Über die Darstellung von Transsexualität im Film »Laurence Anyways« von Xavier Dolan

Liebe und Revolution

Xavier Dolan inszeniert in seinem Film »Laurence Anyways« nicht die Transsexualität des Protagonisten als Drama, sondern den Kampf des Liebespaares um das Fortbestehen seiner Beziehung.

The sky is the limit«, heißt es an einer Stelle des Films über die Liebe zu einem Transsexuellen. Auch für den 23 jährigen Regisseur Xavier Dolan scheint es auf dieser Welt keine künstlerischen Grenzen zu geben, schließlich ist sein beinahe dreistündiges Filmepos »Laurence Anyways« bereits das dritte Werk des als neues Regiewunder gefeierten Schulabbrechers. Und welch ein filmisches Feuerwerk ist das! Daneben wirken die jüngsten Filme Pedro Almodóvars, mit dem Dolan ver­glichen wird, wie das Alterswerk eines allzu versierten, an leichten Ermüdungserscheinungen leidenden Großonkels. Vielleicht wählte Dolan wegen dieses häufig strapazierten Vergleichs, der wieder in der Luft lag, weil sich auch Almodóvar in seinen Filmen »La mala educación« und »Die Haut, in der ich wohne« mit dem Thema Transsexualität beschäftigt hat, das ungewöhnliche 4:3-Format. Das hatte Almodóvar zumindest bisher nicht im Repertoire. Tatsächlich eignet sich die enge Bildbegrenzung des Aca­demy-Formats perfekt für die Erkundung der intimen Gefühlsregungen seiner die Herzen der Zuschauer ergreifenden Protagonisten. Nach seinem großartigen Filmdebüt »I Killed my Mother«, (2009), das er im Alter von 19 Jahren drehte, und seiner lässig-wahrhaftigen Dreiecksgeschichte »Herzensbrecher« (2010) lieferte der ehemalige Kinderdarsteller und Selfmade-Regisseur mit »Laurence Anyways« bei den Filmfestspielen in Cannes 2012 in der Reihe »Un Certain Regard« ein leidenschaftliches Meisterwerk ab.
Der von Gus Van Sant als Executive Producer geförderte Film des Frankokanadiers, der auch das Drehbuch geschrieben hat, beginnt nach einer klugen, einnehmenden Eröffnungssequenz mit einem Rückblick. Montreal im Jahr 1989: Der Literaturdozent und arrivierte Autor Laurence und seine Lebensgefährtin Frederique, genannt Fred, sind bis über beide Ohren ineinander verliebt. Um die Liebe frisch zu halten, legen sie »Listen der Dinge, die unsere Freude mindern« an; lauter Sachen, die sie dann tunlichst meiden. Wenige Monate später gesteht Laurence seiner quirligen Lebensgefährtin, dass er sie so lieben möchte, wie er wirklich ist – als Frau. Für ihn sei es eine Frage des Überlebens, fühle er sich doch schon immer im falschen Körper gefangen. Zunächst ist die Freundin schockiert, doch dann glaubt sie, dass sie es schaffen könnte, mit Laurences Transsexualität zu leben. »Unsere Generation kann damit umgehen. Wir sind bereit«, erklärt sie ihrer skeptischen Schwester, die ihr rät, Laurence zu verlassen. Fred beschließt, ihren Freund auf dem Weg, eine Frau zu werden, zu unterstützen. Spätestens wenn Fred in einer ungemein berührenden Szene Laurence beim Schminken im Bad empfiehlt, doch einen größeren Spiegel zu nehmen, und er sanft-kokett erwidert: »Ich weiß, wie ich aussehe«, ist der Zuschauer gefangen von dieser Liebesgeschichte.
Ein gelegentlich zu bombastischer, aber dennoch beeindruckender Soundtrack von Fever Ray und Moderat über Visage und The Cure bis hin zu Erik Satie und Brahms begleitet die Story, in deren Mittelpunkt ein liebendes Paar steht, das mit aller Leidenschaft versucht, seine Beziehung zu retten.
Ein Nebenstrang des Liebesdramas beschäftigt sich mit Laurences Beziehung zu seiner Mutter, die sich weigert, von seinem Entschluss überrascht zu sein, und sich selbst Vorwürfe zu machen. Nathalie Baye verkörpert die wunderbar gezeichnete, facettenreiche Figur der Mutter; die scharfsinnigen Wortwechsel mit ihrem Sohn gehören zu den großen Momenten des Films. Und davon gibt es in dem eine Zeitspanne von zwölf Jahren umfassenden Film so einige: der erste Gang von Laurence als Frau durch die Flure der Universität, der von irritierten Blicken verfolgt wird; die erste Unterrichtsstunde im giftgrünen Kostüm, für das der Regisseur ebenso wie für all die anderen großartigen Kostüme selbst verantwortlich zeichnet; die markerschütternden Wortgefechte zwischen Fred und ihrer »Nazi-Gothic-Schwester« Stéfanie (Monia Chokri), die Laurences Geschlechts­anpassung lange Zeit ablehnend gegenübersteht.
Während einer Szene in einem Café, in der Fred ihre Angst und Sorge um den Geliebten herausschreit, stockt dem Zuschauer schier der Atem, kurz darauf wird man auf einen rauschenden Filmball mitgenommen, auf dem sich Fred in einen »richtigen« Mann verliebt (und Dolan einen sehr kurzen Cameo-Auftritt hat). Beeindruckend sind auch die den Film strukturierenden Interviewszenen mit einer reifen, zunächst sehr distanzierten Journalistin, die die inzwischen erfolgreiche Autorin und verführerisch-attraktive Laurence interviewt.
An einer Stelle sagt Laurence, er habe das Gefühl, dass er über 30 Jahre mit angehaltenem Atem unter Wasser gelebt hat, um endlich auftauchen und die Person werden zu können, die er schon immer war. Melvil Poupaud spielt diesen Mann, der schon immer eine Frau sein wollte, so sensibel, dass auch der letzte Zuschauer das Klischee von der »typischen Transe« vergessen wird.
Suzanne Clément flucht, schreit, liebt und scheint um ihr Leben zu spielen – kein bis zum Anschlag aufgedrehter Sound, keine abstruse Neunziger-Jahre-Frisur und kein schrilles Outfit schafft es, von ihren in vielen Close-ups erforschten Gefühlsregungen abzulenken.
Am Tag seines Coming-out stakst Laurence auf hohen Absätzen mit noch kurzem Haar in die Mensa. Sein Kollege lächelt ungläubig und zitiert König Ludwig XVI., der den Sturm auf die Bastille mit den Worten kommentierte: »Das ist eine Revolte.« Und Laurence antwortet mit den Worten des Duc de la Rochefoucauld-Liancourt: »Nein Sir, das ist keine Revolte, das ist eine Revolution!«
So oder so: Auf eine Liste der Dinge, die unsere Freude steigern, würde »Laurence Anyways« auf jeden Fall gehören.

Laurence Anyways (Kanada/Frankreich 2012).
Buch/Regie: Xavier Dolan. Start: 27. Juni