Abdruck aus dem Roman »Genau mein Beutelschema«

Das ist hier nicht die Bronx

Sebastian Lehmann erkundet ein deutsches Dorf und trifft dabei auf Dr. Alban und Christina Aguilera.

Quit playing games with my heart

Ich kann nicht glauben, dass sie hier wirklich dieses Lied spielen. Aber die Leute auf der Tanzfläche rasten aus, werfen ihre Hände in die Luft und singen lauthals mit:
»Quit playing games with my heart.«
Ich schaue mich um. Wahrscheinlich waren die alle noch nicht mal in der Schule, als dieses Lied rauskam, ich scheine der Einzige zu sein, der es aus den neunziger Jahren kennt und hasst. Wie alt war ich damals? 16 vielleicht? »Quit playing games with my heart.«
Erinnerungen an meine Schulzeit blitzen auf, Englischstunde bei Mrs. Franzen. Bravo-Starschnitte mit den grinsenden Gesichtern der Backstreet Boys gingen durch die Reihen, und wir Jungs bemalten sie mit Hitlerbärtchen, schließlich verachteten wir Boybands von ganzem Herzen. Aber im Grunde waren wir nur neidisch, weil unsere Angebeteten aus der letzten Reihe Nick Carter viel süßer fanden als uns und lieber mit den 18jährigen aus der Oberstufe gingen. Hört auf, Spielchen mit meinem Herz zu spielen. Eigentlich war das damals ein Song über mich.
Und jetzt muss ich mir das wieder anhören. Solche Musik hätte ich vielleicht bei Ü30-Partys erwartet, aber nicht in einem illegalen Kellerclub in Neukölln. Inzwischen sind also die neunziger Jahre wieder angesagt. Stecken wir nicht noch mitten im Achtziger-Jahre-Revival? Langsam verliere ich den Anschluss.
»Quit playing games with my heart.«
Wie lange dauert dieses Lied denn? Und besteht es nur aus dem Refrain?
Ich gehe zur Bar, die aus einem dilettantisch zusammengezimmerten Holztresen besteht, und bestelle ein Bier.
»Sold out.« Der dürre Barkeeper, der eine lila Federboa trägt, blinzelt mich gelangweilt an. »There’s only Club-Mate-Wodka left«, sagt er in einem hessisch eingefärbten Englisch. Er deutet auf den heruntergekommenen Kühlschrank hinter sich, gefüllt mit unzähligen Flaschen des aufputschenden Teegetränks.
»Okay, then I’ll take one«, sage ich, und der Barkeeper stellt eine große Mate-Flasche vor mich auf den Tresen, ich muss etwas abtrinken, er füllt mit Wodka auf, schüttelt die Flasche kurz und händigt sie mir aus. Sofort nehme ich einen großen Schluck. Ich wünschte, ich wäre jetzt so richtig betrunken, aber wahrscheinlich kann man sich diese Musik nicht einmal schön­trinken. Ich dachte, in Neuköllner Clubs spielen sie nur komplizierten Elektro oder deepen Tech-House. Aber nein. Außer, man würde »It’s My Life« von Dr. Alban als Elektro bezeichnen.
Die Tanzenden sehen auch nicht gerade so aus, als würden sie zu Hause solch schreckliche Chart-Mucke aus dem vorletzten Jahrzehnt hören. Sie tragen ausgelatschte Bauernstiefel, hautenge Röhrenjeans und ausgeleierte Over­size-T-Shirts mit Brustausschnitten, die beinahe bis zum Bauchnabel reichen, außerdem kleine Wollmützen und riesenhafte Rundschals, obwohl es hier im Keller bestimmt 30 Grad sind. Ihr wichtigstes Utensil hängt ihnen lässig über der Schulter: ein Stoffbeutel, bedruckt mit grotesk-lustigen Sprüchen, wie zum Beispiel »Du hast keine Angst vorm Hermannplatz« oder »Deine Kinder sind hässlich und dumm. Ich hasse dich, geh doch zurück nach Prenzlberg und trink Bionade, bis du kotzen musst«. Frauen und Männer unterscheiden sich kein bisschen. In Neukölln wurde das dritte Geschlecht erfunden: das Hipster.
