Der »Ums Ganze«-Kongress in Berlin

Lass uns reden

Am Wochenende beschäftigte sich ein Kongress in Berlin mit der Krise und der Linken.

»Dich versteht kein Arbeiter!« rief ein Teilnehmer beim dritten »Ums Ganze«-Kongress des gleichnamigen antikapitalistischen Bündnisses einem Referenten zu. Wer sich dennoch die Mühe des verstehenden Zuhörens gemacht hat, dem konnte am Ende des dreitägigen linken Ferienlagers an der TU Berlin klar sein: Es ist derzeit nicht die radikale Linke, die den Protestierenden weltweit erklärt, warum und wie sie sich gegen die staatliche Krisenpolitik wehren.

Der Kongress hat das Thema »Politik in der Krise. Denn sie wissen nicht: was tun?« Wer es ist, der nicht weiß, was zu tun ist, wird schnell deutlich: die radikale Linke in Deutschland. Zur Eröffnung erklären Vertreter und Vertreterinnen der Gruppe TOP Berlin, worum es gehen soll: um die Kämpfe gegen Staat, Nation, Kapital, Rassismus, Sexismus und die »gesamte Kackscheiße«. Es gibt vier Podiumsveranstaltungen und 35 Workshops.
Das erste Podium »Die hard – die autoritäre Wende des Neoliberalismus« muss leider auf den angekündigten Politikwissenschaftler John Kannankulam verzichten – und damit auf eine tatsächliche Kontroverse. Michael Heinrich und der Vertreter von TOP Berlin sind sich weitgehend einig: Zwar werde die Politik der europäischen Exekutive immer autoritärer. Die These von der »Entdemokratisierung« treffe jedoch nicht den Kern des Problems, denn wo sei das vorherige »Mehr« an Demokratie zu finden? Die Einschränkung von elementaren Bürgerrechten sei weniger als eine Symptom des Verfalls der liberalen Demokratie zu verstehen denn als ein »Klassenkampf von oben«, so Heinrich.

Der Begriff des Kämpfens fällt auch in auffallend vielen Workshops. Kämpfe, die in vielen anderen Ländern geführt werden, die sich hierzulande aber zum Bedauern des Großbündnisses einfach nicht einstellen wollen – so ist der Eindruck einiger Zuhörender. An diesem Tag ist es aber vor allem der Hausmeister der Universität, gegen dessen Vorschriften es zu kämpfen gilt: Hinweisschilder werden wegen angeblicher Brandschutzbestimmungen entfernt, die Verköstigung wäre fast an einer fehlenden Sondergenehmigung gescheitert. Auch am Samstag gibt es nur partielle Kontroversen. Auf der Podiumsveranstaltung »The twilight zone?«, bei der es um Geschlechterverhältnisse und Reproduktion geht, ergänzen sich Katharina Pühl und Juliane Karakayali perfekt: Die Reproduktion sei zwar im Kapitalismus immer in der Krise – zugleich veränderten sich aber ihre Bedingungen und ihre Subjekte in der derzeitigen Finanz- und Staatsschuldenkrise. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Frage, wie eine emanzipatorische Praxis in Zeiten der Krise möglich sei. Die fehlende Kontroverse mag bei diesem Podium auch daraus resultieren, dass die Publizistin Roswitha Scholz absagen musste. Eingerahmt wird das Podium von Workshops, morgens finden Diskussionen zu Geschlecht und Rassismus statt. Am Nachmittag liegt der Schwerpunkt auf der Bedeutung der Krise und ihrer Proteste für die Linke. Zum Szenegossip eignet sich der Dissens zweier »Ums Ganze«-Gruppen hinsichtlich »Blockupy«. Natürlich kommt auch der Titel des dritten Podiums nicht ohne die Anspielung auf einen Film aus. Unter der Überschrift »You can wake up now, the universe has ended« aus »Denn sie wissen nicht, was sie tun« diskutieren Roger Behrens, Jutta Ditfurth und Martin Glasenapp über neue Proteste und deren Subjekte. Und endlich zeigt sich, dass sich doch nicht alle einig darüber sind, wer wo und warum kämpft: Behrens kritisiert die aktionistische Begeisterung und klagt über das fehlende transzendente Moment der Proteste. Glasenapp freut sich hingegen, dass endlich etwas passiert, und ist »demütig« angesichts der Proteste. Und Ditfurth weist darauf hin, dass es auch vor 1990 eine Geschichte von Krise, Repression und Widerstand gab, die häufig vergessen werde. Ob sich jetzt nach den »bleiernen neunziger Jahren« (TOP Berlin) der Aufbruch in eine neue Zeit einstelle, sei fraglich. Die abendliche Party, für die jemand das Wort »Schwof« ausgebuddelt hat, dauert bis in die frühen Morgenstunden. Bei Musik und an das Publikum angepassten Getränkepreisen kommt es zu Klein- und Kleinstbündnissen der etwa 500 Teilnehmer.

Die lange Nacht schlägt sich nicht nur in den Gesichtern der Anwesenden nieder, sondern vor allem in der Anzahl der Abwesenden. Waren die vorherigen Veranstaltungen gut besucht, sind die Räume der am Sonntag optimistisch für elf Uhr angesetzten Workshops bestenfalls halb gefüllt. Die Vorstellung der Entwicklungen in Griechenland seit 2008 mit Vertretern der eigens aus Athen angereisten Gruppen »Alpha Kappa« und »Drasi« beginnt daher erst gegen zwölf Uhr. Es gibt eine kurze Zusammenfassung der Proteste seit dem Tod von Alexandros Grigoropoulos durch eine Polizeikugel. Dann sprechen die Referenten über die Krisensituation dort und die politischen Auswirkungen. Man hat ein wenig Mitleid mit den weit gereisten Gästen wegen des ungünstig gewählten Zeitpunkts. Gleichzeitig finden weitere Vorträge statt, viele befassen sich mit Fragen der Selbstorganisation. Nach der Mittagspause beginnt das letzte Podium. Unter dem Titel »No country for old men« stellen die Athener, ein Vertreter der englischen Gruppe »Plan C« und das »Ums Ganze«-Bündnis Perspektiven transnationaler Vernetzung vor. Nach drei Tagen Diskussion hat sich das Bündnis (selbst)kritisch und auf der Höhe der Zeit gezeigt. Die Pluralität der Themen sowie der Versuch, Praxis und Theorie zusammenzudenken, sind wichtige Schritte, um ein heterogenes Bündnis wie »Ums Ganze« voranzubringen. Dass auf die Ausgangsfrage nach einer adäquaten Reaktion der radikalen Linken auf die Krise und ihrer Teilnahme an Protesten keine umfassende Antwort gefunden wurde, ist den Veranstaltern nicht zum Vorwurf zu machen. Schließlich soll man ja, um das Mögliche zu schaffen, das Unmögliche denken.