Die Graphic Novel »Jerusalem: A Family Portrait«

Ein veritabler Schubladenfund

Er kann »Dirty Dancing 2« und von der Staatsgründung Israels erzählen: Der amerikanische Filmemacher Boaz Yakin verarbeitet in der Graphic Novel »Jerusalem: A Family Portrait« die Erinnerungen seines Vaters.

Geschichten aus alten Tagen, erzählt von den eigenen Eltern – die Zeit kann dabei zäh vergehen. Es sei denn, man hat jemanden wie Moni Yakin zum Vater, dessen Anekdoten seinen Sohn Boaz derart faszinierten, dass er sie zur Grundlage einer Graphic Novel gemacht hat.
Moni Yakin stammt aus einer syrisch-jüdischen Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Jerusalem auswanderte. Als kleiner Junge erlebt er im britischen Mandatsgebiet die dramatischen Jahre unmittelbar vor und nach der israelischen Staatsgründung und verlässt das Land in den fünfziger Jahren Richtung Paris. Dort lernt er seine spätere Frau Mina kennen, die ebenfalls aus Israel kommt. Ihre gesamte Familie wurde während der Shoa von den Nazis ermordet. Das Paar zieht nach New York, wo Boaz Yakin 1966 zur Welt kommt und im zionistischen Geiste erzogen wird.
»Ich bin mit unzähligen spannenden Geschichten aus Jerusalem aufgewachsen«, sagt Boaz Yakin. »Und jedes Mal, wenn wir dort Urlaub gemacht haben, wurde meine Phantasie angeregt. Irgendwann habe ich beschlossen, mich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen.« Anfang der neunziger Jahre beginnt Boaz Yakin seine Recherche. Er liest jedes Buch zum Thema, das ihm in die Hände fällt, und quartiert sich für einige Monate bei seinem Onkel in Jerusalem ein. Er spricht mit Familienangehörigen, Zeitzeugen und Wissenschaftlern, um seine Eindrücke schließlich in einem Drehbuch zu verarbeiten.
»Mir war von Anfang an klar, dass daraus nichts werden konnte«, sagt Yakin. »Das Buch war am Ende mehr als 200 Seiten lang, enorm ambitioniert, und eine Verfilmung hätte Unsummen gekostet. Das Skript landete in der Schub­lade.« Bis er vor knapp zwei Jahren an einen Verlag geriet, der aus seinem Skript eine Graphic Novel machen wollte und eine Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Illustrator Nick Bertozzi vorschlug. »Es ist wundervoll, dass diese Geschichte in einem anderen Format zum Leben erweckt wurde«, sagt Yakin. Zwei zerstrittene Brüder und ihre Familien stehen im Zentrum der Handlung, die im April 1945 in Jerusalem beginnt und kurz nach der Staatsgründung 1948 endet. Da ist der frus­trierte Izak Halaby, der mit seiner impulsiven Frau Emily und fünf Kindern auf engstem Raum zusammenlebt, als Süßigkeitenverkäufer auf dem Markt arbeitet, unter Geldsorgen leidet und immer tiefer in die Krise gerät. Schuld an Izaks misslicher Lage ist vor allem sein wohlhabender Bruder Yakov, der ihn in einer Erbschaftsangelegenheit über den Tisch gezogen hat. Für zusätzliche Spannungen sorgen Izaks vier Söhne, die auf unterschiedliche Weise an den Konflikten ihrer Zeit beteiligt sind und darüber fast zu Feinden werden. Vor allem Avraham und Ezra geraten immer wieder aneinander: Avraham engagiert sich in der Kommunistischen Partei, den jüngeren Ezra zieht es in den Untergrund – er kann es gar nicht abwarten, endlich ein paar Briten in die Luft zu sprengen.