»Du tanzt ja gar nicht«, sagt jemand hinter mir, aber in diesem Moment beginnt gerade der schreckliche Neunziger-Trash-Hit »Coco Jamboo« von Mr. President.
»Die Musik«, stammle ich, drehe mich um und schaue einer mir völlig unbekannten, aber ziemlich gutaussehenden Frau in die pastellblauen Augen. Sie trägt ausgelatschte Bauernstiefel, hautenge Röhrenjeans und ein riesiges Oversize-T-Shirt. Auf ihrem Stoffbeutel steht: »Shut up and sleep with me.« Das irritiert mich kurz, aber ich nehme es als gutes Omen.
»Was ist mit der Musik?« fragt sie und fährt sich mit der Hand durch ihren hellblond gefärbten Undercut.
»Scheißmusik«, präzisiere ich. Ich sollte langsam anfangen, richtige Sätze zu bilden. Schon wieder muss ich an meine Englischlehrerin Mrs. Franzen denken, wie sie mich immer ermahnte: »Please answer in a whole sentence.«
»Als das Lied rauskam, war ich gerade sechs.« Sie lächelt mich an.
Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. Vielleicht sollte ich mir erst mal ihren Ausweis zeigen lassen, bevor das hier weitergeht.
»Dann bist du noch ziemlich jung?« rufe ich ihr ins Ohr.
Jetzt lächelt sie nicht mehr.
»Ich bin 21 Jahre alt, habe letztes Jahr mein Kommunikationsdesign-Studium mit einem Bachelor of Arts abgeschlossen und arbeite jetzt bei Universal als A & R-Managerin.«
Das ist ja schrecklich. Mit 21 habe ich damals vor zehn Jahren mein Studium ja erst angefangen. Wahrscheinlich verdient dieses junge Ding auch noch doppelt so viel wie ich.
Ich versuche zu lachen, als hätte sie gerade einen Witz gemacht, aber ich ahne schon, dass das ihr purer Ernst war.
»Mir kommt es immer so vor, als seien die Neunziger gerade erst vorbei«, sage ich, werde allerdings von einem ohrenbetäubenden Chor unterbrochen: der Anfang des uralten Hits »Happy People« von Marky Mark.
Meine junge Gesprächspartnerin hüpft sofort los und macht dabei hysterische Armbewegungen. Das sieht ein bisschen lächerlich aus, aber auch ziemlich happy. Dann hört sie zum Glück wieder auf, beugt sich vor und schreit mir ins Ohr: »Wie heißt du?« Dabei kann ich ihren Atem riechen. Er riecht nach Rauch und Club Mate mit einer Note Wodka.
»Ich heiße Marky Mark«, sage ich.
Ich kann mich übrigens grundsätzlich nicht beherrschen, jeden schlechten Witz zu machen, der sich aufdrängt. Aber meine junge Gesprächspartnerin lächelt zum Glück.
»Mein Name ist Christina Aguilera. Vielleicht wollen wir was trinken an der Bar? Was meinst du, Marky?«
Ich überlege, einen Witz über sie als »Genie in a Bottle« zu machen, beherrsche mich aber gerade noch. Christina Aguilera zieht mich durch die Menschenmenge zur Bar und bestellt auf Englisch zwei Wodka-Shots beim hessischen Barkeeper. Wir stoßen an und exen die kleinen Plastikbecher. Sie verzieht kurz ihr Gesicht, und das sieht natürlich wahnsinnig niedlich aus.
»Warum tanzt du denn nicht, Marky?« fragt sie. »Das ist doch deine Musik.«
»Genau deswegen. Außerdem bin ich doch jetzt Schauspieler.«
»Stimmt, besonders gut hast du mir als Dirk Diggler in ›Boogie Nights‹ gefallen.«
Ich verschlucke mich an meiner Mate, aber Christina hat sich schon wieder dem Barkeeper zugewandt und verhandelt über eine zweite Runde Wodka. Wir exen abermals die kleinen Becher, und langsam verfliegt meine Nervosität. Ein bisschen eingeschüchtert bin ich doch, man wird schließlich nicht jeden Tag von hübschen Frauen angesprochen. Und Christina Aguilera fällt hier trotz ihrer Neukölln-Uniform auf. Da kann man auch mal über ihre straighte Karriere im bösen Musikbusiness hinwegsehen.
