Über die Demonstrationen in Brasilien und ihre Hintergründe

Es ging nie nur um 20 Centavos

Die Proteste in Brasilien richten sich nicht nur gegen Tariferhöhungen im Nahverkehr.

Blaue Stunde am Donnerstag vergangener Woche im Zentrum von Rio de Janeiro: Geschäfte verschwinden hinter ratternden Rollgittern, Stöckelschuhe klappern über das Pflaster, vorbei an den heute verwaisten Feierabendbars. Deutlich belebter ist es vor dem Institut für Philosophie und Sozialwissenschaften (IFCS) der Bundesuniversität (UFRJ). Junge Menschen kommen an, finden bekannte Gesichter, umarmen sich, malen Plakate, rauchen, bekommen Plakate geschenkt, füllen Essigflaschen um, schreiben SMS und machen noch schnell ein Gruppenfoto vor dem Universitätsgebäude. Niemand ahnt, dass dieses Gebäude in nur fünf Stunden im Tränengasnebel verschwinden wird, der die verbleibenden Protestierenden der vielleicht größten Demonstration in der Geschichte Rio de Janeiros vertreiben soll.
Landesweit waren an diesem 20. Juni in Brasilien mehr als eine Million Menschen auf den Straßen. Evangelikale Großkundgebungen nicht mitgezählt, war es seit den Demonstrationen für die Amtsenthebung des damaligen Präsidenten Fernando Collor de Mello im Jahr 1992 die größte Mobilisierung der jüngeren Geschichte. Doch während vor 21 Jahren die Arbeiterpartei (PT) und die Gewerkschaften die Proteste mit ihren roten Fahnen anführten, kam das bunte politische Spektrum diesmal fast ohne das klassische Kolorit der etablierten Linken aus. In unparteiischem Schwarzweiß hatte zehn Tage zuvor die Bewegung für einen kostenlosen Fahrschein (MPL) ihre Kundgebungen organisiert, die sich gegen Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr um 20 Centavos (umgerechnet etwa sieben Cent) in zahlreichen Städten richteten, mit denen der gerade stattfindende Confederations Cup, die 2014 anstehende Fußball-WM der Herren und die für 2016 geplanten Olympischen Spiele zum Teil finanziert werden sollen. »Doch auch wenn das MPL zweifellos den Funken für die jetzigen diffusen Proteste geliefert hat, wird übersehen, dass es uns nie um 20 Centavos ging, sondern um eine gänzlich kostenlose Nutzung der Nahverkehrsmittel«, sagt Elisa, eine linke Aktivistin. Sie empfiehlt einen Blick auf das Logo des 2005 auf dem Weltsozialforum gegründeten Netzwerks. Zu sehen ist ein Strichmännchen, das entschieden eines der Drehkreuze zertritt, an denen in Stadtbussen gemeinhin der Fahrpreis kassiert wird.

