Über die Parallele zwischen Ägypten und Tunesien

Tamarod auf tunesisch

Die politischen Erschütterungen, die die ägyptischen Ereignisse international auslösen, haben auch Tunesien erfasst.

Es war ein schwerer Schock für die islamistische Regierungspartei al-Nahda, dass der ägyptische Präsident Mohammed Mursi Mitte voriger Woche nach den größten Demonstrationen, die die Welt je gesehen hat, vom ägyptischen Militär unsanft aus dem Amt befördert wurde. Der Vorsitzende von al-Nahda, Rachid Ghannouchi, war in einem Kommuniqué am 1. Juli, nach den Großdemons­trationen, der ägyptischen Schwesterpartei noch zur Seite gesprungen: »Ägypten bleibt das Herz der Umma (der islamischen Gemeinschaft, Anm. d. Red.). Von Tunesien ausgegangen, sind die arabischen Revolutionen nach der glorreichen ägyptischen Revolution ein Frühling geworden. Es gibt keine Alternative zum Dialog unter Ägyptern (…) unter Respektierung der demokratischen Le­gitimität.« Nach Mursis Sturz verurteilte al-Nahda den »Putsch« des ägyptischen Militärs, und nachdem es am Montag etwa 50 Anhänger Mursis erschossen hatte, bezeichnete al-Nahda dies markig als »Verbrechen gegen die Menschheit«. Die tunesische Tageszeitung La Presse hingegen spekulierte über eine mögliche »Ansteckung, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass die von den ägyptischen Muslimbrüdern begangenen Irrtümer mit denen übereinstimmen, in die die Regierung verfallen ist«, die tunesische natürlich.

Nach dem Vorbild der ägyptischen Tamarod-Bewegung hat sich nun auch eine Organisation mit demselben Namen in Tunesien gegründet. Sie sammelt Unterschriften »für neue freie Wahlen« und dafür, dass die verfassunggebende Versammlung (ANC) in Tunesien aufgelöst wird – eine Forderung, die zunächst Béji CaÏd Essebsi von der oppositionellen Partei Nida Tounès aufstellte, die mittlerweile aber auch der linke Front populaire vertritt. Die ANC sollte innerhalb eines Jahres nach den Wahlen von Oktober 2011 eine neue Verfassung schreiben. Aber bis heute ist keine zustande gekommen, zu unversöhnlich scheinen die Gegensätze zwischen den Islamisten und den eher säkularen Oppositionsparteien. Ein Termin für Neuwahlen steht nicht fest, kurz, der Übergangsprozess ist ins Stocken geraten.
Fast schon beschwörend zitiert die französische Tageszeitung Le Monde unter der Überschrift »Tunesien, letzte Chance des ›arabischen Frühlings‹« den französischen Präsidenten François Hollande auf seinem Staatsbesuch mit den Worten gegenüber seinen tunesischen Gesprächspartnern: »Sie haben die Verpflichtung, Erfolg zu haben.« Ghannouchi, so heißt es in dem Editorial weiter, meine heute, die Entwicklung des Landes rechtfertige und bestätige seine »Strategie der Zugeständnisse«. Diese Haltung stünde bislang, so Le Monde, im Gegensatz zu der der ägyptischen Muslimbrüder, die in ihrem Land alles gängeln wollten.
Sicherlich hat al-Nahda nicht darauf bestanden, dass in der Verfassung die Sharia als Rechtsquelle erwähnt wird, und sie regiert zusammen mit zwei nicht-islamistischen Parteien, die sich allerdings beide wegen ihrer Kooperation mit al-Nahda in einer schweren Krise befinden. Aber Kamel Jendoubi, ein 17 Jahre lang in Frankreich exilierter Menschenrechtler und ehemaliger Vorsitzender der Wahlkommission ISIE, die die Wahlen von Oktober 2011 vorbereitete, sieht darin keine »Zugeständnisse«. In einem Interview, das am 4. Juli auf dem Blog der französischen Zeitung Ouest France erschien, sagte er: »Ihr Erfolg besteht darin, dass sie glauben machen, sie hätten Zugeständnisse gemacht. Während sie solche nie gemacht haben.« Jendoubi erinnerte an das nach einem gemeinsamen Hungerstreik von Islamisten, Liberalen und Linken gegen den damaligen autoritären Machthaber Zine al-Abidine Ben Ali gegründete »Kollektiv des 18. Oktober für die Freiheiten«, das zwischen 2005 und 2008 drei grundlegende Texte veröffentlichte, in denen sich Säkulare und al-Nahda darauf einigten, für einen zivilen Staat, die Gleichheit von Männern und Frauen und die Menschenrechte einzutreten. Erst nach ihrem Machtantritt hätten die Islamisten dies wieder in Frage gestellt. Und die mit den Islamisten koalierenden Parteien, der Kongress für die Republik und die sozialdemokratische Partei Ettakatol, seien »Alibis«, sie hätten in Tunesien keinerlei Gewicht.

Im Übrigen verwies Jendoubi auf ein allgemein übersehenes Detail, das die strategische Aneignung des Staats durch die Islamisten belege. »Es gibt ein Ministerium, über das selten geredet wird, das Landwirtschaftsministerium. Das ist für sie strategisch. Von wem hängen die Wald­hüter von Chaambi ab?« fragte er rhetorisch. »Von diesem Ministerium. Warum hat man sie seit dem Machtantritt al-Nahdas ausgetauscht?« Auf dem Berg Chaambi nahe der algerischen Grenze fanden in den vergangenen Monaten großangelegte Aktionen von Nationalgarde und Militär gegen, wie es offiziell hieß, bewaffnete Jihadisten statt, mindestens 15 Mitglieder von Nationalgarde und Armee wurden verletzt, als sie auf selbstgebaute Minen traten. Im Juni wurde ein Waldhüter, der Militärkleidung dabei hatte, in der Re­gion verhaftet, aber offenbar wurden bislang nur Unterstützer der Jihadisten verhaftet. Jendoubi legt somit nahe, dass es eine strategische Verbindung zwischen al-Nahda und jihadistischen Gruppen gibt.
Sollte sich dies bestätigen, sieht es für den Demokratisierungsprozess düster aus. Vielleicht dachte Rachid Ammar, der ehemalige Generalstabschef, daran, als er kürzlich bei seiner Rücktrittsrede vor einer »Somalisierung« Tunesiens warnte.