Zum 70. Geburtstag von Mick Jagger

Der Chef der Lotter-Idole

Er ist einer der bekanntesten Menschen des Planeten. Außerhalb Nordkoreas könnte er wohl nirgendwo eine Straße überqueren, ohne erkannt zu werden. Martin Compart lässt zum 70. Geburtstag von Mick Jagger die Karriere des Sängers Revue passieren und erklärt, warum die Beatles die Musik und die Rolling Stones das Lebensgefühl verändert haben.

Die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts begannen erst 1963. Mit der Ermordung John F. Kennedys und dem ersten Album der Beatles – »Please Please Me«. Und sie endeten 1969 mit der Katastrophe von Altamont.
Man glaubt es kaum, aber vor den Sixties gab es die Fifties. Also die Zeit, in der Mick Jagger und seine Bande die Jugend erlebten und zu Rock ’n’ Roll-Rabauken sozialisiert wurden.
Wie war das mit den Fifties in Westdeutschland? Mandolinen im Mondenschein, fette Wirtschaftsbosse im Daimler, die nur kurz innehielten, um ihre eigene Tüchtigkeit zu bewundern, Halbpension in Rimini, Conny packte Peters Badehose ein, Streifenpolizisten, die wie bewaffnete Briefträger aussahen, alte Nazis, die den Krieg nicht wirklich verloren hatten und für die ein Käseigel der Gipfel des Hedonismus war. Amoralische Spießer krochen aus den Bombenlöchern, um das Wirtschaftswunder zu erfinden. Hoffnung gab nur die atomare Bedrohung. Blue Jeans und Lederjacken waren Werkzeuge des Teufels, und Rock ’n’ Roll war seine Musik. Das Land gehörte weiterhin den Kreaturen, die die Barbarei wissenschaftlich gemacht hatten. Die Bundesrepublik war der Friedhof des Dritten Reichs, auf dem die Zombies tanzten.
Und im Mutterland des Rock ’n’ Roll? In den USA hatte 1956 Reverend John Carroll von der Erzdiözese Boston früh und weitsichtig erkannt, welche Gefahren von dieser »Stimmungsmusik, um Radkappen zu stehlen«, ausgeht: »Der Rock ’n’ Roll entflammt und erregt die Jugend wie Dschungeltrommeln, die Krieger zum Kampf aufrufen und vorbereiten. Ein falsches Wort, ein Missverständnis, und alles geht in Flammen auf. Die zweideutigen Texte dieser Musik sind Angelegenheit der Gerichte und der Polizei.«
Viele bibeltreue Amerikaner standen ihm zur Seite. Aufrechte Amerikaner, die Schwarze als Menschen zweiter Klasse betrachteten. Man wurde in der Not als Jugendlicher nicht alleingelassen. Man bekam wertvolle Tipps. Etwa in Contacts, der Zeitung des Catholic Youth Center: »Vernichte die Platten, die du besitzt, wenn sie heidnische Kultur und heidnische Lebensweise repräsentieren. Überprüfe vorher, welche Platten bei einer Hausparty oder einem Schulfest gespielt werden sollen (…). Rufe einen DJ an oder schreibe ihm, wenn er lausige Platten vorstellt. Schalte dein Radio aus oder suche eine andere Station, wenn du anzügliche Songtexte hörst.«
