Aleviten in Köln demonstrieren gegen Erdoğan

Taksim ist auf dem Heumarkt

In Köln fand die bisher größte Demonstration in Deutschland gegen die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan statt.

Es ist Samstagabend, kurz vor 22 Uhr. Über den Taksim-Platz in Istanbul wehen Tränengasschwaden. Auf dem Roncalliplatz in Köln ist es dunkel geworden. Als letzte Gruppe stehen Bandista auf der Bühne. Die etwa 1 000 Menschen, die bis jetzt ausgeharrt haben, jubeln der Istanbuler Ska-Combo zu. Bandistas »Haydi Barikata« (Auf die Barrikaden) ist eines der Protestlieder der türkischen Demokratiebewegung, der sie sich verbunden fühlen. Das Solidaritätsfest der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) vor dem Dom ist der Abschluss eines langen Demonstrationstags. Begonnen hat er zehn Stunden zuvor auf dem Heumarkt. Unter dem Motto »Her yer Taksim! Her yer direniş!« (Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!) hat die Alevitische Gemeinde Deutschlands (AABF) zur Großkundgebung aufgerufen. Mit 30 000 Teilnehmern rechneten die Veranstalter, es sind deutlich mehr geworden. Schon kurz nach zwölf Uhr ist der Platz überfüllt. Köln erlebt die bislang größte Demonstration in Deutschland gegen die türkische Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Es beteiligen sich so viele, dass der geplante Demonstrationszug durch die Kölner Innenstadt aus Sicherheitsgründen nicht stattfinden kann.

Aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland sind Demonstranten angereist. »Wir wollen unsere Solidarität mit den Demonstranten in der Türkei zeigen«, sagt die 19jährige Laura, die in der ersten Reihe steht. Aus Protest gegen den Gaseinsatz der türkischen Polizei trägt die Alevitin aus Bergisch-Gladbach einen Mundschutz. »Erdo­ğan geh’ – dann wird alles besser«, steht auf dem Schild, das sie in die Höhe hält. »Das ist eine Demonstration von aufrechten Demokraten gegen einen faschistoiden Diktator«, ruft Ali Doğan, der Generalsekretär der AABF, von der Bühne. Wie zahlreiche andere Redner wirft er der türkischen Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen vor: »An den Grenzen von Europa darf kein Polizeistaat entstehen.« Doğan fordert den Rücktritt Erdoğans und sofortige Neuwahlen. Solange das nicht geschehen sei, dürfe kein neues Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU eröffnet werden.
Das sehen auf dem Platz nicht alle so. Meltem Meral ist aus Bad Cannstatt gekommen. Die junge Frau trägt ein Schild, das einen Pinguin und Erdo­ğan zeigt. »Entschuldigen Sie, könnten Sie bitte zurücktreten«, sagt der Pinguin. Pinguine sind ein Symbol der Demokratiebewegung, weil ein renommierter türkischer Nachrichtensender am Abend des ersten Angriffs auf den Gezi-Park eine Dokumentation über die Tiere zeigte, anstatt über die Proteste zu berichten. »Deutsche und europäische Politiker müssen Sanktionen gegen Erdo­ğan verhängen«, fordert Meral. Aber sie hält nichts davon, die Beitrittsverhandlungen zur EU auszusetzen. »Das spielt Erdoğan in die Hände«, sagt sie. »Es ist das Volk, das jetzt kämpft, das zu Europa gehören will«, sagt sie.