Ganz neu ist die Forderung nicht. Sie sei eine autonome Aneignung des Nulltarif-Konzepts der ehemaligen sozialistischen Bürgermeisterin São Paulos, Luíza Erundina, aus dem Jahr 1990, das durch eine großangelegte Steuerreform finanziert werden sollte, beschreibt Elisa die zugrundeliegende politische Idee, die viele bis heute für utopisch halten. Auch Patricia, eine Bühnenbildnerin, die für die Produktion von Telenovelas zwischen Rio und São Paulo pendelt, spürt zwischen ihren Arbeitskollegen und -kolleginnen wenig Begeisterung für einen radikalen Wandel im Nahverkehr. »Außer mir fährt niemand Bus und Bahn, sie verschulden sich lieber für einen Autokauf«, meint sie. Den großen Zulauf zu den Demonstrationen erklärt sie sich deshalb eher als Reaktion auf das brutale Vorgehen der Polizei gegen eine am 13. Juni vom MPL angeführte Demonstration in São Paulo und mit dem Bedürfnis, »eine diffuse Unzufriedenheit zu artikulieren, die wenig mit Busfahren zu tun hat«.
Diesen Frust brachten viele Menschen an den kommenden Tagen zu den Protestmärschen mit. Die Forderung nach Reformen im Nahverkehr wurde zu einer unter vielen. Die Angebote der Bürgermeister von Rio und São Paulo, die eingeführten Tariferhöhungen rückgängig zu machen, verpufften, auch wenn die Realo-Fraktion der MPL den Etappensieg feierte. Transparente mit Forderungen wie »Klarheit über die Gewinne der privaten Busunternehmen« sind in Rio am Donnerstag vergangener Woche eine Seltenheit. Viele Plakate greifen dagegen eine Beschlussvorlage des Präsidenten der parlamentarischen Menschenrechtskommission, des erzkonservativen evangelikalen Pastors Marco Feliciano, an, die »Behandlungen gegen Homosexualität« vorsieht. »Liebe ist unheilbar« ist deshalb ein beliebtes Thema der Proteste, auch gern variiert als »Mein Arsch gehört mir, Felicianus!« Außerdem werden auf Transparenten und Schildern die Legalisierung von Marihuana und der Baustopp des Staudamms Belo Monte gefordert, überdies soll mehr Geld in das Bildungs- und Gesundheitswesen statt in sportliche Großveranstaltungen gesteckt werden.
»Stark zugenommen haben aber auch Parolen, die direkt die Regierung angreifen oder gegen die politische Klasse und die Parteien wettern«, ana­lysiert Paula, eine der wenigen Aktivistinnen der Landlosenbewegung MST, die heute auf der Demonstration zu sehen sind. »Vor allem die Rechte versucht, die Massenproteste in eine Regierungskrise umzudeuten«, meint sie. »Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Menschen wirklich eine andere Regierung wollen. Aber sie wollen gehört werden und eine andere Politik.« Eduardo Paes, der Bürgermeister von Rio, dessen zentristische »Partei Demokratische Brasilianische Bewegung« (PMDB) Teil der Regierungskoalition ist, zeigt sich an diesem Abend jedoch wenig gesprächsbereit. Bereits einige Blocks vor dem Rathaus empfangen Reiterstaffeln die Hunderttausenden Protestierenden, aus Seitenstraßen schießen Polizisten Gasgranaten in die friedliche Menge. Links stehen Mauern, rechts liegt ein offener Abwasserkanal. Als die Straßenbeleuchtung ausfällt, bricht Panik aus. Mit »Nicht rennen, nicht rennen«-Sprechchören, gelingt es, wieder etwas Ruhe herzustellen. Langsam trotten die Demonstrierenden den Weg zurück in Richtung Stadtzentrum.