»Bist du hier öfter?« frage ich schließlich, weil mir nichts Besseres einfällt.
»Der Club hat doch erst letzte Woche aufgemacht.«
Vielleicht sollte ich den Spruch auf ihrem Stoffbeutel wirklich ernst nehmen, zumindest den ersten Teil.
»Irgendwie kommst du mir bekannt vor«, sagt Christina, plötzlich ziemlich ernst dreinschauend.
»Ich bin ja auch sehr berühmt«, sage ich.
»Berühmt ja, aber für was?«
»Na ja, ›Dirrty‹ ist jetzt auch nicht gerade das komplexeste und anspruchsvollste Lied.«
»Aber meine Stimme, Marky. Die ist ja wohl spektakulär.« Sie berührt mich beiläufig und lässt ihre Hand ein wenig zu lange auf meinem Arm liegen.
»Ich hab eigentlich nie so sehr auf die Musik geachtet, mich haben eher die Videos interessiert.«
»Dagegen ist der Text von ›Happy People‹ wirklich ein lyrisches Meisterwerk.« Christina beugt sich vor und singt mir noch mal das ge­rade verklungene Lied ins Ohr:
I want to see more happy people
Happy people want to see more happy people
Where are all those happy people?
Sie kann zwar nicht so schön röhren wie ihre Namensvetterin, aber ich bin jetzt trotzdem auch ziemlich happy. Das scheint doch alles gar nicht so schlecht zu laufen.
Auf einmal steht ein Typ neben uns und flüstert Christina Aguilera etwas zu. Er trägt eine dieser riesigen schwarzen Brillen, die man aus Fernsehdokus über die Achtundsechziger-Proteste und von alten Familienfotos kennt. Nerd-Brillen heißen die inzwischen. Ansonsten sieht er natürlich genauso aus wie alle hier. Auf seinem Stoffbeutel steht: »Ich bin intelligenter und fotogener als du.«
»Mein Kollege Dr. Alban«, stellt Christina ihn mir vor. »Und das ist Marky Mark.« Sie deutet auf mich. Ich muss unkontrolliert lachen, da macht noch jemand gern schlechte Witze. Dr. Alban hält mir aber unbeeindruckt seine Hand hin.
»Unterhaltet euch. Ich geh aufs Klo«, ruft Christina und stolpert Richtung Ausgang.
»Ich bin nicht ihr Freund«, sagt Dr. Alban und sieht mich ausdruckslos an.
Na toll, dann wohl ihr Beschützer, auch nicht besser.
Schon wieder beginnt ein neuer Song, »Hyper Hyper« von Scooter. Unglaublich, ich kenne wirklich jedes Lied.
»Immer wenn man denkt, es könnte nicht schlimmer werden, wird es doch noch schlimmer«, sage ich und beobachte die Hipster-Jünglinge auf der Tanzfläche, wie sie zu diesem unterirdischen Landproleten-Großraumdisko-Hit abgehen.
»Gefällt dir die Musik nicht?« Dr. Alban blickt mir ernst in die Augen.
»Soll das ein Witz sein?« Ich merke, wie ich langsam schlechte Laune bekomme. Dieser Dr. Alban ist mir sofort unsympathisch, keine Ahnung, wieso. Vielleicht weil er intelligenter und fotogener ist.
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich kann das nicht ironisch gut finden. Ich bin mit dem Scheiß aufgewachsen. Ich habe meine ganze Jugend damit verbracht, mich von den Backstreet Boys und diesem Eurodance-Mist abzugrenzen. Und jetzt kommt das alles wieder zurück. Das Acht­ziger-Jahre-Revival konnte ich noch mitmachen. Duran Duran oder Wham! musste ich ja in meiner Jugend nicht ertragen. Aber das hier geht zu weit.«
Dr. Alban betrachtet mich eingehend, als wäre ich eine exotische Insektenart und er ein Tropenforscher mit riesiger Brille. Ich will noch einen Schluck Club-Mate-Wodka nehmen, merke aber, dass die Flasche leer ist.
