Amal Elmohandes, Engy Ghozlan und Rebecca Chiao im Gespräch über Gewalt gegen Frauen in Ägypten

»Es reicht nicht, Mursis Regierung zu stürzen«

Die Proteste des 30. Juni werden in Ägypten als Sternstunde der Demokratie gefeiert. Überschattet werden sie von einer erneuten Welle brutaler Übergriffe auf Frauen in der Öffentlichkeit. Mehr als 46 Massenvergewaltigungen wurden allein an diesem Tag in Kairo bestätigt. Die Jungle World sprach mit drei prominenten ägyptischen Frauenrechtlerinnen über die Vorfälle und deren politische Konsequenzen. Amal Elmohandes ist Direktorin des Nazra-Instituts für Feministische Studien, Engy Ghozlan arbeitet unter anderem für Opantish (Operation Anti Sexual Harassment) und Rebecca Chiao ist Mitglied der Nichtregierungsorganisation Harassmap Cairo.

Wie haben Sie als Aktivistinnen die Proteste des 30. Juni erlebt?
Ghozlan: Bei Opantish trafen über den Tag 46 Berichte über Massenvergewaltigungen ein. Wir waren die ganze Zeit in Bewegung. Die Attacken waren scheußlich.
Chiao: Das Harassmap-Team ist einer der Koalitionspartner von Opantish, daher waren alle unsere Einsatzteams auf den Straßen. Ich selbst bin zu Hause geblieben. Zum einen ist es für mich als Ausländerin gefährlicher, zum anderen möchten wir den Medien nicht die Gelegenheit geben, Angriffe gegen uns politisch zu verwerten. Von meiner Wohnung aus habe ich die Koordination für die Schutzhäuser übernommen, in die die geretteten Frauen gebracht wurden.
Elmohandes: Auch ich habe nicht unmittelbar an den Protesten teilgenommen, aber die Anrufe, die über unsere Hotlines angekommen sind, reichen aus, um zu wissen, dass Tahrir am Sonntag ein lebensgefährlicher Ort für Frauen war.
Waren die Angreifer einem bestimmten politischen Lager zuzuordnen?
Chiao: In der Vergangenheit gab es immer klare Beweise, dass solche Attacken durch Mubaraks Regime organisiert und finanziert wurden. Seit seinem Sturz, und das gilt insbesondere für alles, was am Sonntag passiert ist, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, wer die Täter bezahlt. Meine Teams vor Ort haben mir berichtet, dass sie innerhalb der Mobs das Gefühl hatten, dass generell nur sehr wenige Männer für die Übergriffe bezahlt werden. Von insgesamt 50 oder 100 Angreifern sind es vielleicht fünf oder zehn, die im Auftrag von jemand anderem handeln. Wer auch immer da genau seine Finger im Spiel hat, die jetzige Regierung unternimmt zumindest keinerlei Versuche, die Angriffe zu unterbinden. Keine der politischen Parteien, die in die Proteste involviert waren, hat eine angemessene Antwort auf dieses Problem. Daher glauben wir bei Harassmap, dass sie uns nicht bei der Lösung des Problems helfen können. Der Anteil der Männer, die diese Taten aus politischen Motiven begehen und dafür bezahlt werden, ist einfach zu gering. Gut 95 Prozent der Angreifer sind einfach Typen, die die Gelegenheit nutzen, die sich ihnen bietet.
Elmohandes: Wir hatten den Eindruck, dass Angreifer aus allen politischen Lagern dabei waren.
Wie genau hat Ihre Arbeit am Sonntag ausgesehen?
Chiao: Wir hatten vier Einsatzteams vor Ort. Unsere Zentrale hat alle Notrufe entgegengenommen und an die einzelnen Gruppen weitergegeben. Außerdem haben wir ein Team, das nur dafür da ist, die Masse zu beobachten und eines der Einsatzteams zu rufen, sobald sich eine Art Kessel bildet. Dann hatten wir noch einen Sicherheitstrupp. Diese Leute haben sich darum gekümmert, sichere Autos und Schutzhäuser zur Verfügung zu stellen und die Frauen im Notfall schnell vom Schauplatz der Vergewaltigung wegzubringen. Dort wurden sie von uns auch medizinisch und psychologisch betreut.
In sozialen Netzwerken war von teilweise mehr als 80 Männern die Rede, die sich auf eine einzige Frau gestürzt haben. War es möglich, da noch einzugreifen?