Doch auch innerhalb des Demonstrationszugs wird die Stimmung ungemütlicher. Kahlgeschorene, muskelbepackte Männer lassen auf freien Oberkörpern Tattoos sehen, die an das Eiserne Kreuz erinnern. Parteien wie die sozialistische ­P-SOL berichteten in den vergangenen Tagen immer wieder von Übergriffen solcher mutmaßlicher Nationalisten auf Demonstrierende, die Fahnen linker Parteien trugen. Der MPL in São Paulo verkündet vor allem wegen der rechten Angriffe noch am selben Abend seinen Abschied von den Demonstrationen.
Immer öfter gehen jetzt Scheiben zu Bruch, Ampeln werden umgestürzt. Die Lage wird unübersichtlich. Nur wenige Blocks entfernt sollen gepanzerte Fahrzeuge im Einsatz sein. Die Detonationen der Gasgranaten werden häufiger und lauter, die Demonstrierenden auch. »Es wird keine WM geben«, skandieren sie, oder: »Das ist kein Vandalismus, sondern Revolte.« An einzelnen Straßenecken brennen Mülleimer oder kleinere Barrikaden, die an Lagerfeuer erinnern. Diejenigen, die gerade keine Bushaltestellen und Fenster zerlegen, drängen sich in der Straßenmitte zusammen. Als die Wagen der Aufstandsbekämpfungseinheit auf der Hauptstraße auftauchen, ist klar, dass ab jetzt alle Gejagte sind. Erneut wird auch von scharfen Waffen Gebrauch gemacht.
Die Demonstrierenden hasten durch Seitenstraßen. Angst ist auf den Gesichtern zu sehen, Schüsse und Explosionen sind zu hören. Am Ma­rinestützpunkt am Hafen herrscht dann plötzlich völlige Stille. Viele bleiben erschöpft stehen oder liegen. Ein großer Fehler, denn nur fünf Minuten später kesseln Polizisten den Platz ein. Eine andere Gruppe hat es geschafft, einen Bus zu stoppen. Drinnen ist es unerträglich heiß, doch wegen des Tränengases bleiben alle Fenster geschlossen. Essigflaschen werden herumgereicht, um das Atmen zu erleichtern. Auf den Monitoren wirbt das Tourismusministerium mit Strandlandschaften. Der Fahrer muss die Route ändern, in den südlichen Teil der Stadt ist wegen der Polizeieinsätze gerade kein Durchkommen mehr. Alle klatschen und jubeln, als sie den zentralen Busbahnhof erreichen.

Erst am späten Freitagabend, nachdem in vielen Städten erneut große Demonstrationen stattgefunden haben, meldet sich die Präsidentin Dilma Rousseff (PT) mit einer Fernsehansprache zu Wort. Sie verspricht den Protestierenden, den öffentlichen Nahverkehr zu fördern, künftig die Abgaben der Erdölkonzerne zu 100 Prozent in das Bildungswesen zu investieren und ausländische Ärztinnen und Ärzte für das öffentliche Gesundheitssystem anzuwerben. »Wir werden uns diese Vorschläge genau anschauen und dann reagieren«, meint Renato vom »Bürgerkomitee WM und Olympiade in Rio«, das die Vorbereitung der sportlichen Großereignisse kritisch verfolgt. In Belo Horizonte und São Paulo, ebenfalls Austragungsorten, gründeten sich am Wochenende Stadtteilkomitees, um das weitere gemeinsame Vorgehen zu beraten.
Die landesweite Vertretung des MPL erklärt derweil ihren Rücktritt vom Rücktritt und verspricht, weiterhin mit linken Gruppen und Strömungen zusammenzuarbeiten und Aktionen zu organisieren. »Ein wichtiges Thema wird sein, wie sich politisches Sektierertum vermeiden lässt«, meint Elisa. Die Bekämpfung der extremen und gemäßigten Rechten sei ebenso wichtig wie eine erneute Politisierung der sozialen Bewegungen, die nach dem Regierungsantritt der PT 2003 in gewisser Weise Teil der Regierungskoalition wurden. Auch die Studierendenorganisationen werden stärker in Erscheinung treten, ist sich Paula vom MST sicher. Zuvor hofft sie jedoch auf rege Beteiligung an der »Roten Welle«, einer gemeinsamen Demonstration von PT, MST und Gewerkschaften, die am Donnerstag dieser Woche die amtierende Regierung vor allzu harscher Kritik aus dem rechten Lager schützen soll.
Mit selbstgemachten Meinungsumfragen bemüht sich die konservative Tageszeitung Folha de São Paulo bereits darum, die anhaltenden Proteste auf ihre Weise zu instrumentalisieren. Der Durchschnittsdemonstrant sei parteilos, habe einen höheren Bildungsabschluss, sei dem politischen Zentrum zuzurechnen, gegen einen kostenlosen Nahverkehr und vor allem auf der Straße, um gegen die Korruption zu protestieren. Befragt wurden für die Erstellung dieses »Profils, das aufdeckt, wie die Demonstrierenden denken«, gerade einmal 551 Passanten.