Aber irgendwie kriegten sie es nicht hin, dass Elvis Presley ignoriert wurde. Stattdessen löste sich der Respekt der Jugendlichen vor den Weltkriegsveteranen in der Säure des Rock ’n’ Roll auf. Ab 1957 wurde die Musik zum Ausdruck ­einer verzweifelten Suche der Jugend nach ihrer Identität. Rock ’n’ Roll-Platten waren Schmerzmittel, die es nicht »auf Kasse« gab. Sie waren zusammen mit einer Handvoll Filme der ­einzige Ausweg aus dem Elend des Konsumstalinismus. Musik war ein Versprechen. Nein, das Versprechen. Und das ist abseits der Hitparadenscheiße bis heute so. Oder wie es der US-amerikanische Musikjournalist Robert Christgau ausdrückte: »In schlechten Zeiten ist Musik eine Erinnerung daran, dass bessere Zeiten nicht nur möglich, sondern auch erreichbar sind.« Der Musikkritiker Greil Marcus schreibt dazu: »1959, als Danny and the Juniors’ ›Rock ’n’ Roll is here to stay‹ sangen, da versprachen sie ihren Zuhörern nicht, dass sie zu dieser Musik erwachsen werden – sie versprachen ihnen vielmehr die ewige Jugend.« Bei for­ever young ging es nicht um Biologie, sondern um Ideologie. Eine Ideologie, der Mick Jagger seinen Lebtag anzuhängen scheint. Noch immer hüpft er über die Bühne wie ein läufiges Karnickel, noch immer schwängert er Frauen im Alter seiner Enkel. Sein Kumpel Keith Richards sagte über ihn: »Er hat einen Peter-Pan-Komplex.«
Dann begannen die Sixties: Der Rock ’n’ Roll war nicht ganz tot, aber sauber kastriert. ­Legionen von Rickys, Johnnys und Frankys belagerten die Hitparaden und sangen saubere Lieder für saubere Teenager mit sauberen Tampons. Die Fünfziger lehnten sich bis 1963 in die Sechziger herüber. Es war das Niemandsland zwischen Elvis und den Beatles, das schwarze Loch der Popmusik (dass in dieser Zeit eine Menge hervorragende Musik gemacht wurde, gehört nicht hierher). Die letzte Rebellion war gezähmt und die nächste noch nicht in Sicht, die Fünfziger hatten noch nicht geendet und die Sechziger noch nicht begonnen. Fröhlichkeit und Langeweile warfen bleiche Schatten. Picknicks, Autokinos, Milchbars, Dates, Kirmes, Telefonorgien. Keine Trendgurus, keine Rock-Lexika, keine Fachleute, die einem halfen, die Vergangenheit zu interpretieren, die Gegenwart zu reflektieren oder die Zukunft des Pop zu prognostizieren. Es gab nicht mal Popradio. Der endlos lange cruel summer der Teenager. Politisches Vakuum. Das große Nichts.
»Rock ’n’ Roll erwischte England wie die Bombe von Hiroshima«, sagte Keith Richards. Dann kamen die Beatles und Europas Teenager begannen durchzudrehen. 1964 kehrte der Rock in die USA zurück mit der großen British Invasion: Alle englischen Bands wurden von Bomber Harris in ein Flugzeug in die Staaten gesetzt und zerbombten die US-Hitparaden. Mit Gitarren wie Kalaschnikows schossen die Brit-Bands den Frankys & Rickys die Eier weg. Die Kulturrevolution trat in die entscheidende Phase. 
