Ägypten und Äthiopien streiten um das Nilwasser

Zu viele Staaten, zu wenig Wasser

Traditionell beansprucht Ägypten den größten Teil des Nilwassers. Ein Staudammprojekt in Äthiopien führt nun zum Konflikt.

Die einzige Sache, die Ägypten wieder in den Krieg führen könne, sei Wasser, hatte der damalige ägyptische Präsident Anwar al-Sadat im September 1978 während der Friedensverhandlungen mit Israel im amerikanischen Camp David verkündet. Was damals beruhigend auf die israelische ­Delegation wirkte, ist heute für andere Staaten, durch die der Nil fließt, ziemlich beunruhigend. Denn Sadat erhob damals einen Anspruch, der unabhängig von der jeweiligen Regierung als nicht verhandelbares »nationales Interesses« gilt.
Als der mittlerweile abgesetzte Präsident ­Mohammed Mursi Anfang Juni Politiker und Experten zu einem Treffen geladen hatte, um über den Streit um das Nilwasser zu beraten, war der Ton martialisch. Der Anlass für das Treffen war, dass Äthiopien Ende Mai begonnen hatte, das Wasser des blauen Nils, des in Äthiopien entspringenden Quellflusses, teilweise umzuleiten, um das größte Staudammprojekt Afrikas in ­Betrieb nehmen zu können. Und das gefiel den anderen Teilnehmern des Treffens gar nicht. Man solle Äthiopien den Krieg erklären, den Staudamm mit Spezialeinheiten erobern oder von der Luftwaffe mit Bomben zerstören lassen, lauteten einige der Vorschläge. Ein Teilnehmer meinte, man solle die gegen die Regierung in Addis Abeba kämpfenden Rebellengruppen unterstützen, um Äthiopien wieder in einen Bürgerkrieg zu stürzen.

Bekannt wurden die kriegerischen Ambitionen, weil das Treffen live vom Fernsehen übertragen wurde, was den meisten Beteiligten offensichtlich nicht klar war. Die ägyptische Regierung bemühte sich, die Kriegsdrohungen als nicht offizielle Äußerungen von Minderheiten darzustellen, doch sagte Mursi in einer öffentlichen Ansprache auch, Ägypten behalte sich »alle Optionen« vor.
An der Brisanz des Themas änderte auch die Entmachtung Mursis nichts. Der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte, seine gegenwärtige Form ist ein Beispiel für die Langzeitwirkungen des Kolonialismus wie und Mechanismen des Kapitalismus. Der Nil, mit einer Länge 6 671 Kilometern der längste Fluss der Welt, hat mit Äthiopien, Tansania, Uganda, Kenia, der Demokratischen ­Republik Kongo, Ruanda, Burundi, Eritrea, dem Sudan und Ägypten zehn Anrainerstaaten. Alle diese Staaten sind durch extreme Armut, ­rasantes Bevölkerungswachstum und schwindende Ressourcen gekennzeichnet.
Seit der Kolonialzeit wurden, wenn es um die Nutzung des Nil ging, stets Ägypten und Sudan bevorzugt. In einer Vereinbarung aus dem Jahr 1929 teilten das formal unabhängige, aber unter britischer Vorherrschaft stehende Ägypten und der damals von Großbritannien verwaltete Sudan die Nilwassermassen untereinander auf. Die mehrheitlich unter britischer Hoheit stehenden Länder stromaufwärts wurden verpflichtet, ­keine Veränderungen der Wasserführung durch bauliche Maßnahmen vorzunehmen, ohne vorher Ägypten und Sudan zu konsultieren.
Das Vertragswerk wurde 1959 konkretisiert, indem aus dem nach damaligen Schätzungen ­jährlichen Wasserabfluss von 84 Milliarden Kubikmetern 55,5 Milliarden Ägypten und 18 Milliarden dem Sudan zugesprochen wurden. Auch wenn der Sudan und Ägypten zu dieser Zeit bereits unabhängig waren, wurde das bis heute gültige Abkommen unter kolonialen Vorzeichen abgeschlossen. Nur Äthiopien, das einzige Land ­Afrikas, das nie dauerhaft kolonisiert wurde, hat den Vertrag nie akzeptiert. Weil etwa 87 Prozent des Nilwassers aus Äthiopien stammen, waren bislang alle Regierungen des Landes der Auffassung, dass der Vertrag von 1959 gegen die Interessen Äthiopiens verstoße. Sie bestehen bis heute darauf, dass es das unveräußerliche Recht eines jeden Anliegerstaates an einem Flusslauf sei, einseitig die Entwicklung der Wasservorkommen innerhalb der nationalen Grenzen zu verändern.