»Das ist auch nicht ironisch, Mark«, sagt Dr. Alban trocken. »Das ist postironisch.«
Postironisch? Meint er das jetzt ironisch? Oder postironisch ironisch? Oder gar ernst? Und was ist der Unterschied? Ich suche in seinem Gesicht nach einem Hinweis, aber er starrt mich ausdruckslos an. Mir fällt nichts mehr ein, was ich dazu noch sagen könnte, deswegen frage ich, wo Christina Aguilera denn so lange hin sei.
»Christina Aguilera?« Auf Dr. Albans Gesicht zeichnet sich so etwas wie Unverständnis ab. Seine erste halbwegs eindeutige Gefühlsregung.
»Na, du weißt schon, deine Freundin. Also, nicht Freundin, sondern, ja …« Ich beschließe, diesen Satz nicht zu beenden.
»Please speak in a whole sentence«, sagt Dr. Alban. In diesem Moment steht Christina wieder vor uns, und ich stelle mit Entsetzen fest, dass sie ihre Jacke trägt und einen riesigen Rundschal um ihren Hals gewunden hat. In der Hand hält sie einen grünen Parka.
»Marky, wir müssen leider los.« Sie reicht Dr. Alban seinen Parka. »Vielleicht hast du ja mal Lust auf ein Duett? Meld dich einfach bei meinem Manager.«
Sie umarmt mich kurz, und ich rieche wieder ihren Geruch, der natürlich nicht nur nach Rauch und Mate riecht, sondern auch nach, ja – nach was? – nach ihr.
Drei Sekunden später drängeln sich die beiden durch die tanzende Menge Richtung Ausgang. Aber kurz bevor sie die Treppen zum Hinterhof erreichen, dreht sich Christina noch einmal um und lächelt mich an, ganz unironisch, und ich hoffe auch unpostironisch. Dann verschwinden die beiden im Gedränge am Ausgang. So viel hat sich auch nicht geändert seit meiner Schulzeit. Die hübschen Mädchen spielen immer noch Spielchen mit meinem Herzen.
In diesem Moment verklingt gerade DJ Bobos Überhit »There is a Party«, und die ersten Akkorde von …
Ich kann es nicht glauben, der DJ spielt es einfach noch einmal, das letzte Mal ist doch gerade eine halbe Stunde oder so her. Aber die Menge feiert wieder total, alle singen mit, wenn die Backstreet Boys mit verletzlichem Timbre zum Refrain ansetzen:
»Quit playing games with my heart.«

It’s My Life

Berlin ist ein Dorf. Das sagen die Neuzugezogenen gern, wenn sie davon ablenken wollen, dass sie diese anonyme, manchmal furchtbar abweisende Großstadt ziemlich mitnimmt. Berlin ist kein Dorf. Man kann jahrelang durch Berlin laufen, es mit der U- und S-Bahn oder unter Lebensgefahr mit dem Fahrrad durchqueren, ohne eine Menschenseele zu treffen, die man auch nur über drei Ecken kennt oder wenigstens schon einmal aus der Ferne gesehen hat.
Wie soll ich also Christina jemals wiederfinden?
Zu allem Überfluss wohne ich nicht in Neukölln. Ich wohne auch nicht in sonst einem angesagten und tollen Stadtteil. Ich wohne in Tiergarten. Der Tiergarten ist zwar auch der große Park mitten in Berlin, an dessen Rand der Zoologische Garten liegt, aber vor allem ist Tiergarten ein ganz normaler Stadtteil. Das wissen natürlich alle Berliner, trotzdem fangen sie ausnahmslos an zu lachen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich tatsächlich da wohne. »Tiergarten«, rufen sie dann, und einer macht »Muh Muh« und »Piep Piep«, und alle lachen noch lauter. In Tiergarten wohnt man nicht. Niemand, den ich kenne, wohnt in Tiergarten, also Freunde jetzt. Der Drogi an der U-Bahn-Haltestelle, die Prostituierte auf dem Parkplatz nebenan oder die ältere Frau aus dem Hinterhaus, die mich immer »junger Mann« nennt, wohnen hier natürlich schon.
