Über die Rolle der EU in den Balkan-Staaten

Balkan ohne Alternative

In den Staaten des ehemaligen Jugoslawien ist die EU trotz der Eurokrise erstaunlich beliebt. Doch Kroatien wird vermutlich für lange Zeit das einzige neue Mitglied bleiben.

Es gibt sie noch, die guten Nachrichten für den Euro. Während allenthalben dessen Ende vorhergesagt wird, eilt ihm im südöstlichen Europa noch ein guter Ruf voraus. Dort träumt der kroatische Staatspräsident Ivo Josipović von der neuen Währung: »Wir haben praktisch schon den Euro«, schwärmte er kürzlich in einem Interview. »Mehr als 80 Prozent unserer Ersparnisse sind in Euro angelegt.« Bereits jetzt würden die Preise für Immobilien in Euro genannt und nicht mehr in der Landeswährung. Josipović ist überzeugt, dass die Kroaten schon in drei bis fünf Jahren mit dem Euro zahlen werden. Eine entscheidende Voraussetzung dafür wird am 1. Juli erfüllt: Dann wird Kroatien als 28. Mitglied in die Europäische Union aufgenommen.
Auch in anderen Balkan-Staaten dient der Euro schon seit geraumer Zeit als Leitwährung. In Montenegro wurde bereits Ende der neunziger Jahre die Deutsche Mark eingeführt, die später durch den Euro ersetzt wurde. Allein daran zeigt sich, in welchem Maße die Region abhängig von Europa ist. Nicht nur für Kroatien, sondern auch für die benachbarten Länder bietet die europäische Integration die einzige Möglichkeit, um sich aus einer jahrzehntelangen Stagnation zu lösen.

Europa hingegen betrachtete seine südosteuropäische Peripherie lange Zeit vor allem als Sicherheitsproblem, zu dem man Abstand halten wollte. Dies änderte sich erst, als Ende der neunziger Jahre mit dem Krieg im Kosovo klar wurde, dass die geplante Eurozone nur funktionieren kann, wenn die Union auch außenpolitisch handlungsfähig ist. Der Bürgerkrieg vor der eigenen Haustür und die damit verbundene hohe Anzahl von Flüchtlingen gefährdeten nicht nur die innenpolitische Stabilität in vielen EU-Staaten. Sie zeigten vor allem, dass die Union nicht in der Lage war, die politischen Konflikte in ihrem unmittelbaren Umfeld zu kontrollieren.
Damals begann die EU, eine radikale Wende in ihrer Südosteuropa-Politik einzuleiten. Sie war nun bereit, die Türkei prinzipiell als Beitrittskandidaten zu akzeptieren, und nahm Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien auf. Mit ihren weitreichenden Plänen kam die EU zwar nur langsam voran. Insbesondere die Gespräche mit der Türkei stockten immer wieder, eine klare Beitrittsperspektive hat sie bis heute nicht. Doch im westlichen Balkan hat die EU einige ihrer Ziele durchgesetzt. Die meisten Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sind mittlerweile wieder in ihre Herkunftsländer abgeschoben, und die Transferrouten sind unter anderem mit Hilfe des Schengener Abkommens versperrt. Nach der Unabhängigkeit des Kosovo kann Deutschland mit den Sinti und Roma nun die letzte große Flüchtlingsgruppe leichter ausweisen.

