Über den NSU-Prozess

In Bayern ist die Welt nicht in Ordnung

Während am Münchner Landgericht die Beweisaufnahme zu den Morden des NSU begonnen hat, legt der NSU-Untersuchungssausschuss des bayerischen Landtags ­seine Ergebnisse vor und übt scharfe Kritik an der Arbeit der Sicherheitsbehörden.

Am Anfang war der Hosenanzug. Monatelang hatten Medien, Politik und die Münchner Justiz sich eine wahre Schlacht darum geliefert, wer vom NSU-Prozess berichten darf. Dass die Richter zunächst keine türkischen Medien berücksichtigt hatten, löste gar internationale diplomatische Konflikte aus. Mehr als 100 Verhandlungstermine, 600 Zeugen, 86 Nebenkläger, 62 Anwälten, acht Berufsrichter – als der in jeder Hinsicht ­rekordverdächtige Prozess am 6. Mai begann, schauten Journalisten aus der ganzen Welt auf das Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße. Am meisten interessierten sie sich für die Kleidung der »Nazi-Braut« Beate Zschäpe, die nach Meinung vieler Kommentatoren die Dreistigkeit besaß, »wie ihre eigene Anwältin« (Tagesspiegel) im Gerichtsaal zu erscheinen. Danach folgte die Berichterstattung den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie – und das Interesse ließ ebenso stark nach, wie die Erregung in den Wochen zuvor angestiegen war.

Mehr als 20 Verhandlungstermine sind seither vergangen, bei denen nur wenige verfolgten, wie Beate Zschäpe sich wunderte, warum »sich die Uwes trotz ihres Elternhauses so entwickelt haben«, oder wie Polizisten berichteten, wie Zschäpe sie bei einer Zigarette in der Zwickauer Wache nach dem Befinden ihrer Katzen fragte. Hitzig wurde es erst wieder vor kurzem, als einer der Opferanwälte dem als Zeugen geladenen Münchner Mordermittler Josef Wilfling vorwarf, die rechtsextremen Hintergründe im Mordfall Habil Kilic im Jahr 2001 nicht ausreichend geprüft zu haben. Der Fall Kilic war der vierte Mord der Neonazi-Terroristen. »Man darf nicht den Fehler machen, das mit dem heutigen Wissen zu beurteilen. Wir sind keine, die auf dem rechten Auge blind sind«, sagte Wilfling. Er verteidigte die Tatsache, dass die Polizei Verbindungen zum Drogenmilieu geprüft hat. »Jetzt soll man mal bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt.« Am Ende schrien er und der Anwalt sich derart an, dass der Richter die Sitzung unterbrechen musste, damit sich beide wieder beruhigten. Mehrere Tage beschäftigte sich das Gericht mit der Brandstiftung im Zwickauer Wohnhaus, die von Zschäpe verübt worden sein soll. Vor allem wollte es klären, ob Zschäpe den möglichen Tod zweier Handwerker, die für kurze Zeit nicht im Haus waren, als das Feuer gelegt worden war, in Kauf genommen habe oder nicht. Zuvor hatte das Gericht Carsten S. befragt – den einzigen der fünf Angeklagten, der bislang ausgesagt hat. Er gab zu, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe eine Waffe besorgt zu haben – höchstwahrscheinlich jene Pistole der Marke »Ceska«, mit der die Terroristen neun Menschen ermordeten. Auftraggeber dafür sei, so S., der Mitangeklagte Ralf Wohlleben gewesen. S. weigerte sich anschließend, Fragen von Wohllebens Verteidigern zu beantworten. »Ich fühle mich schuldig«, sagte S., der nach eigenen Angaben kurz darauf aus der rechten Szene ausgestiegen war, während der Verhandlung zu den Angehörigen der Opfer. Er könne »nicht ermessen, was Ihren Angehörigen für unglaubliches Leid, Unrecht angetan wurde«. Deren Anwälte werteten dies teils als »ziemlich überzeugend«, teils als »Schutzbehauptung«.
Der Angeklagte André E. versuchte ohne Erfolg, sich von der Hauptverhandlung beurlauben zu lassen. Er hatte beantragt, bei der Verhandlung der sogenannten Ceska-Morde nicht teilnehmen zu müssen, da ihm hieran keine Beteiligung vorgeworfen wird. Das Gericht lehnte dies jedoch ab.