Wie es der Zufall will, treibe ich mich heute Abend aber wieder in Neukölln rum. Na gut, mit Zufall hat das nicht viel zu tun. Ich bin ja hingefahren, bei vollem Bewusstsein und mit der Absicht, mir nicht einzugestehen, nach Christina Aguilera Ausschau zu halten.
Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich sie wiederfinden soll. Immerhin hat sie mir erzählt, dass sie bei Universal arbeitet, wenn das kein Witz war. Aber warum sollte das ein Witz sein? Es muss ja nicht jeder mit über 30 immer noch nicht wissen, was er mit seinem Leben anfangen soll, und kann durchaus schon mit 21 bei einer großen Plattenfirma im Vorstand sitzen. Ich könnte also morgen bei Universal anrufen: »Hallo, mein Name ist Marky Mark, ich würde gern mit Christina Aguilera sprechen.« Wenn ich Pech habe, verbinden sie mich noch mit der echten Christina A …
Ich irre durch Neukölln und versuche, den Kellerclub wiederzufinden, aber Christina wird wohl kaum schon wieder an den schicksalhaften Ort unserer Begegnung zurückgekehrt sein. Wir sind hier schließlich nicht in einer billigen Hollywood-Liebeskomödie. Eher kommt mir mein Leben manchmal wie ein moderner Adoleszenzroman vor, in dem nichts passiert.
Und wäre das mit uns nicht auch ziemlich kompliziert bei diesem Altersunterschied? Christina ist in den neunziger Jahren geboren, während ich in diesem Jahrzehnt popkulturell das Laufen gelernt habe. Die Neunziger sind meine Zeit. Die Welt war damals einfach noch besser und klarer strukturiert: Es gab kein Internet, keinen Terrorismus und keine Rihanna (was ja in etwa das Gleiche ist). Und Kommu­nikationsdesign studieren hieß noch Briefträger bei der Post werden.
Langsam verliere ich vollständig die Orientierung. Nicht nur die Menschen sehen in Neukölln alle gleich aus, auch die Bars und Cafés sind kaum zu unterscheiden, mit offenen Backsteinwänden an der Rückseite, wackligen Tischchen und kaputten Sperrmüllsesseln. Darauf hat es sich allerlei Hipstervolk mit alko­holischen und koffeinhaltigen Mischgetränken bequem gemacht. Wenn sie genug getrunken haben, torkeln sie aufgekratzt zur nächsten, identischen Bar, trinken noch mehr von dem politisch korrekten Mateteegetränk, bis sie am nächsten Morgen zurück nach Kopenhagen fliegen und drei Wochen nicht schlafen können. Kopenhagen muss an den Wochenenden immer komplett leer sein.
Ich laufe vorbei an Stoffbeutelshops und Getränkeshops, die auch Stoffbeutel verkaufen, und Galerien, in denen Stoffbeutel ausgestellt werden. Vor einem Schaufenster bleibe ich stehen und lese die Sprüche auf den fein säuberlich drapierten Beuteln. Auf einem steht: »Benimm dich deinem Alter entsprechend.« Auf einem anderen: »Nur weil wir mal einen Wodka-Shot zusammen getrunken haben, heißt das noch lange nicht, dass ich dich cool finde.«
Ich wende mich ab und laufe weiter, stoße aber mit einem der überall herumtorkelnden Hipster zusammen. Wir sehen uns erschrocken an, und zuerst erkenne ich mein Gegenüber gar nicht, doch dann setzt er sich seine riesige Brille auf die Nase, und mir wird klar, wer vor mit steht: Es ist Dr. Alban.
»Berlin ist ein Dorf«, sage ich.
»Das sagen die Neuzugezogenen gern, wenn sie davon ablenken wollen, dass sie diese anonyme, manchmal furchtbar abweisende Großstadt ziemlich mitnimmt«, sagt Dr. Alban. »Berlin ist kein Dorf.« Er betrachtet mich wieder sehr ernst und auch ein wenig missbilligend.