Die Stimmung ist düster. Es herrschen Angst, Hass und Unruhe. Verrat und Misstrauen liegen in der Luft, die meisten Figuren tragen grimmige Gesichter. So gelungen das Wechselspiel zwischen politischer und familiärer Ebene auch dargestellt sein mag, es hätte nicht geschadet, die ebenfalls herrschende Aufbruchstimmung der damaligen Zeit zu zeigen. Andererseits legt Yakin ja kein Geschichtsbuch vor, sondern einen Roman, in dessen zweiter Hälfte die Chronologie militärischer Auseinandersetzungen den roten Faden bildet. Nick Bertozzi liefert drastische Bilder dazu: Explosionen, Blut, Tote. Yakins Lesart der Ereignisse ist weit davon entfernt, sogenannten Israel-Kritikern in die Hände zu spielen. Im Gegenteil: Yakin, der sich als Zionist bezeichnet, erzählt die Geschichte mit Sympathie für die Staatsgründer und bleibt auch im Hinblick auf wenig glorreiche Episoden, wie die Einnahme von Deir Yasin, stets differenziert. Obgleich Frauen nicht nur in der Hagana eine wichtige Rolle spielten, lässt Yakin sie lediglich vereinzelt und als Randfiguren auftreten. Die Männer ziehen in den Kampf, während die Frauen sich die Haare kämmen – frei von Machismo ist das Buch also nicht.
Dass Leser mit geringen historischen Vorkenntnissen oftmals den Überblick verlieren und sich fragen dürften, wer da gerade warum und gegen wen kämpft, sieht Yakin positiv. »Ich habe anfangs überlegt, mit Fußnoten zu arbeiten«, sagt er. »Aber das hätte den Lesefluss zerstört. Ohnehin: Es war eine Zeit, in der ständig etwas Neues passierte. Ohne Erklärungen sind die Leser vielleicht so verwirrt, wie es meine Figuren auch sind. Das ist doch ein guter Effekt.«
Und wer weiß, vielleicht wird die Geschichte ja doch eines Tages noch verfilmt. Zu wünschen wäre es Yakin, der mit dem Verlauf seiner Karriere im Filmgeschäft nur bedingt glücklich ist. Als er 1994 mit »Fresh« seinen ersten Film als Regisseur vorlegte – zu dem er auch das Drehbuch schrieb –, galt Yakin als Hoffnungsträger des Independent-Kinos. Das Drama über einen Jungen, der zwei Drogenbosse gegeneinander ausspielt, wurde beim Sun­dance-Festival ausgezeichnet und lief im Rahmen der Festspiele in Cannes. Aber irgendetwas ging danach schief, heute zieren zahlreiche belanglose bis trashige Werke Yakins Filmographie. Er war Drehbuchautor des »Dirty Dan­cing«-Remakes (!) »Dirty Dancing 2 – Heiße Nächte auf Kuba« sowie der hanebüchenen Videospielverfilmung »Prince of Persia: Der Sand der Zeit« und führte Regie bei der miesen Komödie »Uptown Girls – Eine Zicke kommt selten allein«. Sympathischerweise redet sich Yakin diese teils kommerziell enorm erfolgreichen Produktionen nicht schön: »Wenn man im Rahmen des Studiosystems Filme macht, muss einem klar sein, dass man Teil einer Fabrik ist, in der Produkte hergestellt werden. Es ist immer wieder frustrierend, wie schwierig es ist, dort an interessanten Projekten zu arbeiten, die einem persönlich etwas bedeuten – aber vielleicht ist es auch nur für mich schwierig. Ich bewundere die Kollegen, denen das dauerhaft gelingt. Man muss schon enorm viel Zeit und Energie in erfüllende Projekte stecken, und das kann entmutigend wirken. Das letzte Mal habe ich das für meinen Film ›Death in Love‹ getan.«
»Death In Love« ist ein Psychodrama, das 2008 in nur wenigen amerikanischen Kinos gezeigt wurde. Erzählt wird von einer jüdischen Frau, die ihr Leben rettet, indem sie mit einem KZ-Arzt eine Affäre beginnt. Fast 50 Jahre später leiden sie und ihre Familie unter ihren Traumata, ihre beiden Söhne sind seelische Wracks. »Ich habe meine gesamten Ersparnisse in diesen Film gesteckt, so etwas kann ich natürlich nicht ständig machen«, sagt Yakin. »Ich hoffe, dass ich eines Tages für die Projekte, die mich interessieren und erfüllen, auch Geldgeber und Zuschauer finde, die mich auf meinem Weg begleiten wollen.«

Boaz Yakin/Nick Bertozzi: Jerusalem: A Family Portrait. First Second, New York 2013, 400 Seiten, ca. 18 Dollar (nicht auf Deutsch erschienen)