Und die schlimmste Band überhaupt waren die Rolling Stones mit ihrem androgynen Frontmann. Sie machten einfach den meisten Krach. Manchmal klang es wie das nächtliche Gejaule geiler Koyoten, die sich bis an den Rand der Vorstädte herangewagt hatten. Das war etwas anderes als die Beatles. Bald bewiesen unsere Wirtschaftswunderkapitäne und deren toupierte Frauen ein bemerkenswertes Differenzierungsvermögen, indem sie die Beatles zähneknirschend akzeptierten oder gar zu »Yesterday« an den fetten Wanst drückten – Haare zwar lang, aber gewaschen und anständig in Uniformen angezogen, na ja, halt englische Künstler. All der Hass auf die Welt und ihren Nachwuchs ergoss sich nun über die Rolling Stones, die noch schmutziger als ein Stripclub waren. Auch der konservative Journalist Matthias Walden war dabei und schrieb in einem Bericht 1965 über ein Konzert in der Berliner Waldbühne, bei dem es zu Krawallen kam: »Auf den überhohen Laternen der steilen Riesen­arena hockten nun Menschen in der Haltung exaltierter Affen und versetzten die ächzenden Masten in Schwingungen, bis die besessenen Jockeys brüllend von den Kandelabern brachen, um zehn Meter tief auf die Köpfe und Rücken ihrer Kumpane zu stürzen (…). Einige Träger platzenger Hosen sah ich geschüttelt wie von verschluckten Pressluftbohrern, Schulmädchenkörper zuckten in einer Weise, die den Chronisten ratlos machen und den Pornographen inspirieren musste. Die elektrischen Gitarren teilten Schläge eines rhythmisch-musikalischen Flagellantismus aus, der unmöglich nur die Ohren treffen konnte (…). Mick Jagger, stöhnender Chef der Lotter-Idole, sang ›I can’t get no satisfaction‹ (…), zuckte von den Zehen bis zu den Spitzen seines weibischen Schopfes und wiederholte mit obszöner Stimmvibration sein glaubhaftes Geständnis: ›I can’t get no satisfaction‹ (…). Man hat zwar in der Waldbühne keinen weißen Kittel gesehen, aber die Zuständigkeit der Medizin ist wohl nicht ganz zu leugnen. Während und nach dem Auftritt der Rolling Stones feierte die Zerstörungswut hemmungsloser Jugendlicher wahre Triumphe.«
Die Stones beballerten die weißen Redneck-Charts mit schwarzen Rhythmen. Der wahre Sound zur Teenage Angst, dass woanders das wahre Leben stattfindet. Im Mai 1965 hatten die Stones in L.A. bei den Aufnahmen zu »Satisfaction« erstmals Kokain genommen. Den Veranstaltern der Deutschland-Tour 1965 schickte die Regierung von Oberbayern eine Rechnung über die Nachzahlung von 14 158 Mark Vergnügungssteuer, da es sich beim Münchner Stones-Spektakel nicht um eine musikalische Darbietung gehandelt habe, sondern um »schieren Lärm mit artistischen Beigaben«.
Die Musik wurde immer wilder, die Haare wurden immer länger und die Jugendlichen immer undankbarer. Und immer war Vietnam gegenwärtig. Der Vietnam-Krieg war der Krieg meiner Generation. Irgendwie war man dabei, mental mittendrin. Als er ausbrach, waren wir acht, zehn oder zwölf Jahre alt. Als er zu Ende ging, waren wir längst aus der Schule. Er prägte unser Leben wie die Musik, beeinflusste das Bewusstsein.
Und was tat dieser Mick Jagger? Er rannte vorne mit, als jugendliche Demonstranten die amerikanische Botschaft in London stürmen wollten. Bevor der ganze Achtundsechziger-Terror losbrach, hatten sich die Stones erstmal ihren Ritterschlag zum Bürgerschreck Nr. 1 geholt: Sie wurden vor Gericht gestellt und mussten ein paar Tage in den Knast, weil man sie mit Dope erwischt hatte – Jagger, Richards und Brian Jones. Man hatte eine Party erst gesprengt, als sich die anwesenden Beatles verdrückt hatten. George Harrison sagte zu Jagger: »Weißt du, das ist der Unterschied zwischen den Beatles und den Rolling Stones: Die Stones werden verhaftet, wenn die Beatles gegangen sind.« Im Gefängnis von Brixton schrieb Jagger 1967 »2 000 Light Years From Home«. Kein Trost, aber immerhin war er hinter Gittern. Das ließ die Spießer frohlocken.
Aus den Gammlern wurden Hippies. Und dann kamen auch noch die Studenten dazu. Als 1968 über die anständigen Bürger wie eine biblische Heimsuchung hereinbrach, war die Welt endgültig verspielt. Heranwachsende ließen sich nun überhaupt nichts mehr sagen und lachten über Ratschläge derjenigen, die es gut mit ihnen meinten. Die Hippies heroisierten alles, was die freie Marktwirtschaft als nutzlos dämonisierte, weil es für Konsum und Reproduktion nichts brachte. Scheiß auf die Regeln. Die Hippies wollten das System aus dem Universum kicken.