Ich habe tatsächlich Christinas Freund oder Beschützer oder was auch immer getroffen – zufällig. Und ganz zufällig wird er mir verraten, wie und wo ich Christina wiedersehen kann.
»Sollen wir nicht vielleicht irgendwo was trinken gehen? Das ist doch ein lustiger Zufall.«
Dr. Alban findet unser Treffen augenscheinlich gar nicht witzig, sein Gesichtsausdruck changiert kaum merklich zwischen gelangweilt und genervt.
»Wo sollen wir denn hingehen? Hier gibt’s ja nichts.«
Wir stehen direkt vor einer dieser gemütlichen Sperrmüllmöbel-Bars, aber Dr. Alban schüttelt sofort den Kopf, bevor ich auch nur vorschlagen kann, die nächstbeste Kneipe aufzusuchen.
»Da gibt es höchstens diese eine Bar ein paar Straßen weiter, die keinen Namen trägt und in der nur No-Name-Produkte ausgeschenkt werden, sozusagen als konsumistische Kritik am überhandnehmenden Markenwahn.« Er zeigt die Straße hinunter.
»Eine ausgezeichnete Idee!«
Habe ich das gerade wirklich gesagt? Eine ausgezeichnete Idee? Wie klingt das denn? Als wäre ich kein 31jähriger Tiergarten-Bewohner, sondern ein 81jähriger Deutsches-Theater-Abonnent. Egal, Hauptsache, wir gehen zusammen irgendwohin. Dr. Alban trägt heute übrigens einen Stoffbeutel mit der Aufschrift: »It’s my life.« Er sieht trotzdem intelligent und fotogen aus.
Die Bar befindet sich allerdings nicht gerade in nächster Nähe. Auf dem Weg laufen wir an etwa zweiunddreißig Cafés und Kneipen vorbei, bis wir endlich an besagter No-Name-Bar ankommen. Sie sieht genauso aus wie alle anderen Bars auch. Wir gehen rein, setzen uns an ­eines der schiefen Sperrmülltischchen und trinken jeder eine Club Mate, von der vorher irgendjemand fein säuberlich die Etiketten abgepult hat.
Ich sacke in mich zusammen. Jetzt sitze ich also hier und muss etwas Schlaues sagen, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Dr. Alban über irgendwelche Belanglosigkeiten redet. Und dann, wenn er mich nett und interessant findet und vor allem auch total intelligent, kann ich ihn vorsichtig auf Christina ansprechen. So sieht der Plan aus.
»Kennst du Christina gut?« frage ich.
Völlig unbeeindruckt von meiner überbordenden Leidenschaft nimmt Dr. Alban seine rie­sige Brille von der Nase und putzt sie vorsichtig mit Hilfe seines Rundschals. Irgendwie sieht die Brille so aus, als würde sie nur aus Fensterglas bestehen. Ich nehme einen Schluck von meiner No-Name-Mate und sacke noch ein wenig mehr in mich zusammen. Dieser Dr.-Alban-Typ entzieht mir jegliche Energie.
»Wie es der Zufall will, sind Christina und ich Mitbewohner.«
Langsam gewinne ich Gefallen an diesen ganzen Zufällen.
»Ich habe gestern natürlich sofort registriert, dass bei euch gewisse Spannungen und Sympathien entstanden sind. Du brauchst mir also nichts weiter zu erklären, Marky. Ich denke, ein erneutes Treffen ist machbar, trotzdem …« Er hält kurz inne und setzt sich seine Brille wieder auf, anscheinend gefällt er sich in der Rolle des Unterhalters. »Trotzdem würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn du mir einige Informationen über dich mitteilen würdest.«
Also doch der Beschützer.
»Was willst du wissen?« Ich muss theatralisch gähnen. Dieses Mate-Zeugs macht mich schon lange nicht mehr wach, langsam brauche ich härtere Sachen.
»Mir ist dein unbedruckter Stoffbeutel aufgefallen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Woher kommt das?«
Ich stutze. »Ich dachte, du fragst mich, was ich beruflich mache, wie viel Geld ich verdiene und ob ich immer pünktlich die Beiträge für die Krankenkasse überweise oder so?«
»Ja, okay.« Dr. Alban lässt sich in seinen Sperrmüll sessel sinken. »Was machst du beruflich?« Dabei betont er das Wort »beruflich« so komisch, als sei ihm diese Konversation höchst zuwider.