Dass in der Vergangenheit nie eigene Wasserbauprojekte begonnen wurden, lag an den öko­nomischen und politischen Problemen Äthiopiens. Bürgerkriege und die großen Hungersnöte der siebziger und achtziger Jahre hatten dem Land alle Ressourcen für ehrgeizige Staudammprojekte geraubt. Das änderte sich aber während der Regierungszeit des 2012 in Brüssel verstorbenen Ministerpräsidenten Legesse Meles Zenawi. Meles, wie er in Äthiopien genannt wird, war 1995 an die Macht gekommen und hatte das Land im Wesentlichen befriedet, vor Hungersnöten bewahrt und ihm international wieder zu Ansehen verholfen.
Hilfreich war dabei auch, dass er in den Jahren seiner Regierung vom Marxisten zum Kapitalisten mutierte. Zunächst wurden durch die Verstaat­lichung großer Flächen die traditionellen Kleinbauern ihrer Landrechte beraubt. So konnte Äthiopien die Begierden der großen agrarindustriellen Konzerne wecken. Das Land verfügt über 3,7 Millionen Hektar bewässerbare Anbaufläche. Die Böden gehören, weil sie durch die traditionelle afrikanische Vielfelderwirtschaft weder ausgelaugt noch überdüngt sind, zu den besten derzeit verfügbaren, ihre Ernteerträge lassen sich durch Bewässerung und Industrialisierung leicht steigern.
Meles setzte nicht auf die Unterstützung der bisher auf den Äckern arbeitenden Bevölkerung, sondern auf kapitalkräftige ausländische Investoren, denen er große Flächen zu international konkurrenzlosen Spottpreisen verpachtete. Und die gingen mit der den Kapitalisten eigenen Energie zu Werke. »Im Dienste des Kapitalismus wird bei dem ›Umsiedlungsprogramm‹ von Gambella (einem der fruchtbarsten Gebiete Äthiopiens, Anm. d. Red.) die ansässige Bevölkerung im Stil von Stalin, Mao und Pol Pot umgesiedelt«, schreibt Fred Pearce in »Land Grabbing«, seinem Standardwerk über die heutigen Auswirkungen der sogenannten ursprünglichen Akkumulation.

Anders als unter Stalin und Pol Pot werden die »Umsiedler« in Äthiopien allerdings nicht in Lager gesperrt oder umgebracht. Sie dürfen als landlose, aber freie Wanderarbeiter ihre Hungerlöhne irgendwo erbetteln. Und natürlich haben die Investoren die Pachtverträge nicht unterschrieben, ohne staatliche Garantien für Bewässerung und Energien zu fordern. Beides soll in Äthiopien jetzt hauptsächlich das Nilwasser liefern. Der »Grand Ethiopian Renaissance Dam«, wie der Staudamm heißt, soll im nächsten Jahr gefüllt werden und so viel Strom liefern, dass Äthiopien auch noch zu einem der führenden Stromexporteure Afrikas werden kann.
Wenn dann noch etwa die Hälfte der Anbaufläche mit Nilwasser bewässert würde, könnte das den Abfluss des Nils aus Äthiopien um 15 Prozent verringern. Niemand in Äthiopien zweifelt angesichts der Effizienz, mit der die Investoren das Land in Besitz nehmen, daran, dass dieser Wert in den nächsten Jahren erreicht wird. Unter diesen Vorrausetzungen sind die Sorgen der ägyptischen Regierung um die Zukunft des Nilwassers berechtigt. Und dabei ist ein Faktor noch gar nicht berücksichtigt worden, der auch den alten Verträgen keine Rolle spielen konnte.
Bisher gehen alle wasserökonomischen staatlichen Berechnungen in der Nilregion davon aus, dass der Nil im Rahmen saisonaler Schwankungen immer relativ gleichbleibende Wassermengen hervorbringt. Dass sich durch die Erderwärmung die Wassermengen nicht nur des Nils, sondern ganz Ostafrikas in relavanter Weise verringern könnten, spielt in den Berechnungen der Staatsökonomen bisher keine Rolle. Einer 2011 im Fachblatt Climate Dynamics erschienenen Studie zufolge haben sich aber die Wassermengen Ost­afrikas bereits in den vergangenen 60 Jahren nachweislich verringert. Als Ursache dafür wird die stetige Erwärmung des Oberflächenwassers des Indischen Ozeans angegeben, die die Wasser- und Luftzirkulation in Ostafrika verändert und die Region immer trockener werden lässt.
Mit den wegen zurückgehender Regenfälle geringer werdenden Wassermengen wird aber der Druck, auf das Nilwasser zuzugreifen, in allen Anrainerstaaten größer. Daraus erwächst bei abnehmender Wasserverfügbarkeit, steigendem Wasserbedarf und ungleicher Wasserverteilung, von der Ägypten bislang profitiert, ein kaum kalkulierbares Risiko für ganz Ostafrika. Dass es nicht bereits zu einem größeren Konflikt kam, hängt auch mit der innenpolitischen Lage in Ägypten zusammen. Dabei kann es, wenn die ägyptische Revolution, die auch ein Kampf gegen aus dem Kolonialismus hervorgegangene Strukturen ist, erfolgreich sein sollte, zu einer paradoxen Situation kommen. Denn mit der Überwindung des kolonialen Erbes würde auch ein Privileg dieser Zeit, der bevorzugte Zugang zum Nilwasser, nicht mehr zu halten sein. Dann sind andere Maßnahmen als die Ausbeutung der Ressourcen auf Kosten der Nachbarländer erforderlich.