Dann starb Brian Jones. Jones war das musikalische Genie der Anfangszeit. Er konnte sich jedes Instrument nehmen und nach einigem Herumexperimentieren darauf spielen. Aber er hatte ein Defizit: Er konnte keine Songs schreiben. Tödlich. Absolut tödlich angesichts des Höhenfluges des Duos Nanker & Phelges alias Jagger & Richards, die seit Sommer 1963 gemeinsam Songs schrieben. Die knallten ­einen Hit nach dem anderen heraus und rächten sich nun dafür, dass der kurzbeinige Blondschrat mal die Chefrolle beansprucht hatte. Jones hatte sogar dafür gesorgt, dass er in Hotels immer besser untergebracht wurde als seine Mitsteine.
Ende der Sechziger gab es neben dem Finanzamt noch eine größere Bedrohung für Mick Jagger und seine Band. Nämlich die sogenannte progressive Musik. Der Stones-Fan sah sich nun dem Vorwurf ausgesetzt, er höre kommerzielle Musik. Als ob Cream oder Pink Floyd ihre Platten verschenkt hätten. Die Stones waren erledigt. Sie verdienten zu viel Geld. Nein, dass sie überhaupt Geld machten, war der Punkt. Ganz im Gegensatz offensichtlich zu Cream, Mothers of Invention, Pink Floyd, Jefferson Airplane, Grateful Dead, Hendrix oder Crosby, Stills & Nash. Die Stones waren absolut out. Das Hinterletzte für zurückgebliebene Brutalos.
Man hörte, dass Jagger sich mit Kenneth Anger herumtrieb und mit dem Satanismus flirte. Ziemlich unglaubwürdig, wenn man sich den Text von »Sympathy For the Devil« (1968) anhört. Das hat nichts mit Psychopathen zu tun, die Kätzchen an Kreuze nageln oder Kinder foltern. Satanisten sind Weicheier, die den Teufel anflehen, ihr miserables Leben zu verbessern. Von sowas war Old Mick immer meilenweit entfernt.
Und dann geschah Altamont! Ein Freekonzert zum Abschluss ihrer US-Tour 1969. Ausgerechnet mit dem berüchtigtsten Chapter der Hells Angels als Security. In Altamont holten die Stones Vietnam nach Kalifornien. In dieser infernalischen Atmosphäre schien alles möglich. Das Pearl Harbour der Gegenkultur. Die wildgewordenen Hells Angels konnten innerhalb von Sekunden den Tod bringen, und keiner war fähig, etwas dagegen zu tun, weglaufen war nicht möglich. Die Hippies waren einer Gewalt ausgeliefert, der sie nicht entkommen konnten, jedenfalls nicht ohne Gegengewalt. Vier Menschen starben. Pure Feigheit vor zusammengekauerten Kröten auf Feuerstühlen. Vollgedröhnt mit schlechtem Acid befanden sie sich für Stunden in einer vergleichbaren Situation wie ihre Altersgenossen im südostasiatischen Dschungel. Ein von Menschenhand ausgelöster Blitz konnte einschlagen und sie auslöschen. Bestialisch, wie der afroamerikanische Zuschauer Meredith Hunter niedergemetzelt wurde. Fast mit derselben mitleidlosen Gewalt wie in My Lai. Manche – und nicht die Dümmsten – behaupten, FBI oder CIA hätten die Angels mit Downers gefüttert und ihnen ordentlich was in den Schnaps getan, damit sie richtig ausflippten. Jedenfalls hatte das Establishment endgültig gewonnen. Der Hippie-Traum und einige andere Träume der Gegenkultur wurden im Matsch von Altamont von aufgeputschten Vollidioten zertrampelt wie Meredith Hunters Körper.
