Über soziale Selektion im deutschen Bildungssystem

Das Handicap der Herkunft

Arbeiterkind wird Arbeiter – dafür sorgt in den meisten Fällen das deutsche Bildungssystem. Zwei Studien bestätigen dies.

Wer hätte gedacht, dass die Bezeichnung »Arbeiterkind«, die selbst politisch und ökonomisch geschulten Menschen altmodisch erscheint, noch einmal in Mode kommen würde? Umso erstaunlicher ist es, dass der Begriff die Berichterstattung über die neueste Sozialerhebung zur Lage der Studierenden in Deutschland dominiert – in einer medialen Öffentlichkeit, die üblicherweise höchstens von »Milieus« zu sprechen wagt.
Dabei wird das Wort »Arbeiterkind« in der vom Deutschen Studentenwerk (DSW) herausgegebenen Studie gar nicht verwendet. Die Umfrage unter 15 000 Studierenden kommt zu dem für Menschen, die mit dem deutschen Bildungssystem vertraut sind, wenig überraschenden Ergebnis, dass noch immer die soziale Herkunft dafür ausschlaggebend ist, ob jemand studiert oder nicht. »Die grundlegende soziale Selektivität ist außerordentlich stabil«, sagt Dieter Timmermann, Präsident des DSW. Während 77 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien ein Studium aufnehmen, sind es bei den Kindern von Nichtakademikern lediglich 23 Prozent.

In den vergangenen 20 Jahren hat der Anteil der Studierenden aus Familien mit »niedriger Bildungsherkunft« der Studie zufolge kontinuierlich abgenommen. Die Wenigen, die es an die Universität schaffen, sind vor allem mit ihrer materiellen Absicherung beschäftigt. So stammen nach Angaben des DSW die meisten Studierenden, die zur Finanzierung ihres Studiums einen Kredit aufnehmen müssen, aus Facharbeiterfamilien. Ebenso sind es mehrheitlich Kinder von Nichtakademikern, die neben dem Studium arbeiten. Von den Ursachen des ungleichen Zugangs zur Universität indes sprechen die Verfasser der Studie nur im sozialwissenschaftlichen Jargon. So ist etwa die Rede von »Selektionsprozessen entlang sozialer Merkmale im Bildungsverlauf«. Timmermann fasst seine Kritik so zusammen: »Die hochschulpolitischen Schlüsselbegriffe unserer Zeit sind Exzellenz, Elite, Autonomie. Von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit ist kaum die Rede.« Da man in der Studie von den grundlegenden materiellen Verhältnissen selbst nicht sprechen mag, beschränken sich die Verfasser auf die Forderung nach Chancengleichheit in Form der Erhöhung der Bafög-Sätze.
Für bessere Aussichten auf ein erfolgreiches Studium von Arbeiterkindern engagiert sich die Organisation »Arbeiterkind«, die mit ihrem wachsenden Bekanntheitsgrad, ihrer Website arbeiterkind.de sowie Beratungs- und Mentorenprogrammen zur Renaissance des Begriffes beigetragen haben dürfte. Wie die Gründerin Katja Urbatsch der Jungle World sagt, müssten viele Schüler »erst einmal auf die Idee kommen, dass sie auch studieren können«. Hinzu kämen Zweifel, ob eine Ausbildung nicht sinnvoller sei als ein Studium. Häufig könne in der Familie »niemand Hilfestellung geben, oft sind die Eltern genauso verunsichert«. Entscheidend sei die Frage nach der Finanzierung des Studiums. »Wer keine Familie hat, die das Geld vorstrecken kann, hat es dann sehr schwer«, so Urbatsch.