Im Juni war bekannt geworden, dass Zschäpe aus dem Knast eine Brieffreundschaft mit dem Dortmunder Neonazi Robin S. unterhält. Sie hatte ihm mindestens einen 26 Seiten langen Brief geschrieben. Daraufhin beantragten die Opfervertreter, S. als Zeugen zu hören. Sie wollen Verbindungen der Rechtsterroristen zur Neonaziszene in Dortmund und Kassel prüfen. Die Nebenklage glaubt, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos 2006 auf einem Konzert der rechten Band »Oidoxie« den Neonazi Sebastian S. getroffen haben. Der soll als V-Mann für den Verfassungsschutz tätig gewesen sein – und Kontakt zu Robin S. gehabt haben. Auch Sebastian S. soll nach dem Willen der Opferanwälte vor Gericht verhört wer­den. »Es wird bewiesen werden, dass Frau Zschäpe nach wie vor Kontakt in die gewalttätige Neo­nazi-Szene hält«, sagte Opferanwalt Thomas Bliwier. Die Bundesanwaltschaft lehnt die Vernehmung von Zschäpes Brieffreund ab. »Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass bereits vor der Inhaftierung ein Kontakt bestanden hat«, sagte Oberstaatsanwältin Anette Greger. Das Gericht hat über die Anträge noch nicht entschieden. Am Mittwoch voriger Woche setzte es Verhandlungstermine bis Ende 2014 an. Bis dahin hatte der Prozess bereits im Januar kommenden Jahres ­enden sollen.
Der Thüringer Verfassungsschutz räumte derweil die Existenz einer weiteren, bisher offenbar unbekannten Quelle im direkten Unterstützerkreis des späteren NSU-Trios ein: Der Geheimdienst schöpfte zwei Jahre lang die frühere Lebensgefährtin von Ralf Wohlleben ab. Der gilt als einer der wichtigsten Helfer der Terrorzelle, nachdem sie 1998 in den Untergrund gegangen war. Wohlleben ist im Münchner NSU-Prozess mit angeklagt. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags zum NSU fand mehr als zehn Quittungen, die die Frau mit dem Decknamen »Jule« zwischen 1998 und 1999 als »Gewährsperson« abgezeichnet hatte. In jener Zeit soll Wohlleben für den NSU Geld, Kontakte und – gemeinsam mit Carsten S. – Waffen organisiert haben. Der VS hatte dies dem Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss bislang offenbar verschwiegen, was die SPD-Abgeordnete Dorothea Marx »eine Frechheit« nannte. Der Thüringer VS bestätigte die Berichte, erklärte aber, die Untersuchungsausschüsse des Bundestags und des Thüringer Landtags »seit längerer Zeit« unterrichtet zu haben: Die Akten zu »Jule« seien in den ersten drei Ordnern gewesen, die den Ausschüssen zur Verfügung gestellt worden seien. Sie lägen »seit mehr als einem Jahr vollständig und in ungeschwärzter Form vor«. Die Obfrau der Linkspartei im Thüringer Untersuchungsausschuss, Martina Renner, sagte hingegen, hier werde »an zentraler Stelle gemauert, gelogen und vertuscht«.

Am Dienstag stellte der NSU-Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags seinen Abschlussbericht vor. Ein Jahr lang hatten die Abgeordneten 400 Akten ausgewertet und 50 Zeugen gehört. Das Gremium war sich einig: Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft haben die Gefahr des Rechtsextremismus unterschätzt. Die Ermittler hätten nach den NSU-Morden zu lange an organisierte Kriminalität als Motiv gedacht. Fünf der zehn NSU-Opfer wurden in Bayern ermordet. Den Mitarbeitern des Verfassungsschutzes, die in den neunziger Jahren den Rechtsextremismus beobachteten, wirft der Ausschuss fehlende Kompetenz vor. Die Behörde habe nicht registriert, wie sich die Szene veränderte und radikalisierte. Nach Meinung der Abgeordneten war dies nicht einer Unterbesetzung des VS geschuldet. Der Süddeutschen Zeitung zufolge leistet sich kein anderes Bundesland einen so großen Verfassungsschutz wie Bayern – mit 450 Mitarbeitern und einem Etat von etwa 25 Millionen Euro, wovon allein 1,65 Millionen für »besondere Zwecke« ­bereitstehen, unter anderem für Honorare für V-Leute.
Susanna Tausendfreund, die für die Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss sitzt, sprach von ­einem »klaren Versagen der Sicherheitsbehörden in Bayern«. Nach den bisherigen Erkenntnissen sei der Einsatz von V-Leuten in der rechtsextremen Szene in der Vergangenheit »so desaströs, dass zumindest sehr zweifelhaft ist, ob der durch den Einsatz von V-Leuten erzielte Nutzen größer ist als der dadurch verursachte Schaden«, sagte Tausendfreund. SPD und Grüne fordern, der Inlandsgeheimdienst solle nur »gewaltbereite Extremisten« beobachten, nicht aber »Altkommunisten«. Auf V-Leute solle er ganz verzichten. CSU und FDP tragen das nicht mit.
Eine Woche zuvor, am 10. Juli, durchsuchten 700 Polizisten in Bayern rund 70 Wohnungen und Arbeitsplätze von Personen, die dem »Freien Netz Süd« (FNS) zugerechnet werden. Das seit Ende 2008 aktive FNS gilt als Sammelbecken fast aller rechtsextremen Kameradschaften Bayerns. Es war die größte vereinsrechtliche Maßnahme gegen Rechtsextreme, die es in dem Bundesland jemals gegeben hat. Die Polizei fand Karabiner, eine Pistole, Handgranaten, Bajonette, ein Schlachterbeil, Hitlerbilder und Hakenkreuzfahnen. Festnahmen gab es nicht. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte, bei der Razzia sollte Beweismaterial für ein Verbotsverfahren gegen das Neonazi-Netzwerk gesammelt werden. Schon vor einem Jahr hatten alle im bayerischen Landtag vertretenen Parteien ein Verbot des FNS gefordert, was bislang allerdings folgenlos geblieben war. Im Münchner Stadtteil Obermenzing durchsuchte die Polizei dabei auch das sogenannte »Braune Haus«. Das von Rechtsextremen aus dem Umfeld der NPD schwer gesicherte Gebäude ist ein Treffpunkt der Naziszene – und soll zwischenzeitlich Unterkunft für den angeklagten, aber nicht in Untersuchunghaft sitzenden mutmaßlichen NSU-Helfer André E. gewesen sein, während der am Prozess am Münchner Landgericht teilnehmen muss. Dieser Umstand gilt den Behörden als Indiz dafür, dass der NSU auch in München Unterstützer hat. Im Adressbuch des toten NSU-Terroristen Uwe Mundlos hatte die Polizei auch den Namen des FNS-Anführers Matthias Fischer, einem aktiven Neonazi aus Fürth, gefunden.