»All dieser Stuss, dass Altamont das Ende einer Ära markiert, ist doch nur intellektuelle Scheiße. Es war das Ende von gar nichts«, sagte Sonny Barger, Präsident der Hells Angels, die einen Kopfpreis auf Mick Jagger aussetzten, weil er schlecht über sie geredet habe. »Altamont konnte nur den Stones passieren. Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht: Den Bee Gees würde so was nie passieren«, sagte Keith Richards.
Doch natürlich wurde es zum Fanal, zum Ende einer Ära. Kurz darauf setzte Charles Manson noch einen drauf. Charles Manson war der Blue-collar-Albtraum-Hippie, der den bourgeoisen Drop-out-Traum zerstörte. Zwei Jahre zuvor war ein Langhaariger ein Bruder – jetzt wusste man das nicht mehr genau. Wenn die Leute es durch Manson und Altamont noch nicht mitgekriegt hatten, dann aber spätestens nach dem Tod von Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison: Die Party war vorbei. Es war das Ende der Sixties. Überall konnte man die Toilettenspülung rauschen hören. Ende der Sechziger lösten sich die Beatles auf. Sie hatten die Musik verändert, die Stones das Lebensgefühl. Als erste Superband des kommenden Jahrzehnts polarisierten sie wie eh und je. Es ist besser, dafür gehasst zu werden, was man ist, als dafür geliebt zu werden, was man nicht ist. Auch ein Unterschied zwischen Stones und Beatles. Irgendwie waren Anfang der siebziger Jahre alle leicht durchgeknallt. Man sah es nicht, aber das Jahrzehnt der Rebellion und der Neuorientierung war allmählich vorbei. Wer je an Love & Peace geglaubt hatte, wurde eines Besseren belehrt. Eine Knarre ­oder ein Scheckbuch machten noch immer mehr Eindruck als verwelkte Blumen. Was der Stones-Fan schon länger ahnte, ging auch der Szene auf: Machtverhältnisse lassen sich nicht durch Peace-Zeichen, tägliches Schädeldeckenabheben und WG-Rumgehänge ändern. Wenn die Stones damals eine richtige Botschaft rüberbrachten, dann die, dass man sich ­keine Illusionen mehr erlauben konnte und dass die Zukunft nicht die Vergangenheit des übernächsten Trips ist.
Mit dem Album »Let It Bleed« gaben sie 1969 eine Vorschau auf das, was in den Siebzigern auf uns zukommen sollte. Mit dem Nachfolger »Sticky Fingers« war man 1971 bereits voll im neuen Jahrzehnt, das aus Junk, Kaputtgehen, zerbrochenen Träumen, Zynismus, Ausverkauf der Sixties und Neuaufrüstung des Systems bestehen sollte. Wenn man die Welt schon nicht verändern konnte, wollte man wenigstens massenhaft Drogen, Sex und Konsum. Das war die Rache dafür, dass man nicht länger als ­guter Mensch leben konnte. Dabei waren wir die Generation, die niemals alt werden würde. Wir würden nie zum Establishment gehören.
1998 sagte Jagger: »Rebellion, ja, die lag damals in der Luft, und es war sicher der Schwung, der den Stones half. Rebellion hat unserem Erfolg, aber nie der Musik genützt. Rock ’n’ Roll ist nicht deshalb gute Musik, weil sie rebellisch war. Ich meine, waren Bill Hailey oder Elvis ­Revoluzzer? Sicher nicht. Aber Rock ’n’ Roller.«
Das Ende der Sechziger-Stones war nicht ­Altamont, sondern der 12. Mai 1971 in St.Tropez. Jagger, der intelligente, zynische Rocker, als der er sich bis dato mehr oder weniger glaubwürdig verkauft hatte, heiratete ein Jet-Set-Girl und ließ eine Hochzeit ausrichten, wie sie sich nur ein komplett angetörnter Walt Disney hätte ausdenken können. Es war der Gipfel von Kitsch und Geschmacklosigkeit, schlimm wie ein Elvis-Film. Richards bäumte sich noch mal schwach gegen das Kommende auf, als er während der Feier einen Ascher durch ein geschlossenes Fenster warf. Das war wohl der Akt, der den Fans endgültig klar machte, dass die Stones-Krone künftig ein Junkiehaupt zieren würde. Keith, the human riff, war zwar längst auf seiner langen Odyssee durch sämtliche Heroinlatrinen, behielt aber seine Credibility.
