Wong Kar-Wais Film »The Grandmaster« ist eine Hommage an Bruce Lee

Die Zärtlichkeit im Kampf

Wong Kar-Wai verbeugt sich mit »The Grandmaster« vor dem legendären Mentor Bruce Lees.

Wong Kar-Wai ist einer der ganz Großen des sogenannten World Cinema. Wie andere asiatische Regisseure, etwa Kim Ki-Duk aus Südkorea und Takeshi Kitano aus Japan, hat er populäre Genres wie den Gangsterfilm revolutioniert. Begonnen hat er seine Karriere als Drehbuchautor für das wie am Fließband produzierte und durch Regisseure wie John Woo und Stephen Chow bekannte Hongkong-Action-Kino. Damals kannte der Hongkong-Film keine epische Heldenerzählung, sondern lebte von einer fast zirkusartigen Inszenierung, in der Schießereien und Explosionen zu einem affektiven Spektakel wurden, das Genre wurde so zu einem modernen Nachfolger des Kung-Fu-Films.
Bereits in seinem Debütfilm »As Tears Go By« (1989) deutete sich an, dass Wong seine ganz individuelle filmische Sprache finden würde. Der von Martin Scorseses frühem Klassiker »Mean Streets« (1973) beeinflusste Erstling blieb lange Zeit sein erfolgreichster Film innerhalb Asiens. Die Geschichte eines Gangsters, der seinen besten Freund vor dem harten Leben der Straße schützen will, verbindet er mit Anekdoten über eine tragische Liebesgeschichte. Anstatt die Leinwand mit Explosionen zu überziehen, setzte er expressionistische Kameraeffekte und schräge Überblendungen ein, um die Linearität der Erzählstruktur zu unterlaufen. In fast Proustscher Weise sollte die Vergänglichkeit das Haupttema seines filmischen Werkes werden. Sein zweiter Film »Days of Being Wild« (1990), der in den sechziger Jahren angesiedelt und so etwas wie ein asiatisches Lost-Generation-Drama ist, floppte zwar am Box-Office, wurde von der Kritik jedoch gefeiert.
Sein Durchbruch gelang mit den Filmen »Chungking Express« (1994) und »Fallen Angels« (1995), die während derselben Produktionsphase entstanden sind. Die Filme sind eine Liebeserklärung an den hektischen Melting Pot Hongkong und variieren das Erzählmotiv der gescheiterten Liebe in vielen kurzen, nur lose miteinander verbundenen Episoden. Dabei werden Merkmale des Film Noir, der Nouvelle Vague, des Melodrams und der zeitgenössischen MTV-Ästhetik zu einem visuellen Gedicht über die Einsamkeit in der Großstadt verknüpft. Neben den Lieblingsdarstellern des Regisseurs wurde auch der geniale Kameramann Christopher Doyle Teil des Wong-Kar-Waischen Ensembles. Seine spielerische Handkameraführung, die die improvisierten Szenen der Darsteller mit virtuoser Leichtigkeit einfängt, wurde zu einer Signatur des Kinos Wong Kar-Wais.
Die immer mal wieder aufflammenden Gerüchte über die sexuelle Orientierung des Regisseurs wurden auch durch »Happy Together« (1997) genährt, eine tragische schwule Liebesgeschichte in Buenos Aires. Völlig zu Recht wurde er für seinen Film im selben Jahr in Cannes zum besten Regisseur gekürt. Mittlerweile waren auch seine Lieblingsdarsteller Tony Leung und Maggie Cheung zu internationalen Stars geworden. Einen weiteren Beweis ihrer Kunst lieferten sie in dem Melodram »In The Mood For Love« (2000), in dem die Liebenden durch ein nostalgisch entrücktes Hongkong taumeln.
Asiatische Filmkritiker wie Ackbar Abbas meinen, Wongs eigentliches Thema sei das Ende einer Epoche nahezu anarchischer Freiheit in Hongkong. Paradoxerweise entwickelte die Kronkolonie unter den Briten große Autonomie. Westliche und östliche Kultur trafen sich in der Metropole und bildeten ein für den asiatischen Raum seltenes kulturelles Hybrid. Es ist bemerkenswert, dass Wongs künstlerische Entwicklung in der Phase der Übergabe der Kolonie an China stagnierte. In der Zeit nach der offiziellen Übergabe Hongkongs an China 1997 hatte er offenbar kaum noch neue Ideen. Es schien, als bedeute die Übergabe an China auch das Ende seiner Kreativität.