»Ich bin Journalist«, sage ich bedeutungsschwanger. Das wird ihn, diesen wahrscheinlich arbeitslosen Pseudo-Intellektuellen, gehörig beeindrucken. Doch Dr. Alban verharrt mit abwesendem Gesichtsausdruck in seinem Sessel und scheint an etwas vollkommen anderes zu denken. Diese jungen Leute von heute – eine Aufmerksamkeitsspanne von einer SMS. Eigentlich bin ich ganz froh, dass er nicht genauer nachfragt, sonst müsste ich ihm erzählen, was für ein »Journalist« ich bin. Ich arbeite nämlich für ein Berliner Stadtmagazin. Bis dahin eigentlich noch ganz in Ordnung. Allerdings besteht mein Aufgabenfeld nicht in erster Linie ­darin, über coole Konzerte, krasse Partys und sexy Promis zu berichten – und auch nicht in zweiter oder dritter. Sondern, wenn ich ehrlich bin, in gar keiner Linie. Ich betreue nämlich die Kleinanzeigen im hinteren Heftteil. Also zum Beispiel die Rubrik: »Sie sucht Ihn.« Oder: »Er sucht Sie.« Oder: »Er sucht so ziemlich ­alles, Hauptsache, man kann Sex damit haben.« Ja, it’s my life.
»Weißt du, worüber ich gerade nachgedacht habe?« fragt Dr. Alban und rutscht nervös auf seinem kaputten Sessel herum. »Mir ist aufgefallen, dass diese Post-Elektroclash-Bands der mittleren nuller Jahre wie zum Beispiel das ewig unterschätzte Elektroprojekt Die Stereotypen oder das Turban tragende Inderkollektiv Sikhs on Speed als Blaupause für diese neuen Berliner Shoegaze-Techno-Gruppen dienen.« Dr. Alban ist jetzt ganz aufgeregt, der Gedanke scheint ihn wirklich zu begeistern.
Woher kennt er Die Stereotypen? Weiß er mehr von mir, als er sagt? Abgesehen davon habe ich keine Ahnung, wovon er spricht, deswegen schaue ich erst einmal interessiert und sage »Äh …« und »Ach so …«, dann fällt mir nichts mehr ein. Außerdem macht mir diese Müdigkeit immer mehr zu schaffen, gleich fallen mir die Augen zu.
»Natürlich ist das Neuköllner Shoegaze-Elektro-Duo Smashing Schönheit mit seinem Debütalbum ›I smash the Schönheit‹ in diesem Zusammenhang ein Paradebeispiel. Deren Sänger ahmt ja bis in die kleinsten Details den leicht stotternden Gesangsstil der Sikhs on Speed nach. Die Beats klingen ebenfalls fast identisch, sind nur etwas cleaner.«
Dr. Alban ist während seiner kleinen Rede aufgestanden und gestikuliert wild vor mir rum. Obwohl ich gar nicht mehr auf seinen Redeschwall reagiere, hört er einfach nicht auf zu dozieren.
Die Bedeutung seiner Wörter verschwimmt zusehends, bis ich gar nicht mehr verstehe, was er sagt. Schließlich gebe ich meinem Verlangen nach, die Augen zu schließen. Eine Woge des Wohlbefindens überschwemmt mich. Ich merke, wie ich langsam vom Wachzustand in den Schlaf hinübergleite, und zwei eigentlich sehr beunruhigende Gedanken versinken im Zeitlupentempo in meinem Unterbewusstsein:

1. Langsam verliere ich meinen popkulturellen Wissensvorsprung (wenn ich den überhaupt mal hatte). Die junge Generation weiß jetzt schon so viel mehr als ich. Vielleicht hat das ja mit dem Älterwerden zu tun, vielleicht aber auch nur mit diesem verdammten Internet.
2. Ich habe Dr. Alban noch gar nicht gefragt, wann ich Christina wiedersehen kann.

Dann schlafe ich ein.