Mit Jaggers Jet-Set-Gehoppse und Richards Abdriften in die Welt der harten Drogen waren die Stones anders geworden. Der ganze Mythos war in die Luft geflogen. Sie waren zu einer Scheiß-Siebziger-Band mutiert. Nach wie vor gute Musik, aber auch Arschlöcher auf dem Weg nach Las Vegas. Sie tummelten sich an der Côte und machten 1972 das Album »Exile on Mainstreet«.
Jagger wurde echt zum Problem. Klasse war sein Auftritt in Nicholas Roegs Film »Performance« (1968) gewesen. Die rausgeschnittenen Hardcore-Szenen wurden in Amsterdam auf ­einem Porno-Festival gezeigt und brachten ­Jagger einen Preis als bester Pornodarsteller ein. Hat er nie abgeholt. Journalisten, die in den Sechzigern die Stones am liebsten in die Folterkeller gesperrt hätten, sabberten jetzt hinter Jagger her und befragten ihn als Jugendorakel. Er verkörperte Disco, bevor es Disco überhaupt gab. Aus dem Che Guevara der Jugendvorstellung war der Liberace der Sixties-Revolte geworden.
Aber Jaggers Fans der ersten Stunde waren nicht besser. Die Rebellion war vorüber und entließ orientierungslose Veteranen. Die Visionen begannen zu verschwimmen. Irgendwas war schiefgelaufen. Was, das durchschauten nur die harten Zyniker und Conspiracy-Freaks. Man sah die Kumpels jetzt weniger. Keine ­Frage: Diese Generation hatte auch versagt. Als es nämlich anfing, ernst zu werden, kauften wir uns lieber Kopfhörer für die Stereoanlage. Langsam und klammheimlich wurde der Friede mit dem System gemacht. Bloß nicht mehr auffallen. Der Dealer meines Vertrauens. Wie im Werbefernsehen. Hauptsache, sie ließen einen kiffen, sperrten einen nicht ein und ­erlaubten die kleinen, miesen Freuden einer feierabendlichen Gegenkultur. Die Guevara-Poster vergilbten. Autos mussten her, um wenigstens am Wochenende in Amsterdam die verspielte Jugend zu beschwören.
Insofern spiegelt Jagger die Karriere der Achtundsechziger-Generation: von der Rebellion zu den Geldtöpfen. Vom Widerstand gegen das System zum Establishment. Heute ist er ­einer der ganz Großen. Wie Elvis und die Beatles ist er sein eigenes Genre. Die Definition des Superstars, eine eigene Gelddruckmaschine.
Aber er hat die Rolling Stones auch durch die Zeit geführt und dafür gesorgt, dass sie nicht, wie so viele Sechziger-Bands, einfach in der Versenkung der Nostalgie verschwanden. Er ist auch der eigentliche musikalische Kopf der Band. Keith Richards ist der konservative Rhythm-and-Blues-Mann, immer auf der Suche nach dem perfekten Riff. Jagger war immer für neue Trends offen, um sie in die Musik der Stones zu integrieren. Zusammen mit Richards griff er Stilrichtungen, von Country bis Rap und Worldmusic auf, drehte sie durch den Rolling-Stones-Fleischwolf und spuckte einen aktuellen Stones-Song aus. Als Popikone ist er wie der Saurier vor dem Meteor: zu schwach, um noch die Welt zu beherrschen, aber noch stark genug, um sich in ihr zu behaupten.