Zahlreiche Organisationen haben sich dem Protest der AABF angeschlossen. Arrivierte alevitische Gemeindevertreter stehen neben »Occupy«-Aktivisten, Gewerkschafter neben Mitgliedern diverser linksradikaler türkischer Kleingruppen, Fans des Istanbuler Fußballklubs Beşiktaş schwenken Fahnen der Ultravereinigung Çarsi. Etliche Demonstranten haben Plakate mitgebracht mit Aufschriften wie »Wir wollen keinen fundamentalistischen Staat in der Türkei«, »Erdoğan, der Wolf im Schafspelz« oder »Freiheit statt Angst«. Auf dem Schild eines etwas älteren Mannes steht: »Claudia Roth, wir lieben Sie.« Volker Beck schmunzelt, als er das Bild sieht. Der Parlamentarische Geschäftsführer der grünen Bundestagsfraktion ist einer von mehreren deutschen Politikern, die zur Unterstützung gekommen sind. Der Forderung der AABF, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vorerst auszusetzen, schließt sich Beck jedoch in seiner Rede ausdrücklich nicht an. »Wir müssen aufpassen bei der Diskussion«, warnt er. Es dürfe nicht denjenigen in die Hände gespielt werden, die schon immer dagegen waren, die Türkei in die EU aufzunehmen. »Wenn die Türkei sich reformiert, muss sie ihren Platz in der EU finden«, fordert er. »Wir müssen die Menschen, die auf den Straßen in der Türkei für westliche Werte eintreten, unterstützen.« Auch Gregor Gysi will die Protestbewegung in der Türkei unterstützen, kommt jedoch zu einem anderen Schluss: Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag schließt sich in seinem Redebeitrag der AABF-Forderung an. »Wir müssen Erdo­ğans Politik Grenzen setzen.«
In der Linkspartei ist die Frage umstritten, ob derzeit weiter mit der Türkei verhandelt werden soll. Der Berliner Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich warnte am Montag in einer Presseerklärung: »Die EU-Beitrittsverhandlungen jetzt auszusetzen, spielt Erdoğan in die Hände.« Zur selben Zeit veröffentlichte seine Bochumer Fraktionskollegin Sevim Dağdelen ihre Sicht der Dinge: »Mit Erdoğan können keine neuen EU-Beitrittskapitel eröffnet werden.« Alles andere wäre »ein Schlag ins Gesicht der Taksim-Demonstrantinnen und -Demonstranten«. Oskar Lafontaine ist ohnehin schon immer gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Unstrittig ist jedoch die Forderung, dass die polizeiliche, geheimdienstliche und militärische Kooperation mit der Türkei beendet werden muss. Um 18 Uhr ist die Kundgebung auf dem Heumarkt vorbei. Wer keine weite Heimreise vor sich hat, macht sich auf zum DIDF-Kulturfest. Die Kölner Polizei spricht von einem »erfreulich friedlichen Verlauf« der Veranstaltungen.

Dazu dürfte beigetragen haben, dass sich Anhänger Erdoğans nicht blicken ließen. Allerdings versuchen sie auch in Deutschland, wieder in die Offensive zu kommen. Zwar halten sich mit der AKP-Regierung verbandelte muslimische Verbände wie Ditib oder MillÎ Göruş derzeit noch bedeckt. Dafür legt das neu gegründete Bonner Tulip-Forum kräftig los. Die Demonstranten in der Türkei seien nur »eine von fragwürdigen Machern instrumentalisierte Minderheit, die mit rechtswidrigen Mitteln Unruhe schafft«, heißt es in einer Erklärung. Das gewaltsame Vorgehen gegen die türkische Demokratiebewegung hält das Tulip-Forum für gerechtfertigt: »Der Staat muss um der Staatsräson willen mit der gebotenen Härte gegen die Krawallmacher durchgreifen.« Erdoğan habe sich denn auch »konkret nichts zu Schulden kommen lassen, das eine derartige Einmischung, wie sie von Seiten der deutschen Politik zu verzeichnen ist, rechtfertigen würde«, und erfreue »sich eines Zuspruchs, von dem deutsche Politiker nur träumen können«. Ungeniert wird die antisemitische Karte gespielt: »Berechtigte Kritik an Israel wird totgeschwiegen, auch wenn sie 50 Mal so viele Sympathisanten in der Türkei findet wie der Unmut an dem muslimischen Staatsmann.« Hinter dem Tulip-Forum steckt ein Kreis früherer Funktionäre der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), einer Lobbygruppe der AKP in der Bundesrepublik. Sprecher des Tulip-Forums ist Salih Altinişik, bis vor wenigen Wochen noch UETD-Generalsekretär. Mit dabei ist auch Haluk Yıldız, Vorsitzender der Kleinpartei »Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit« (BIG), und der ehemalige Islamrats- und UETD-Vorsitzende Hasan Özdoğan, der heute dem Muslimischen Sozialen Bund (MSB) vorsteht.
Es ist eine andere, eine säkularere Welt, die in Köln demonstrierte. »Die Protestierenden vom Gezi-Park sind zum Symbol für die große Sehnsucht nach einer freiheitlich-demokratischen und humanistischen Gesellschaft geworden«, sagte Doğan. Für Islamisten sind sie ein Gräuel.