Fred Turner im Gespräch über Hippies und deren Einfluss auf die New Economy

»Sie glauben an die Google-Brille wie früher an LSD«

»Sie glauben an die Google-Brille wie früher an LSD« Fred Turner, Professor für Kommunikation an der Stanford University in Kalifornien, hat sich mit dem Einfluss der Hippies auf die Unternehmenskultur des Silicon Valley beschäftigt. In dem 1968 erstmals erschienenen alternativen Handbuch »Whole Earth Catalog« von Stewart Brand sieht er einen Vorboten von Google und der New Economy.

Sie haben 1996 ein Buch über die Folgen des Vietnam-Kriegs veröffentlicht, »Echoes of Combat: The Vietnam War in American Memory«. 2006 erschien Ihre Studie »From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism«, das sich mit dem Erbe der kalifornischen Hippiekultur beschäftigt. Woher kommt Ihr Interesse an diesem Abschnitt der Geschichte?
Zum Teil ist dieses Interesse professioneller Natur. Ich bin fasziniert vom amerikanischen Idealismus und möchte ihn wirklich gerne verstehen. Es gibt aber auch einen persönlichen Hintergrund. Ich bin aufgewachsen mit einem rechtskonservativen Vater, der den Vietnam-Krieg unterstützt hat, und einer linken, feministischen Mutter, die ihn abgelehnt hat. Die Ehe meiner Eltern ging in den siebziger Jahren in die Brüche, wie so viele andere in dieser Zeit auch. Ich habe die amerikanische Politik also hautnah erlebt und erinnere mich lebhaft daran.
Gibt es eine Verbindung zwischen Ihrem Buch über den Vietnam-Krieg und Ihrer Untersuchung der kalifornischen Gegenkultur?
Ja, die gibt es. Als ich das Vietnam-Buch geschrieben habe, arbeitete ich als Journalist in Boston. Damals ging ich noch davon aus, dass Computer und militärische Technologien die Wurzel allen Übels im Amerika des Kalten Krieges seien. Als ich dann meine Stelle an der Stanford-Universität in Nordkalifornien antrat, merkte ich, dass Computer omnipräsent waren! Ganz Kalifornien war voller Ex-Hippies, die den Computer als mächtiges Werkzeug gesellschaftlicher Befreiung anpriesen. Ich wollte unbedingt verstehen, was es damit auf sich hatte. Aus dieser Recherche wurde eine Doktorarbeit und aus der Doktorarbeit dann später das Buch.
Waren Sie enttäuscht, dass die Gegenkultur gar nicht so sehr dagegen war, wie Sie gedacht hatten?
Das war eine schmerzliche und durchaus schwierige Erkenntnis. Ich las damals in Stewart Brands »Whole Earth Catalog« …
… ein dicker Katalog mit Produktempfehlungen für ein nachhaltiges Leben, der für die Verbreitung der Ideen der Subkultur und der Umweltbewegung von nicht zu unterschätzender Bedeutung war und von Stewart Brand zwischen 1968 und 1972 herausgegeben wurde. Der Katalog ist ein Sammelsurium für Technik-Nerds und gilt als »Bibel der Subkultur«.
Ich konnte seine Bedeutung für die Gegenkultur überhaupt nicht verstehen. Mir wurde dann aber klar, dass die Geschichte der Gegenkultur falsch erzählt wurde. Die Gegenkultur hat sich dem amerikanischen Mainstream nicht in der Weise versperrt, wie immer behauptet wurde, denn die zentrale und wichtigste Publikation, der »Whole Earth Catalog«, bestand offensichtlich aus einer Empfehlung von Produkten und Ideen, die der militärischen und industriellen Forschung entstammten.
Wie konnte es dazu kommen?
Man muss sich die amerikanische Gegenkultur zu dieser Zeit etwas genauer anschauen, um zu verstehen, was passiert ist. Sie bestand aus zwei verschiedenen Flügeln, die völlig unterschiedliche Richtungen einschlugen. Einerseits gab es »The New Left«, die neue Linke, die sehr politisch orientiert war. Dort wurden Parteien und Gruppen gegründet, es wurde debattiert, demonstriert und alle möglichen Thesen wurden formuliert. Es gab Hierarchien und Führerfiguren, also all die Dinge, die wir mit Politik assoziieren. Die Gruppe, die ich untersucht habe, ist die andere, die zweite Gruppe. Diese Leuten haben sich von der Politik abgewandt und waren der festen Überzeugung, dass Politik die eigentliche Ursache für die Probleme der Gesellschaft ist. Korruption und Politik waren für sie ein und dasselbe. Politik war Schuld an der Möglichkeit einer nuklearen Apokalypse, der größten Angst damals. Also machten sie sich auf in die Landkommunen, um eine andere, alternative Gesellschaft zu gründen.
