Eine Graphic Novel erzählt die Geschichte der Tour de France

Die Helden der Straße

Am 29. Juni beginnt das härteste Radrennen der Welt: Eine Graphic Novel erzählt die Geschichte der Tour de France.

Vielleicht hat es ja etwas mit den Bildern zu tun, dass die Tour de France partout nicht totzukriegen ist. Schaut man sich nämlich an, wie oft in den vergangenen 15 Jahren das Ende der Veranstaltung prophezeit wurde – die Zeitung Libération hat sogar mal eine Art Todesanzeige veröffentlicht –, muss man feststellen, dass das Ereignis doch fest im harten Sessel hockt. Und die Bilder, die auch diesen Sommer wieder zu sehen sein werden, vor allem durch die Live-Übertragungen etwa von Eurosport, zeigen vieles: französische Landschaft, satte, grüne Wiesen, Burgen, Städte und Dörfer und Menschen, die das Ereignis möglichst nah an sich heranlassen. Man sieht vor Leidenschaft völlig entrückt erscheinende Fans, die an Bergstraßen stehen und neben ihren Helden herlaufen, bis sich der Unterschied zwischen professionellem Sportler und amateurhaftem Anfeuerer nach wenigen Metern manifestiert – das ist jede Menge Leben.
Es sind frei verfügbare Bilder, von deren Authentizität sich jeder jederzeit überzeugen kann: Um die Tour de France nämlich live zu erleben, muss man – anders als bei den meisten anderen Sportarten – keinen Eintritt zahlen, es ist eine urdemokratische Veranstaltung, die Helden pflegen ein proletarisches Arbeits- und vielleicht auch Opferethos und sind dabei hautnah zu erleben. Jürg Altwegg formulierte jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Fußball ist zu einer mondänen Veranstaltung geworden, die Tour de France ein proletarischer, zumindest ein äußerst populärer Anlass geblieben.« Die Tour sei auch ein »Hort des Widerstands gegen die virtuellen Welten«. Alles, was der Tour de France vorgeworfen wird – allen voran ihre Kommerzialisierung und das Doping –, spiegelt sich nicht in Bildern, ist nicht augenfällig und offensichtlich. Vielleicht erzählt der niederländische Zeichner Jan Cleijne deshalb nun die Geschichte dieses sportlichen Faszinosums mit den Mitteln einer Graphic Novel.
Vom Beginn im Jahr 1903, als der Zweck der Frankreich-Rundfahrt vor allem in der Werbung für die Zeitung L’Auto bestand, bis zur Gegenwart, wo die Tour unter anderem dem Vorwurf der Kommerzialisierung ausgesetzt ist. Cleijne leugnet nicht, dass sein Blick auf die Veranstaltung von den Medienbildern bestimmt ist, deren er sich bedient: Wie selbstverständlich wird die Anfangszeit der Tour in Schwarzweiß gezeichnet, ganz so, wie sie uns Fernsehzuschauern präsentiert wurde. Cleijnes Interesse gilt nicht so sehr der chronologisch genauen Wiedergabe der vielen Facetten eines solchen Weltsportereignisses, er zeigt vielmehr, wie die Tour Helden produzierte und was die Gesellschaft in der Tour erkennt. Der ungewöhnliche Titel der deutschen Ausgabe, »Unmöglich ist kein französisches Wort«, deutet das Anliegen an, klarer wird es im niederländischen Originaltitel: »De helden van de Tour«. Entsprechend fängt Cleijne zeichnerisch die Helden ein und die, die sie zu Helden machen: Publikum und Medien. Anschaulich wird, warum das Gelbe Trikot des Führenden im Gesamtklassement ausgerechnet 1919 eingeführt wurde, als die Tour nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu neuer Größe geführt werden sollte und neue Helden gebraucht wurden. Nicht minder anschaulich wird, warum im Jahr 1930 nicht nur erstmals eine – dem Peloton bis heute vorweg fahrende – Werbekarawane installiert, sondern auch für einige Jahre die Regel durchgesetzt wurde, dass nicht Werkteams, sondern Nationalmannschaften an den Start gehen müssen. Cleijnes Bilder zeigen sogar sehr überzeugend, warum die Nationalmannschaftsidee zwar in die dreißiger Jahre passte, aber von der Kraft des kapitalistischen Weltevents später verschluckt wurde wie ein Ausreißer auf einer Flachetappe.
Man ahnt auch, warum die Geschichten über die Ernährung der Helden – ob sie viel Alkohol trinken, sich gesund ernähren und, in den Berichten der jüngeren Zeit, ob sie dopen – solch einen Stellenwert haben: Man will nämlich wissen, warum die Menschen das können, was doch scheinbar das menschliche Leistungsvermögen übersteigt. Cleijne zeigt auch, dass die Helden stets Antagonisten brauchten, um als Helden wahrgenommen zu werden: Coppi vs. Bartoli, Anquetil vs. Poulidor, Merckx vs. Thevenet, Hinault vs. Zoetemelk oder Fignon vs. Lemond, der sich später, sponsorenfreundlich, »LeMond« nannte.
Gerade weil der Zeichner mit künstlerischen Mitteln das Besondere der Profis, ihre Charaktere, ihr gesellschaftliches Umfeld und ihre Schwierigkeiten bei der Tour zeigt, offenbart sich, dass die Helden der Tour immer Typen sind, die auf je unterschiedliche Weise veranschaulichen, wie man sich mit den kapitalistischen Zumutungen arrangieren kann.
Das gehört nämlich auch zur Wahrheit über die Tour: Dass der Druck, der auf den Fahrern lastet, seit Beginn der Tourgeschichte immens ist. Dass Todesfälle – wie etwa der Tod von Tom Simpson an den Folgen des Doping oder Fabio Casartellis nach einem Sturz – dem Druck geschuldet sind, dem die Fahrer sich aussetzen. Und dass das wiederum ein Grund ist, warum die Menschen in der Tour de France so viel Leben, so viel Gesellschaft, so viel Welt erkennen.
Kurz vor Ende, nachdem schon Lance Arm­strongs legendäres Interview mit Oprah Winfrey gezeigt worden war, zeichnet Cleijne einen Massensturz und lässt aus einem Lautsprecher via Sprechblase die Botschaft ertönen: »Achtung! Im modernen Radsport ist das Peloton zu Fall gekommen. Das Publikum schaut entsetzt zu und fühlt sich von seinen Helden betrogen. Nach 99 Ausgaben der Tour de France stellt man sich die Frage: Wie soll es weitergehen?«
Die Antwort folgt in Bildern: Wie im Leben und wie im Radsport stehen die Menschen wieder auf, rappeln sich hoch, sortieren sich und sind zum Neustart bereit. »Aber die Tour geht von selbst weiter mit neuen Teams, neuen Fahrern, neuen großen Vorhaben«, heißt es.
Am 29. Juni beginnt nach 110 Jahren die 100.Tour de France. Vor einem Jahr, als die nicht gerade selten totgesagte Tour wieder über Frankreichs Straßen rollte, wurde sie in 190 Ländern der Erde übertragen, erreicht wurden so dreieinhalb Milliarden Menschen, und zwölf Millionen Menschen standen am Straßenrand. »Wer eine Todesanzeige im Format einer ganzen Zeitungsanzeige überlebt«, heißt es bei Altwegg in der FAZ, »ist noch für einige Zeit unsterblich.« So sei es auch diesen Sommer.

Jan Cleijne: Unmöglich ist kein französisches Wort. Die Geschichte(n) der Tour de France. Covadonga-Verlag, Bielefeld 2013, 144 Seiten, 19,90 Euro