regierung, die sie ausgeliefert hat, und die deutsche, die sie einsperrt. Das ist doch unerklärlich, die haben Angst vor einer 80jährigen!
Aber wir können etwas machen, zum Beispiel bei Argi: Da es Proteste gab, hat der Richter mich vorgeladen. Und in der Tat habe ich meine Ideen verteidigt, vor diesem Mann, der ein Verständnis dafür entwickelte. Ich weiß nicht warum, ich hatte wohl Glück. Außerdem spreche ich ja auch nicht gewählt, nicht gebildet. Ich weiß nur, dass der Richter, Herr Lugan, einwilligte, Argi auf Bewährung freizulassen. Und sie arbeitet jetzt seit März mit mir.
Ich sagte dem Richter: Ich bin kein Terrorist. Denn die Leute denken ja, Anarchie ist Terrorismus, Anarchie ist Folklore. Ich bin ein Arbeiter. Ich habe zwei Firmen gegründet, ich habe den »Espace Louise Michel« gegründet, ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, und die Tür meines Hauses, meines kleinen Kulturzentrums, steht immer offen.
Gibt es auch eine Aktion, die Sie bereuen?
Nein, eigentlich nicht. Denn alle meine Aktionen sind Teil meines Lebens – die Niederlagen und die Erfolge. Es hat wirklich Spaß gemacht, die Diebe und Ausbeuter zu beklauen. Das ist Rache. Aber man muss es mit einer gewissen Intelligenz machen, denn wenn man das mit 20 Jahren Knast bezahlt, lohnt es sich wirklich nicht.
Unter welchen Umständen ist Gewalt gegen Menschen legitim? Schließlich haben Sie auch bewaffnete Gruppen unterstützt.
Ich habe 40 Jahre lang Zeit gehabt, gewalttätig, ja sogar Terrorist zu werden. Denn ich hatte das spanische System erlebt, das mich der Gewalt, dem Terrorismus und der Ungerechtigkeit ausgesetzt hat. Aber ich hatte das Glück, nicht in die Spirale der Rache zu geraten. Dennoch war es gerechtfertigt, Gewalt gegen diejenigen einzusetzen, die zuvor gegen mich und die Gesellschaft zur Gewalt gegriffen hatten – als Selbstverteidigung, die legitim und gerechtfertigt ist.
Sie haben gesagt, Sie würden alles noch einmal genauso machen, Sie bereuten nichts. Aber wäre das heute überhaupt noch möglich, oder haben sich die Zeiten geändert?
Ja, die haben sich geändert. Viele Sachen haben sich geändert. Nach den fünfziger und sechziger Jahren zum Beispiel hatten wir – die RAF in Deutschland, die ETA im Baskenland und die Anarchisten überall – die Gewalt der Vergangenheit geerbt. Das war eine bestimmte Epoche, ein Zeitabschnitt.
Heute, denke ich – ich bin kein Richter, der irgendwen verurteilt –, heute aber ist Gewalt in unseren Ländern nicht angebracht, weder in Frankreich noch in Spanien. Wenn ich in Afrika oder im Mittleren Osten wäre, weiß ich nicht, was ich machen und wo ich stehen würde. Aber in unseren Ländern ist das nicht angebracht.
Wie war die Bewegung damals, war sie größer? Sie sagten einmal, dass Sie viel von anderen gelernt hätten und ohne Ihre Genossen nicht der geworden wären, der Sie sind.
Ich hatte nichts und sie gaben mir alles. Was ich heute bin, habe ich den Anarchisten zu verdanken. Sie lehrten mich, vor Dingen den Respekt zu verlieren, die keinerlei Respekt verdienen. Ich hatte vorher nie ein linkes Buch in der Hand gehabt, keine linke Zeitung, keine anarchistische oder revolutionäre, nichts. Es waren die Anarchisten und Anarchosyndikalisten, die mir diese Zeitungen gaben, die sehr viel richtiger waren als alles, was ich zuvor gelesen hatte.