War die Abkehr von der Politik der entscheidende Fehler?
Ja, statt mit Politik beschäftigten sie sich mit ihrem Bewusstsein, und eine ganze Reihe furchtbarer Entwicklungen kam ins Rollen. Alle sollten sich ihrer vermeintlichen Natur entsprechend verhalten. Die Frauen mussten backen, kochen und sich um die Kinder kümmern, während die Männer Entscheidungen trafen. Die zweite große Fehlentwicklung ging mit der Vorstellung eines gemeinsamen Bewusstseins einher. Sie gingen davon aus, dass alle, die sich außerhalb des gemeinsamen Bewusstseins befanden, diese besondere Entwicklungsstufe einfach noch nicht erreicht hatten.
Sie kritisieren diese Entwicklungen in Ihrem Buch sehr deutlich.
Die »New Communalists« waren doch im Grunde Kolonialisten, mit überraschenden Folgen für das Leben innerhalb der Gemeinschaft. Genau wie in den amerikanischen Vororten, die sie als unmenschlich ablehnten, war das Leben in den Kommunen um weiße, junge, mittelständische, heterosexuelle, relativ wohlhabende Kleinfamilien herum organisiert, die sich Haushaltstechnik anschafften und die ihre Kommunen dort aufbauten, wo schon seit Generationen indigene oder mexikanische Gemeinschaften lebten, die die Hippiekommunen logischerweise ablehnten.
Wie viele Kommunen gab es damals?
Das weiß niemand so genau. Die Angaben sind so ungenau, dass ich mich lieber darauf konzentriert habe, wie viele Communalists es gab. Ich denke sieben bis zehn Millionen ist eine realistische Größe. Man kann das schwer schätzen. Es gab große Gruppen, die eine gemeinsame Ideologie teilten, und dann gab es junge Leute, die gemeinsam in Häusern wohnten und einfach nicht heiraten wollten.
War Stewart Brand, der Herausgeber des »Whole Earth Catalog«, damals bei den Communalists bekannt?
Brand arbeitete, nachdem er die Universität besucht hatte, in den sechziger Jahren für die Armee und fuhr, während er in New Jersey sta­tioniert war, regelmäßig nach New York. Dort lernte er den Medienkünstler und Poeten Gerd Stern kennen. Er hing dort zum Beispiel mit dem Maler Robert Rauschenberg herum.
Wie kam Stewart Brand von den New Yorker Künstlern und Hipstern zu den kalifornischen Hippies?
Er zog zurück nach Kalifornien, wo er ursprünglich herkam, und fing an, Kunstevents zu organisieren, ganz ähnlich denen, die er schon mit der USCO (der Künstlergruppe US Company; d. Red.) veranstaltet hatte. Er fuhr auch mit den Merry Prankster, bekannt aus Tom Wolfes Buch »The Electric Kool-Aid Acid Test«, durchs Land. Die Pranksters glaubten, dass Amerika ein besserer Ort werden würde, wenn alle die gleichen Rausch- und LSD-Erfahrungen wie sie selbst gemacht hätten. So richtig berühmt wurde Brand aber erst mit dem von ihm organisierten »Trips Festival«, das vom 21. bis 23. Januar 1966 in San Francisco stattfand. Heute würde man das als Rave bezeichnen, bloß mit LSD statt mit Ecstasy. Aber der Unterschied war, dass es ein Rave mit einer Ideologie der Bewusstseinserweiterung war. Es wurde nicht geravt um des Ravens Willen, sondern um eine bessere Gesellschaft herzustellen. Es gab immer eine ganzheitliche Mission.
Brand wurde zu einer zentralen Figur der Gegenkultur. War das sein Ziel? Wollte er gerne berühmt und hip sein?
Nein. Brands Berühmtheit ist ein Resultat seiner Taten und war nie sein eigentliches Ziel. Er wollte anderen immer nur helfen. Aus diesem Grund hat er auch den »Whole Earth Catalog« gemacht. Er erkannte gesellschaftliche Entwicklungen sehr frühzeitig und konnte die scheinbar verschiedensten Gruppen miteinander verbinden. Seine Netzwerkarbeit funktioniert wie bei einer Biene. Er flog von Gruppe zu Gruppe, bestäubte alle ein bisschen mit den Ideen der anderen und berichtete außerdem davon, wie der ganze Garten aussieht. Er wollte die Menschen in den Kommunen unterstützen und glaubte an all die Tools im »Catalog«, gleichgültig, ob es Theorien oder tatsächliche Gebrauchsgegenstände waren. Wenn man den »Catalog« heute durchblättert, findet man Brand darin wieder, aber nicht, weil er tatsächlich als Person darin vorkommt, sondern weil man das Handbuch als seine geistige Biographie lesen kann sowie als Einladung, ihn auf der Mission, an die er fest glaubte, zu begleiten. Er wäre auch nicht so beliebt gewesen, wenn er nicht wirklich an all das geglaubt hätte.
