Das islamistische Pogrom in Sivas 1993 prägt die türkischen Proteste

Sivas bleibt

Am 2. Juli 1993 starben bei einem islamistischen Pogrom in Sivas 37 Menschen. Dieses Ereignis prägt auch die heutige Protestbewegung in der Türkei.

Im Zuge der anhaltenden Proteste versammelten sich am 23. Juni Zehntausende im Istanbuler Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite der Stadt. Sie gedachten des antialevitischen Pogroms von Sivas, bei dem am 2. Juli 1993 37 Menschen den Tod gefunden hatten, und protestierten zugleich gegen den Freispruch eines Polizisten, der bei einer Protestkundgebung in Ankara Anfang Juni einen jungen alevitischen Demonstranten erschossen hatte. Die Kundgebung, zu der sowohl alevitische Organisationen als auch die Taksim-Plattform, linke Gruppen und Gewerkschaften aufgerufen hatten, verband die jüngsten Proteste mit der Erinnerung an Sivas.
Das Pogrom von Sivas hatte eine internationale Dimension, handelte es sich doch um eines der mörderischsten Ereignisse im Zuge der berüchtigten Fatwa Ayatollah Khomeinis gegen den Schriftsteller Salman Rushdie (Jungle World 07/2009). Dessen Roman »Die satanischen Verse« wollte der türkische Autor und Satiriker Aziz Nesin ins Türkische übersetzen lassen, er druckte im Mai 1993 einige Auszüge daraus in der Zeitung Aydınlık nach. Dies trug ihm Mordaufrufe türkischer Islamisten ein, denen er als bekennender Atheist und scharfzüngiger Kritiker jeder Form von Bigotterie ohnehin verhasst war. Als Nesin damals Anfang Juli in Sivas zum alevitischen Kulturfestival Pir Sultan Abdal eingeladen wurde, kam es zur Eskalation.

Bereits das Festival war Islamisten und Rechten ein Dorn im Auge, da es für die engen Verbindungen zwischen dem türkischen Alevitentum und der weltlichen, kritischen und linken Intelligenz des Landes stand. Das Festival ist nach einem legendären alevitischen Freiheitsdichter und Sänger benannt, der im 16. Jahrhundert lebte und von der osmanischen Obrigkeit in Sivas hingerichtet wurde. Nachdem Nesin am ersten Tag des Festivals seine Religionskritik bekräftigt hatte, versammelte sich am zweiten Tag nach dem Freitagsgebet eine von Agitatoren der islamistischen Refah-Partei (Wohlfahrtspartei) und der faschistischen MHP aufgewiegelte Masse von 20 000 Personen und zog zum Hotel Madimak, in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Festivals untergebracht waren. Auf dem Weg dorthin wurde bereits ein Denkmal Pir Sultan Abdals zerstört. Vor dem Hotel begann der Mob unter Rufen wie »Tod dem Teufel Aziz Nesin« mit Steinen und Brandsätzen zu werfen. Das hölzerne Gebäude stand sofort in Flammen und die darin eingeschlossenen Menschen wären beim Verlassen des Hotels der lynchbereiten Masse in die Arme gelaufen. Die anwesenden Sicherheitskräfte griffen ebenso wenig ein wie die Feuerwehr, einige Polizisten sollen sich sogar an den Gewalttaten beteiligt haben. Die Eingeschlossenen versuchten verzweifelt, telefonisch Hilfe zu holen, die Redaktion von Aydınlık drang sogar bis zum damaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel durch, der aber nur abwiegelte. Das grauenhafte Geschehen wurde sogar von Fernsehsendern übertragen. Am Ende erstickten und verbrannten 35 Menschen im Hotel, zwei Angreifer kamen ebenfalls ums Leben. Etwa 50 Menschen konnten sich, teils schwer verletzt, über das Dach des Hotels auf ein Nebengebäude retten, unter ihnen Nesin.
Unter den Aufwieglern hatte sich auch der Bürgermeister von Sivas, Temel Karamollaoğlu, hervorgetan, ein Mitglied der Refah-Partei, einer Vorgängerin der AKP. Ihr aufstrebender stellvertretender Vorsitzender Recep Tayyip Erdoğan, schickte sich damals gerade an Bürgermeister von Istanbul zu werden. Der Ziehvater der türkischen Islamisten und damalige Vorsitzende der Refah, Necmettin Erbakan, machte nach dem Pogrom die Opfer zu Schuldigen: »Zu den Ereignissen ist es gekommen, weil eine bestimmte Gruppe in unhöflicher Weise über den Glauben der Nation gesprochen hat.«
Entsprechend groß ist das Misstrauen der Aleviten gegenüber der Regierung der AKP, die sich 2001 vom Erbakan-Flügel der Islamisten abgespalten hat. Bei der Aufarbeitung des Massakers agierte die Regierung auch nicht in einer Weise, die geeignet gewesen wäre, dieses Misstrauen zu zerstreuen. Der Prozess gegen die Täter von Sivas schleppte sich über Jahre hin, wobei nicht nur zahlreiche Verteidiger der Angeklagten aus dem islamistischen Umfeld kamen, sondern auch unter Erdoğan die immer stärker von der AKP dominierte Justiz fragwürdig agierte. Zwar wurden bereits Ende der neunziger Jahre einige Täter zu teils lebenslangen Haftstrafen verurteilt, viele konnten sich der Strafe jedoch durch Flucht entziehen, einige trotz ihrer Verurteilung weiter unbehelligt in der Türkei leben, einer der Haupttäter sogar in Sivas selbst, was erst 2011 nach dessen Tod bekannt wurde. Schließlich erklärte der 11. Strafgerichtshof in Ankara im März 2012 die Anklagen gegen die noch flüchtigen mutmaßlichen Beteiligten des Pogroms für verjährt, was auch in Deutschland zu großen Protesten alevitischer Organisationen führte. Die Gerichtsentscheidung, die juristisch nur möglich war, weil das Pogrom nicht als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft wird, kommentierte Erdoğan mit der Bemerkung: »Mit Gottes Segen«. Nach den Protesten versuchte er, diese Aussage zu relativieren.