Die Mentoren von »Arbeiterkind« helfen nicht nur bei der Entscheidung, sondern auch bei der habituellen Anpassung an das bildungsbürgerlich geprägte Milieu der Universität. Denn ist trotz aller Hürden der Entschluss gefasst, in der akademischen Welt Fuß zu fassen, mangelt es häufig nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern bisweilen am Wissen um die kulturellen Gepflogenheiten, die Akademiker ihrem Nachwuchs mitgeben. Viele werden durch die Sprach- und Umgangsformen verunsichert.
Bei solchen Schwierigkeiten im Alltag berät auch das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (Fikus) in Münster. Hier wird jedoch nicht nur beraten, Fikus kritisiert auch das geschlossene System der Universität und die Benachteiligung im Schulsystem. Die soziale Herkunft begreifen die Mitarbeiter des Referats nicht als Handicap des Einzelnen. »Die meisten studierenden Arbeiterkinder erleben die Fallstricke, denen sie ausgesetzt sind, und schlimmstenfalls ihr Scheitern an der Universität regelmäßig als Pech und individuelle Probleme«, sagen die Referenten Johann Strauß und Martin Scharle der Jungle World. Wichtig sei daher, »ein Bewusstsein darüber zu schaffen, dass Arbeiterkinder in unserer Gesellschaft systematisch schlecht wegkommen«. Eine Kritik an deren Benachteiligung an den Hochschulen müsse »immer auch die Kritik der politischen Verhältnisse sein, die eine Arbeiterklasse hervorbringen«, so die Mitarbeiter von Fikus.
Von einer solchen Kritik weit entfernt, dreht sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung alles um »Chancen« – so auch im ebenfalls kürzlich veröffentlichten und von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen »Chancenspiegel«, der die »Chancenstrukturen« im Schulsystem untersucht. Nachdem sie in der Vorjahresauflage der Studie bereits die Sekundarstufe betrachtet hatten, stellten die Forscher in diesem Jahr fest, dass »schon in der Grundschule der Bildungserfolg stark von der sozialen Herkunft abhängig« sei. So lägen Kinder aus »niedrigen Sozialschichten« mit ihrer Lesekompetenz durchschnittlich um ein Jahr zurück. Eine Lösung sehen die Autoren in Ganztagsschulen. Diese seien »gute Möglichkeiten, den Einfluss der sozialen Herkunft zu verringern«, konstatiert Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.
Selbst wegen solcher Analysen und Reformvorschläge gerieten die Bertelsmann-Studien in die Kritik. In diesem Jahr bemängelte der Präsident des Deutschen Philologenverbands, Heinz-Peter Meidinger, der Studie fehlten neue Erkenntnisse. Auch sei es irreführend, die Quote der Hochschulzugangsberechtigungen als Maßstab für Chancengerechtigkeit zu nehmen, vielmehr komme es auf die Studienbefähigung an. Bereits der »Chancenspiegel 2012« war kritisiert worden. Der Deutsche Lehrerverband hatte damals verlauten lassen, dass die Studie die »ausgesprochen vertikale Durchlässigkeit« des deutschen Bildungssystems nicht berücksichtige.
Zudem wird der Bertelsmann-Stiftung von konservativer Seite vorgeworfen, einer Vereinheitlichung des Schulsystems das Wort zu reden und Gleichmacherei zu propagieren. Wert- und Kulturkonservative betrauern offenbar das Ende einer kapitalistischen Ära, in der Arbeiterfamilien über Generationen Arbeiterfamilien blieben. Was die Bertelsmann-Stiftung fordert, dient hingegen auch der kapitalistischen Modernisierung: In Zeiten der Hochtechnologieproduktion benötigt das Kapital weniger schwielenübersäte Malocherpranken als brain power. Um diese Arbeitskraft in ausreichendem Maß verfügbar zu machen, sollen mehr Arbeiterkinder die Universitäten absolvieren – was hinsichtlich der Befreiung der Einzelnen aus dem überkommenen Mief des Milieus ja auch wünschenswert ist.

Was bleibt, ist die Angst bürgerlicher Kreise vor der vermeintlichen Nivellierung, die in den vergangenen Jahren in Initiativen wie »Aktionsbündnis gegliederte Schule« oder »Wir wollen lernen« Ausdruck fand. Viele bürgerliche Eltern befürchten für ihre Sprösslinge Nachteile, wenn diese länger als nötig gemeinsam mit dem Pöbel die Schulbank drücken.
Eine Sache wird bei der Debatte um Chancengleichheit jedoch übersehen: Ob Akademikerkind oder Arbeiterkind – wenn der Markt keinen Bedarf hat, ist das Studium für manche nur die Vorbereitung auf die Zeit in der Arbeitsagentur.