Stewart Brand war also der erste Netzwerker der Gegenkultur?
Er war der wichtigste Netzwerker der Gegenkultur. Der erste war Norbert Wiener, der die Kybernetik und damit die interdisziplinäre Forschungskultur der Nachkriegszeit begründet hat – ironischerweise als Teil des Militärs. Wiener war ein Meister der interdisziplinären Betrachtung. Seine beiden Bände über Kybernetik aus den Fünfzigern waren Bestseller, obwohl die erste Hälfte des ersten Buchs nur aus mathematischen Gleichungen besteht.
Welche Rolle spielt die Kybernetik im »Whole Earth Catalog«?
Wieners Kybernetik-Buch war eine Anleitung zum ganzheitlichen Denken, die Brand dann umgesetzt hat. Brand hatte zwei Helden, die immer wieder im »Catalog« vorkamen. Norbert Wiener und Buckminster Fuller, der auch den »geodätischen Dom« erfunden hat, der später in allen Kommunen aufgebaut wurde, bezeichnen den »Whole Earth Catalog« als Vorläufer der Suchmaschinen im Internet.
Aus dem Katalog entstand in den achtziger Jahren das Online-Forum »Whole Earth ’Lectronic Link«, kurz WELL, eine der ersten, aber vor allem die einflussreichste virtuelle Gemeinschaft und ein Vorläufer der heutigen Internetforen und sozialen Netzwerke. Das WELL hatte bei seiner Gründung nicht mehr als 500 Mitglieder. Howard Rheingold war dabei, der sich später den Begriff der virtuellen Gemeinschaft ausgedacht hat, aber auch John Perry Barlow, der ein Grundsatzpapier über den freiheitlichen Charakter des Internet verfasst hat, das unsere Vorstellung davon, wie das Leben online funktionieren sollte, noch heute beeinflusst. Stewart Brand war dabei. Diese Leute sind auch immer noch alle sehr aktiv.
Stewart Brand betreibt heute eine Firma, die »Global Business Network« heißt. Was macht das Unternehmen genau?
Das ist eine Consulting-Firma, die Brand gemeinsam mit Peter Schwartz, einem Futuristen, der versucht, auf Basis von Forschungsergebnissen die Zukunft vorherzusagen, und mit Shell gegründet hat. Im Grunde organisieren sie ganzheitliche Bildungsreisen für Konzernchefs.
Es gibt viele personelle Überschneidungen mit dem 1993 gegründeten Technologie-Magazin Wired, das Sie als das »Zentralorgan der New Economy« bezeichnet haben.
Wired war in den neunziger Jahren das ideologische Zentrum der New Economy. Hier wurden Ideen diskutiert, veröffentlicht und bekannt gemacht. Jeder Konzernchef in Kalifornien hatte das Magazin auf dem Tisch liegen, um zu zeigen, dass er am Puls der Zeit war. Er konnte die einzelnen Artikel vielleicht nicht lesen, weil das Layout wirklich schrecklich war. Aber bestimmte Beiträge wurden unter den Entscheidern des Silicon Valley herumgereicht. Die Macht von Wired resultierte aus einer Netzwerk-Matrix, in der das Heft existierte. Diese Matrix war dafür verantwortlich, dass alle Themen, um die es im Heft ging, einen sofortigen Business-Effekt hatten. Brands Firma, das WELL, und die Whole Earth Review, ein Nachfolger des »Whole Earth Catalog«, gehörten zu diesem Netzwerk.
Erkennen Sie in der Bay Area und im Silicon Valley auch heute noch die Ideen der Hippies?
Der in Kalifornien vorherrschende Glaube, dass all das coole Zeug, das hergestellt wird, die Welt verändern wird, ist ein Teil dieses Erbes. Nehmen Sie zum Beispiel die Google-Brille. Ich kenne Leute, die bei Google arbeiten; wenn die über die Brille reden, habe ich ein Déjà-vu. Die haben vielleicht die Gegenkultur nicht selbst erlebt, aber sie gehen ihre technologischen Entwicklungen mit diesem gegenkulturellen Impetus an und glauben an den Fortschritt durch solche Geräte. Die glauben an die Brille, wie sie schon an den geodätischen Dom, an den »Catalog« und an LSD geglaubt haben. Und Google setzt das auch auf einer praktischen Ebene um. Es gibt freie Mahlzeiten in ihrer Zentrale, und zum »Burning Man Festival« schließen sie die Firma zu, damit alle Mitarbeiter gemeinsam dort hingehen und die entsprechenden ganzheitlichen Erfahrungen machen können.