War die anarchistische Bewegung stärker als heute?
Ja, denn die spanische anarchistische Bewegung war sehr stark. Man darf auch die französische résistance nicht vergessen. Und man darf nicht vergessen, was mit den Anarchisten geschah, die von den Deutschen in Frankreich verhaftet wurden – sie wurden alle sofort nach Mauthausen oder anderswohin gebracht. Die Anarchisten hatten einen beträchtlichen Anteil an der Befreiung Frankreichs. Und das ist dort respektiert worden.
Dann aber, denke ich, ist es uns nicht gelungen, das auszunutzen. Natürlich war alle Welt gegen die Anarchos, auch heute ist das noch so. Warum? Weil wir uns nicht verteidigt haben. Ich trete ja seit Jahren auf und verteidige die anarchistischen Ideen, denn sie sind notwendig. Also überall, wo ich hinkomme, selbst wenn die Anarchisten keine Anstrengungen unternehmen, tauchen die anarchistischen Ideen auf. Das liegt einfach an ihrer Notwendigkeit.
War auch die Solidarität damals eine andere?
Natürlich. Da die Leute arm waren, haben sie in und von der Solidarität gelebt. Es gab sehr viele Aktionen, meistens im Kreise der Aktiven. Wir waren die Kämpfe, die Repression und die Unterdrückung gewohnt. Deshalb gab es sehr viel mehr Solidarität.
Welche Möglichkeiten sehen Sie heute für die radikale Linke?
Man kalkuliert tausend Dinge ein, aber nie kommt es so, wie man es vorgesehen hat. Zum Beispiel bin ich mit einigen Entwicklungen in Spanien sehr zufrieden. In Spanien gibt es sehr viel mehr Probleme als in Frankreich oder Deutschland, aber die Leute kommen klar, weil sie keine Alternative haben, und es gibt in sehr vielen Bereichen eine unglaubliche Kreativität, etwa wenn arbeitslose Jugendliche eine Genossenschaft gründen. Man weiß nicht, wohin das führt. Aber ich bin sehr zuversichtlich.
Man sollte nicht vergessen, was in Tunesien passiert ist: Ein Typ, der seine vier Orangen und drei Salatköpfe verkaufte und dem die Bullen sein Wägelchen umgestoßen haben, wurde der Auslöser für Proteste in ganz Tunesien, für die Befreiung dieser Bevölkerung, die sehr viel mehr unterdrückt worden war, als es heute der Fall ist. Das war ein Schritt vorwärts.
So ähnlich wie in den Sechzigern und Siebzigern?
1968 war ich in Frankreich. 1968 war eine Explosion der Freiheit. Die Bewegung der Achtundsechziger begann in Straßburg mit den Situationisten. Die situationistische Bewegung, das waren 30, 40 Leute, vielleicht 100, jedenfalls nichts viele. Aber ihre Ideen waren ganz überraschend, ganz unerwartet, und sie haben der Bevölkerung gefallen. Bei solchen Situationen sage ich immer – ohne dass ich gläubig bin –, dass es Sachen gibt, die über uns hinausgehen, die wir nicht in der Hand haben.
Das Erste, was wir damals machten, war, mit ein paar Dutzend Flugblättern eine freie Versammlung einzuberufen. Für den Abend des 13. oder 14. Mai. Wir rechneten mit 30 Leuten. Wir fanden uns aber wieder in einer Versammlung von 2 000 Leuten. Ich war kein Redner, aber es gab niemanden, der mich hätte ersetzen können. Also, man lernt nie aus. Deshalb habe ich mich später mit Leuten umgeben, die reden konnten, mit Anarchosyndikalisten und Anarchisten. Und sie sprachen und haben ihre Bewegung erklärt.
Ich glaube, ich wiederhole mich: Man muss bereit sein. Denn die Situation, die ich 1968 erlebte, mit 30 Leuten zu rechnen und sich unter 2 000 wiederzufinden, die wird sich in Spanien und an anderen Orten wiederholen, und zwar sehr bald.