Sieht bei der Pride Parade die Gefahr der Indentitätspolitik

Vergiss es!

Auch in der Behinderten- und Psychiatriepolitik gilt: Interessenpolitik nützt, Identitätspolitik schadet den Einzelnen.

»Wir wollen eine Gesellschaft, die bereit ist, Barrieren abzubauen.« Geht klar, ohne Zweifel. »Wir hinterfragen den kapitalistischen Zwang, funktionieren zu müssen, um zu (über)leben, Leistungen zu bringen, um anerkannt zu sein.« Gute Sache, keine Frage. »Auf Stigmatisierungen und Ausgrenzungen haben wir keine Lust.« Durch und durch verständlich.
So verhält es sich mit etlichen Aussagen, die im Aufruf zur bevorstehenden »Mad & Disability Pride Parade« in Berlin zu finden sind. »Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme, Eigensinnige und Blinde, Kranke und Normalgestörte« sind zu ihr eingeladen. Die Kritik an mangelnder Barrierefreiheit, an Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen und daran, von Behörden und medizinischen Instanzen verwaltet und durch Sparmaßnahmen, etwa im Bereich der Assistenz, der Möglichkeit einer eigenständigen Lebensführung beraubt zu werden, dürfte den Verfasserinnen und Verfassern des Aufrufs ganz zu Recht ungeteilte Zustimmung einbringen.
Anders verhält es sich mit weiteren zentralen Aussagen. »Beeinträchtigt- oder Verrücktsein ist nicht schrecklich«, heißt es etwa an einer Stelle. Es bedarf keiner empirischen Studie, um sagen zu können, dass diese Behauptung falsch ist. Jemand, der sich wegen schwerer Depressionen mit Suizidgedanken herumschleppt, wird dieses Postulat jedenfalls nicht unterschreiben. »So, wie wir sind, sind wir richtig!« käme jemandem nur schwer über die Lippen, der nach einem Motorradunfall querschnittsgelähmt ist. Stolz darauf zu sein, »dass wir sind, wie wir sind«, dürfte einem Schizophrenen schwerfallen, der sich wegen eines akuten paranoiden Schubs vor seinen Wahnvorstellungen zu Tode ängstigt. Verrückt- oder Beeinträchtigtsein ist in vielen Fällen durchaus schrecklich und ganz und gar nicht richtig. Ein »Wir«, das anderes behauptet, unterschlägt das Leid Einzelner und ihren Anspruch auf Hilfe, Besserung und Heilung.

Wo es hinführen kann, wenn ein solches »Wir« zu wissen beansprucht, was richtig für die eingemeindeten Einzelnen ist, ließ sich am Beispiel der Diskussion über Cochlea-Implantate beobachten, die taube Menschen in den USA führten. Wenn solche Implantate tauben Kindern in geringem Alter eingesetzt werden, können sich die für das Hören zuständigen Hirnregionen ausreichend entwickeln, die Kinder können später oral kommunizieren, obwohl die Implantate bislang noch nicht die 100prozentige Hörfähigkeit gewährleisten. Eine Fraktion der deaf community lehnte Implantationen bei tauben Kindern jedoch vehement ab, da sie zum einen zum Aussterben der Zeichensprache beitrügen und deshalb eine Bedrohung für die »Gehörlosenkultur« seien oder gar zu einem »kulturellen Genozid« führten. Ein weiteres Argument besagte, dass es am Taubsein nichts zu verändern oder verbessern gebe. »So, wie wir sind, sind wir richtig!« hätte auch dort gut als Slogan für das Ansinnen dienen können, Kindern die Möglichkeit des Hörens vorzuenthalten.
Nun kann man den Verfassern des Aufrufs zur »Mad & Disability Pride Parade« eine solche kleinstkulturelle Identitätshuberei, mit der zwangsläufig die Missachtung des Wohls der Einzelnen einhergeht, nicht vorwerfen. Schließlich zeugen die zahlreichen Forderungen, in denen es um ganz konkrete Bedürfnisse und Verbesserungen im Alltag behinderter und psychisch kranker Menschen geht, von einem Sinn für Interessenpolitik. Doch warum nicht ohne das »Wir«, an dem noch dazu alles »richtig« ist?

Anregung hätte man sich von Thomas Quasthoff holen können. Der Welt sagte der bekannte Bassbariton und Professor für Gesang, der mit einer Conterganschädigung geboren wurde und nur 1,34 Meter groß ist, vor einigen Jahren: »Ich habe die Chance, eben nicht nur zu der Randgruppe Behinderte zu zählen. Ich bestehe darauf, diese Chance wahrzunehmen.« Das Interview beendete er mit dem Satz: »Ich kann meine Behinderung sogar zeitweilig mal vergessen.« Es ist falsch, ein »Wir« zu postulieren, mit dem man den Einzelnen, ihren Bedürfnissen und auch ihrem Leid nicht gerecht wird und mit dem man noch dazu das Bestehen der Randgruppe affirmiert, das man kritisieren will. Zu fordern wäre vielmehr, nicht länger zu einer Randgruppe gemacht zu werden. Nicht weniger gilt es zu verlangen, als Krankheit und Behinderung vergessen zu können – durch Linderung, Besserung, Heilung und eine bestmögliche Einrichtung der Umwelt auf die Bedürfnisse. Das wäre dann tatsächlich eine ganz verrückte Sache.