Stille.

Als ich wieder aufwache, liege ich mit dem Kopf auf dem Sperrmülltisch in einer Lache Mate. Ich richte mich schwerfällig auf. Dr. Alban ist verschwunden. Wie lange habe ich geschlafen? Ich schaue mich in der Bar um, niemand scheint Notiz von mir zu nehmen. Am Nebentisch sitzen zwei Hipster und starren cool aus dem Fenster auf die dunkle Straße. Alles ganz normal.
Ich habe tatsächlich meine Chance vertan herauszufinden, wie ich Christina wiedertreffen kann.
Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Sessel und stolpere zur Tür. Immer noch ziemlich müde und erschlagen, mache ich mich auf den Nachhauseweg. Ich will zur U-Bahn-Station Hermannplatz, finde aber den Weg nicht mehr. Die No-Name-Bar scheint ganz woanders gewesen zu sein, als ich dachte. Ich habe allmählich das ungute Gefühl, die ganze Zeit im Kreis zu gehen.
An einer Straßenecke steht vor einer Hertha-BSC-Fankneipe ein bärtiger älterer Mann in ­einer abgetragenen Lederweste und blickt an mir vorbei. Die Fankneipe ist komplett in Blau-Weiß gehalten, den Hertha-Vereinsfarben, hinter den speckigen Fensterscheiben hängen vergilbte Wimpel und uralte Poster von schnurrbärtigen Achtziger-Jahre-Fußballern mit Vokuhila-Frisuren – eigentlich sehen sie kaum anders aus als die heutigen Hipster.
Der bärtige Mann harrt regungslos vor der Kneipentür aus, und sein Gesicht lässt erahnen, dass er ein ziemlich hartes Leben hinter sich hat. Er verkörpert das alte Neukölln. Das Neukölln der gutbürgerlichen Gemütlichkeit und türkischen Betriebsamkeit, heimgesucht von brutalen Jugendgangs, die dachten, sie wären hier im krassen Ghetto. In Rest-Deutschland denken ja immer noch die meisten Leute, dass es in Neukölln so zugeht wie in der Bronx oder im Südjemen.
Ich bleibe ein paar Meter von dem Mann entfernt stehen und stelle verwundert fest, dass er nicht etwa ein Bier in der Hand hält, sondern eine halbvolle Mate-Flasche. Verunsichert laufe ich weiter, aber als ich an ihm vorbeigehe, beugt er seinen Kopf nach vorn und flüstert mir zu: »Willkommen im Club Mate.«
Ein starker Geruch geht von ihm aus, ein Verwesungsgeruch, denke ich entsetzt. Er riecht genau wie dieses Parfüm, mit dem sich die Gothic-Leute immer besprühen, weil es so schön nach Gruft und Mittelalter duftet. Ich bleibe stehen, aber ehe ich mich versehe, dreht er sich um und wankt schwerfällig zurück in die Hertha-Kneipe. Die große alte Eichentür fällt krachend hinter ihm ins Schloss.
Langsam gehe ich weiter und stehe auf einmal vor der Rütli-Schule, die ja vor ein paar Jahren in den Medien war, weil es dort anscheinend »Gewaltexzesse« gab, Schüler Lehrer mit Maschinengewehren und Handgranaten bedrohten, was weiß ich. Auch so ein berühmt-berüchtigter Ort des alten Ghetto-Neuköllns. Inzwischen ist aus der Schule ein ansehnlicher, frisch renovierte Bau geworden, vor dem seltsamerweise zwei riesige grüne Froschskulp­turen stehen.
Nach einer weiteren halben Stunde finde ich endlich den Hermannplatz und erwische gerade noch die letzte U-Bahn. Als ich mich auf einen freien Sitz fallen lasse, fällt mir auf, dass etwas auf meinem Stoffbeutel steht. Ich drehe ihn um und lese die krakelige Edding-Schrift: »Freitag, Reuterstraße 84, Galerieeröffnung. Wir warten auf dich.«

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Sebastian Lehmann: Genau mein Beutelschema. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2013, 236 Seiten, 8,99 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.