Der westliche Kapitalismus, so wie wir ihn heute kennen, ist also ein Erbe der Hippies?
Der Traum der »New Communalists« war es, eine Welt zu schaffen, die das Gegenstück zur industriellen, bürokratischen Welt der fünfziger und sechziger Jahre ist. Leben und Arbeit waren damals getrennt, man ging einer Arbeit nach, mit der man sich in aller Regel nicht identifizieren konnte. Man verlieh seinen Körper an eine Firma und fühlte sich fremdbestimmt, wie eine Maschine. Im Kommuneleben sollten Körper und Geist, Leben und Arbeit, Fami­lienleben und Produktionsstätte eine Einheit bilden. Der Kapitalismus, in dem wir heute leben und nicht mehr formell gekleidet zur Arbeit gehen, in dem die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit immer fließender werden, ist ein Erbe dieser Kommuneträume. Das ist einerseits sehr befreiend, aber andererseits sperrt es uns auch ein, weil die Arbeit nie endet.
Warum spielt Steve Jobs in Ihrem Buch keine größere Rolle? Ist er nicht der wahre Erbe von Stewart Brand und das perfekte Beispiel für die Symbiose von Gegenkultur und finanziellem Erfolg im technologischen Unternehmertum?
Das ist eine wichtige Frage, die ich sehr gerne beantworte. Steve Jobs war nie ein Teil der Gegenkultur, zumindest nicht im ursprünglichen Sinne. Er hat ein Jahr in einem Kommunehaus verbracht, er hat den »Whole Earth Catalog« gelesen und auch gerne viel drüber geredet. Steve Jobs war tatsächlich ganz anders als Stewart Brand und hat die Gegenkultur bloß instrumentalisiert, um seine Produkte zu bewerben. Er ging sehr zynisch mit dem Erbe der Gegenkultur um. Das Unternehmen Apple ist eines der konservativsten, die es zurzeit gibt. Klar, die Produkte haben ein tolles Design, aber das haben sie vor allem, weil Jobs sehr strikt, fast schon diktatorisch mit ihnen verfahren ist. Der Programmiercode von Apple ist im Gegensatz zu anderen kein öffentliches Allgemeingut, man kann ihn auch nicht hacken. Die Firmenarchitektur ist ein Symbol dieser Kultur. Einerseits heißt die Straße, in der das Firmengebäude steht, Infinity Loop und ist dem Unendlichkeitszeichen nachempfunden, gleichzeitig ist es quasi unmöglich, in das Gebäude hineinzukommen. Eine Verbindung aus dem gegenkulturellen Unendlichkeitssymbol und einer Trutzburg! Steve Jobs war ein rücksichtsloser Unternehmer in einem klassischen Sinne, der die Symbole des gegenkulturellen Erbes zynisch ausgebeutet hat, um seine Produkte besser zu vermarkten. Er war der erste, der Geräte explizit als gegenkulturell verkauft hat. Heute machen das in Silicon Valley alle.
Ist die positive Berichterstattung in den Medien über die Bedeutung der sozialen Netzwerke für »Occupy«, den »arabischen Frühling« oder die Proteste in der Türkei auch ein Erbe der Gegenkultur?
Ja. Es gibt eine starke Verbindung zwischen der Gegenkultur und der Cyberkultur. Die Phantasie funktioniert folgendermaßen: Wenn wir uns ausdrücken, werden sich die Verhältnisse ändern. Und innerhalb dieser Bewegungen und in der Berichterstattung darüber kann man sehen, wie vital dieser Traum auch heute noch ist. Aber er stimmt nicht, das ist bloß eine Phantasie. Ich nenne sie den Facebook-Traum und sie geht so: »Alles, was ich tun muss, ist, die Missstände online zu posten, und dann wird sich alles ändern.« Das ist naiv. Es wird allgemein, wenn über soziale Netzwerke und digitale Utopien geredet wird, über Institutionen geschwiegen. Macht im Kapitalismus wird immer noch über Institutionen, über die Möglichkeit, Kapital, Ressourcen, Macht und vielleicht militärische Durchsetzungskraft zu bündeln, organisiert. Man ist nicht mächtig, nur weil man schneller Redefreiheit hat. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Im Grunde hieße das, dass Gegenkulturen gar nicht möglich sind.
Ja, ich befürchte leider, dass das so ist.
Interview: Nina Scholz