Auch die politische Aufarbeitung von Sivas wird durch Erdoğan und die AKP nicht gerade befördert. Das bekam der jüngst wegen Blasphemie verurteilte und auf Seiten der Protestbewegung engagierte Pianist Fazıl Say zu spüren, als er 2003 ein »Requiem für Metin Altiok«, einen alevitischen Dichter und eines der Opfer von Sivas, komponierte. Die Uraufführung konnte nur in zensierter Form, ohne Darstellung des Sivas-Pogroms stattfinden, da Erdoğan persönlich dagegen vorgegangen war. Es ist auch vor dem Hintergrund von Sivas zu verstehen, dass eine Hauptforderung der gegenwärtigen Protestbewegung sich gegen die Benennung der geplanten neuen Bosporus-Brücke nach dem Herrscher Sultan Selim I, »dem Grimmigen«, richtet, der für einen genozidalen Massenmord an Zehntausenden Aleviten Ende des 15. Jahrhunderts steht.
Auch deutsche Stellen spielten eine unrühmliche Rolle bei der Aufarbeitung von Sivas. So intervenierte der türkische Staat 2008 erfolgreich auf diplomatischer Ebene gegen eine Aufführung von Says Requiem bei der Frankfurter Buchmesse, das Konzert wurde abgesagt. Noch schwerer erträglich ist es für die alevitische Gemeinde, dass mehrere der geflüchteten Haupttäter von Sivas in Deutschland Asyl erhielten und unbehelligt hier leben. Auch als türkische Behörden auf öffentlichen Druck hin einige nicht sehr sorgfältig ausgearbeitete Auslieferungsanträge stellten, wurden diese von deutschen Gerichten prompt aus formalen Gründen abgelehnt.
Zu Pogromen gegen die weltlich orientierte Minderheit der Aleviten war es in der jüngeren Geschichte der Türkei immer wieder gekommen, so etwa 1978 in Maraş, als bei einem von Faschisten angezettelten Massaker über 100 Menschen starben. In Istanbul kamen 1995 bei antialevitischen Ausschreitungen 19 Menschen um. In besonderer Weise hat sich Sivas allerdings ins Gedächtnis nicht nur der türkischen Aleviten eingeprägt. Das Pogrom markiert einen Wendepunkt der alevitischen Geschichte in der modernen Türkei, das lange geübte Versteckspiel gegenüber der sunnitischen Mehrheit nicht länger mitzumachen und selbstbewusst als gesellschaftliche Gruppe aufzutreten. Auch lässt sich das Gedenken an das Pogrom von Sivas eben nicht auf einen konfessionellen Minderheitenkonflikt reduzieren, sondern ist aufs engste mit dem allgemeinen Kampf um Bürgerrechte und Demokratie verbunden. Es erinnert daran, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und der Säkularismus unabdingbare Voraussetzungen jeder Emanzipation sind. Darin liegt auch die Bedeutung von Sivas für die heutige Protestbewegung in der Türkei.
Es gibt einen weiteren aktuellen Bezug zu Sivas: Angefeuert durch Erdoğans Brandreden gegen die Gezi-Park-Bewegung führen einige regierungsnahe Blätter und Politiker wie der AKP-Bürgermeister Ankaras, Melih Gökçek, Hetzkampagnen gegen in der Protestbewegung engagierte Künstler und Intellektuelle, die an die Lynchaufrufe vor dem Pogrom von Sivas erinnern. Über 100 Prominente, darunter der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, haben daher am Wochenende mit einer ganzseitigen Anzeige in großen türkischen Zeitungen ihrer Sorge über diese »Sprache des Hasses« Ausdruck verliehen.