Der Film »2046« aus dem Jahr 2004 wirkt wie eine ambitionierte, aber diffuse Wiederaufbereitung bereits verbrauchter Motive; seine einzige amerikanische Produktion, »My Blueberry Nights« (2007), kann man getrost als seinen künstlerischen Tiefpunkt bezeichnen. Es hat mehr als ein halbes Jahrzehnt gedauert, bis er mit seinem 2013 uraufgeführten »The Grandmaster« ein neues Kapitel beginnen konnte. Der als Historienepos verkleidete Kung-Fu-Film ist nicht umsonst seine im chinesischen Kino kommerziell erfolgreichste Arbeit. Auch Tony Leung ist wieder mit von der Partie und spielt den Kung-Fu-Meister Ip Man, der an den sagenumwobenen Lehrmeister von Bruce Lee erinnert. Nach Aussage von Wong ist die Figur des Leung als Mischung aus Bruce Lee und dessen Lehrer angelegt.
Anders als im westlichen Kino spielen in Asien die großen Stars ihre Kampfszenen selbst und lassen sich nicht von einem Stuntman doublen. Leung soll sich während der Dreharbeiten zwei Knochenbrüche zugezogen haben. Nicht nur wegen der anspruchsvollen Kampfszenen, denen ein mehrjähriges Training der Darsteller vorausging, dauerten die Dreharbeiten mehr als drei, die Vorbereitungen mehr als zehn Jahre. Wong ist bekannt dafür, dass er nicht chronologisch dreht und die Aufnahmen erst nach einer langen und von vielen Pausen unterbrochenen Phase des Nachdenkens endgültig zusammenfügt. So wurde der Film auch erst 72 Stunden vor seiner Weltpremiere auf der Berlinale 2013 fertiggestellt. Dennoch wirkt der Film überraschend stimmig. Mit seiner zurückhaltenden Farbgebung ist er im Vergleich zu anderen Filmen des Regisseurs fast minimalistisch.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1936. In Foshan, einem Zentrum der chinesischen Kampfkunst, verabschiedet sich Gong Bao-Sen, der weise Vertreter der nordchinesischen Kampfkunstschule, in seinen Ruhestand mit einem Kampf gegen den besten Kämpfer aus dem Süden des Landes. Sein Gegner, Ip Man, gewinnt jedoch das Duell. Gong Er, die Tochter des alten Meisters, ist wütend darüber und fordert ihrerseits Ip Man zum Kampf heraus, um ihre Familienehre zu verteidigen. In enger Zusammenarbeit mit Kameramann Philippe Le Sourd und einem millimetergenauen Schnitt inszeniert Wong den Fight als einen kunstvollen und anmutigen Tanz. Anders als in den meisten Filmen dieses Genres sind die akrobatischen Kung-Fu-Szenen nicht aus weiter Entfernung gefilmt. Die Nähe der Kamera bewirkt, dass die Szenen des Kampfes nicht wie Zirkusnummern erscheinen, sondern von subtiler Intimität geprägt sind. Die Kamera fokussiert einzelne Bewegungen, und die kunstvoll ausgeführten Moves fügen sich zu einer Poetik des Gestischen. Die minutiöse Choreographie der sich berührenden Körper der Kämpfenden wird unterlegt mit dem rhythmischen Atem der beiden. Wong inszeniert den Kampf als eine mal obsessive, mal zärtliche Begegnung. Folgerichtig verlieben sie sich nach dem Duell ineinander.
Ein Jahr nach dem Kampf beginnt im Norden Chinas der Krieg gegen Japan. Ip Man und seine Geliebte Gong Er können einander nicht mehr treffen und schreiben sich Briefe. Erneut beschäftigt sich Wong mit dem Motiv der nicht erfüllten Liebe, von der in großen und oft verwirrenden Zeitsprüngen über Jahre hinweg erzählt wird. Ip Man stammt aus wohlhabenden Verhältnissen, verliert aber sein Hab und Gut und hat von nun an Mühe, seine Familie zu ernähren. Tony Leung spielt den tragischen Helden mit einer für westliche Stars fast schon ungewöhnlichen Eleganz, die ihn seiner Kampfkünste zum Trotz als sensibel und verletzbar ausweist. Leider verknoten sich die Erzählstränge zwischen den vielen elegischen Kung-Fu-Szenen, so dass man den Überblick über die Story verliert. Nicht ohne Grund enthält das Presseheft eine Zeitleiste zur Orientierung über den historischen Hintergrund. Diese Informationen hätte man wohl auch an das Kinopublikum verteilen sollen. Ohne das nötige Wissen wirkt die elegante visuelle Oberfläche des Filmes bisweilen undurchdringlich. Sehenswert ist »The Grandmaster« trotzdem. Kunstvoller wurde ein Kung-Fu-Film selten inszeniert.

Wong Kar-Wai: The Grandmaster. Filmstart: 20. Juni

Tim Stüttgen starb am 13. Mai 2013. Dies ist der letzte Text, den er für die »Jungle World« geschrieben hat.