Chiao: Zum Glück war es das. Unsere Einsatzteams habe eine präzise Vorgehensweise. Sie bilden einen Kreis und versuchen, in den Pulk der Männer einzudringen, um sie auseinanderzutreiben. Dabei sind die Frauen im Team innerhalb des Kreises und die Männer außen. Manchmal reichen Ellenbogen aus, um die Angreifer zu zerstreuen, am Sonntag haben wir auch Elektroschocker benutzt. Wenn es uns gelingt, ins Zentrum des Mobs vorzudringen, nehmen die Frauen das Opfer in ihre Mitte und bewegen sich im Schutz der Männer so schnell wie möglich zum nächsten Schutzhaus oder Auto. So konnten wir es schaffen, einige Frauen vor Übergriffen zu retten.
Gehen Sie davon aus, dass sich die Situation hinsichtlich der Frauenrechte und der Gewalt gegen Frauen verbessert, falls die säkulare Opposition an die Macht kommt?
Ghozlan: Ehrlich gesagt bin ich mir da nicht sicher. Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen in der Öffentlichkeit sind in Ägypten tief in der Gesellschaft verwurzelt. Solche Angriffe haben schon stattgefunden, während Mubarak an der Macht war, dann während der Revolution und auch unter der Regierung Mursis. In letzter Zeit ist es schlimmer geworden, aber das heißt nicht, dass ein Regierungswechsel die Situation für Frauen unbedingt verbessert. Dieses Land erkennt den Missbrauch von Frauen nur dann an, wenn er als politische Verhandlungsmasse taugt. Ich vertraue nicht darauf, dass, wer auch immer an die Macht kommt oder an der Macht bleibt, an diesem Zustand sehr bald etwas ändern wird. Die Tamarod (»Rebellen«, Mitglieder der gleich­namigen Protestbewegung gegen Mursi, Anm. d. Red.) haben zu diesem Problem absolut nichts zu sagen.
Chiao: Wir von Harassmap sind weitestgehend unpolitisch. Wir glauben, dass Veränderung nur aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen kann. Ganz normale Menschen müssen ihre Einstellungen und ihr Verhalten gegenüber Frauen ändern. Das kann nur durch Bildung und Aufklärung geschehen. Schließlich haben wir Gesetze, die Frauen schützen. Aufgrund gesellschaftlicher Blockaden werden sie aber nicht umgesetzt. Außerdem frage ich mich, was das für ein Zustand ist, in dem selbst die säkularen Oppositionellen da­­bei zusehen, wie eine Frau auf offener Straße und mitten am Tag von einer Gruppe Männer ver­gewaltigt wird.
Unter Mursi hat sich die rechtliche Situation für Frauen aber doch erheblich verschlechtert.
Elmohandes: Ich stimme da zu. Es kann uns aber nicht nur darum gehen, Mursis Regierung zu stürzen. Was wir brauchen, ist eine Veränderung der kulturellen Normen. Das Bewusstsein und die Mentalität der Ägypter gegenüber Frauen müssen sich ändern. Nur so erreichen wir eine wahre Akzeptanz von Frauen in der Öffentlichkeit. Um an diesen Punkt zu kommen, müssen wir es schaffen, die verschiedenen politischen Parteien mit einzubinden und vor allem viel Aufklärungsarbeit leisten. Wenn die Frage darauf zielt, ob ich mir von einer neuen Regierung eine große Initiative für Frauenrechte erhoffe, muss ich das leider verneinen.
Ghozlan: Die Gruppen, die sich mit sexuellen Übergriffen beschäftigen, sind die Einzigen, die das Problem wirklich angehen. Ich habe das Gefühl, dass jeder, der sonst Gewalt gegen Frauen anspricht, das nur aus politischem Kalkül tut und nicht, um sich dafür stark zu machen, dass sie aufhört.
Welche zentralen Hindernisse sehen Sie für die Stärkung von Frauenrechten?
Elmohandes: Ich denke, die frauenfeindliche Atmosphäre, die sich in Ägypten in den vergangenen Monaten entwickelt hat, ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Zum einen beobachten wir das Paradoxon, dass Frauen in der Öffentlichkeit gefeiert werden, etwa wenn es um Bildung und Karrieren geht. Gleichzeitig wird diese Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum nach wie vor nicht von der ganzen Bevölkerung akzeptiert. Diese Vorurteile kommen tief aus der Mitte der Gesellschaft, mit der jetzigen Regierung und vor allem während der Proteste werden sie nur deutlicher. Der nicht enden wollende Zustand von politischer und gesellschaftlicher Unsicherheit und Instabilität nährt das Problem zusätzlich, er ist aber nicht seine Ursache. Hinzu kommt, dass keine der politischen Parteien Gewalt gegen Frauen als deutlichstes Merkmal von Frauenfeindlichkeit in Ägypten anerkennt.