Dabei zeigt sich gerade am Beispiel des Kosovo, wie Europas Strategie, den eigenen Hinterhof zu befrieden, erfolgreich war und dennoch gescheitert ist. So konnte zwar der Krieg beendet werden, aber nur um den Preis, dass mit dem Kosovo ein ethnisch homogener Staat geschaffen wurde, der in vielerlei Hinsicht den europäischen Standards widerspricht. Selbst der völkerrechtliche Status des Kosovo ist nach wie vor umstritten. Rund die Hälfte der Uno-Mitgliedsstaaten erkennt den Kosovo nicht als souveränen Staat an, darunter sind auch die EU-Mitglieder Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern.
Wie Montenegro verwendet auch der Kosovo den Euro als gesetzliches Zahlungsmittel. Das ist nicht verwunderlich, denn wirtschaftlich ist der neue Staat fast vollständig auf ausländische Finanzhilfen angewiesen, sei es durch Überweisungen der Arbeitsmigranten, Kredite von europäischen Institutionen oder durch die Kaufkraft der zahlreichen Mitarbeiter internationaler Organisationen, die im Kosovo beschäftigt sind. Besonders deutlich zeigen sich dort die Probleme, die auch in den anderen Balkanstaaten existieren. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent, die politische Elite gilt als korrupt, das Bildungswesen als katastrophal.
Die ökonomische Abhängigkeit hat sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt. Gab es nach dem Ende des Kosovo-Kriegs einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung, so ist es damit seit Beginn der Staatsschulden- und Finanzkrise vorbei. Die Finanzhilfen aus Brüssel sind seitdem weitaus spärlicher, viele Unternehmen erhielten keine Kredite mehr und mussten schließen. Vor allem aber kämpfen die Balkan-Staaten mit den gleichen strukturellen Problemen, unter denen auch andere südeuropäische Länder zu leiden haben. Sie führen wesentlich mehr Waren ein, als sie exportieren, und sind hoch verschuldet. Selbst Slowenien, das als bisher einziger Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien sowohl Mitglied der Europäischen Union wie auch der Eurozone ist, drohte zeitweise der Staatsbankrott. »In den meisten Westbalkan-Staaten hat das von der EU, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen internationalen Partnern gepriesene Transitionsmodell versagt«, urteilt Dušan Reljić von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die weitgehende Privatisierung der Wirtschaft und die massive Aufnahme von Krediten im Ausland hätten nicht den versprochenen Modernisierungs- und Exportschub bewirkt. Im Gegenteil: Weite Teile der Realwirtschaft seien untergegangen und der aufgeblähte Handels- und Dienstleistungssektor sei nicht ertragreich genug, um die Schulden zu bezahlen und neues Wachstum zu ermöglichen.

Hinzu kommt, dass die meisten Länder kaum über soziale Sicherungssysteme verfügen, um den Auswirkungen der Krise zu begegnen. Von Massenprotesten wie in Griechenland oder Portugal ist aber kaum etwas zu sehen. Die Bevölkerung wählt meist einen anderen Weg: Wer sich mit der Misere nicht abfinden möchte, dem bleibt oft nur die Auswanderung oder eine Beschäftigung in der prosperierenden Branche der organisierten Kriminalität.
Die prekäre wirtschaftliche Lage begünstigt zudem nationalistische und autoritäre Tendenzen. In Mazedonien ließ die Regierung Ende vergangenen Jahres kurzerhand Oppositionsabgeordnete aus dem Parlament werfen, damit sie einen verfassungswidrigen Haushalt verabschieden konnte. Auf der Rangliste der Pressefreiheit rangieren Bosnien, Montenegro und Albanien weit abgeschlagen. Die Europäische Union steht damit vor dem Dilemma, die rechtsstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen erst aufzubauen zu müssen, mit denen sie eigentlich den Integrationsprozess bewältigen will.
Ungelöste Grenzkonflikte und der problematische Umgang mit Minderheiten in einigen Ländern kommen noch erschwerend hinzu. So hat die EU-Kommission im Oktober 2009 zwar die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien empfohlen, ein entsprechender Beschluss des EU-Rates steht aber noch aus. Insbesondere Griechenland stellt sich nicht zuletzt wegen des ungelösten Namensstreits mit Mazedonien quer. Offiziell wird das Land von der EU deshalb als »ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien« bezeichnet. Wegen der diskriminierenden Behandlung der bulgarischen Minderheit in Mazedonien blockiert auch die Regierung Bulgariens weiterführende Verhandlungen.

Immerhin konnte die EU im März vergangenen Jahres einen spektakulären Erfolg verbuchen, als Serbien den Status eines Beitrittskandidaten erhielt. Möglich wurde dies, weil mit der Festnahme des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić eine wesentliche Forderung der EU erfüllt wurde. Bevor der Grenzkonflikt mit dem Kosovo nicht beigelegt ist, will Deutschland jedoch keine konkreten Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Die Aussichten der anderen Staaten sind noch ungewisser. Die Verhandlungen mit Montenegro haben Ende Juni 2012 begonnen, von insgesamt 33 Kapiteln sind aber erst zwei abgeschlossen. Der Kosovo und Bosnien-Herzegowina haben noch keinen offiziellen EU-Beitrittsantrag gestellt, sie gelten als »potentielle Kandidaten«.
Gut möglich also, dass Kroatien für lange Zeit das einzige neue EU-Mitglied bleiben wird. Umso erstaunlicher ist, dass sich die Europäische Union weiterhin großer Beliebtheit in der Region erfreut. Nach wie vor sind Umfragen zufolge bis zu 60 Prozent der Bevölkerung für einen Beitritt ihrer Länder. Sie hoffen weiterhin darauf, dass irgendwann der Beitritt kommt. Viel mehr bleibt ihnen derzeit auch nicht übrig. Eine Alternative zu Europa gibt es für sie schließlich nicht.