Umstrittene Dublin-II-Abschiebungen in Hamburg

Lampedusa an der Elbe

Aus Libyen vertriebene Kriegsflüchtlinge protestieren in Hamburg für ihr Recht auf Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt.

In Hamburg macht seit Frühsommer eine Gruppe namens »Lampedusa in Hamburg« von sich reden: Jahrelang hatten Wanderarbeiter aus verschiedenen afrikanischen Ländern in Libyen gelebt – bis zur Rebellion und dem Krieg vor über zwei Jahren. Zehntausende von ihnen flohen nach Italien, viele wurden aber auch gegen ihren Willen dorthin vertrieben. Sie erhielten einen permesso di saggiorno, eine Aufenthaltsgenehmigung für Italien, mit der sie sich auch bis zu drei Monate lang frei im Schengenraum bewegen können. Wegen überfüllter Lager und schlechter Lebensbedingungen haben etwa 6 000 von ihnen Italien verlassen. Der Hamburger Gruppe zufolge sind viele nach Deutschland gereist. Rund 300 von ihnen schlafen auf Hamburgs Straßen, einige sind mittlerweile in Kirchen, Moscheen oder bei Privatpersonen untergekommen. Mit Ausstellungen, Demonstrationen und anderen Aktionen wie einem Protestzelt am Hauptbahnhof fordern sie ein Bleiberecht aus humanitären Gründen. Doch der Hamburger Senat und das Bundesinnenministerium schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu – zu Lasten der Flücht­linge.

»Wir haben nicht den Nato-Krieg in Libyen überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben« – das ist einer ihrer Slogans. »Wir haben viel durchgemacht und wollen endlich zur Ruhe kommen, in unseren Berufen arbeiten und Deutsch lernen. Andere von uns wollen zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen«, sagt Andreas A.*, der Sprecher von rund 80 Männern, die seit Anfang Juni in der St.-Pauli-Kirche untergekommen sind. Er selbst ist 2005 als Jugendlicher aus Ghanas Norden geflohen und möchte seinen Familiennamen nicht nennen.
In Tripolis habe er ein gutes Leben gehabt. »Dort konntest du es schaffen und nach zwei Jahren eine professionelle Arbeit bekommen. Ich hatte eine Wohnung und Verträge auf Baustellen«, erzählt er. Alles sei gut gewesen bis zum 17. Februar 2011 – das Datum wisse er noch ganz genau. »Da begann die Gewalt auf den Straßen, Leute wurden erschossen, alle waren bewaffnet«, berichtet der junge Mann. Im Sommer 2011 habe er Libyen verlassen müssen. »Soldaten haben mich festgenommen und mir alles genommen, mein Geld, mein Mobiltelefon. Sie sagten, dass ich gehen müsse, und brachten mich zum Hafen.«
Derzeit führe man informelle Gespräche mit der Evangelischen Nordkirche, so die Hamburger Innenbehörde. Der Rechtsstatus der Flüchtlinge sei nicht ganz klar, aber es sei davon auszugehen, dass die drei Monate gültigen Touristenvisa für den Schengenraum mittlerweile abgelaufen seien und die Männer zurück nach Italien müssten, sagt die Innenbehörde. Anfang Juni waren Verhandlungen zwischen der Nordkirche, der Innen- und der Sozialbehörde gescheitert, da eine Unterbringung in einer Turnhalle nur mit vorheriger Registrierung und erkennungsdienstlicher Behandlung erlaubt worden wäre. »Die Kirche und die Diakonie beteiligen sich nicht an einem Abschiebelager«, sagte damals die Landespastorin Annegrethe Stoltenberg der Taz.
Constanze Funck, Koordinatorin der Nordkirche für das Projekt der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«, lehnt eine Abschiebung nach Italien ab. Sie verweist auf zahlreiche Verwaltungsgerichtsur­teile, in denen in Einzelfällen Abschiebungen nach dem Dublin-II-Verfahren nach Italien wegen der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber und der dort herrschenden schwerwiegenden Mängel, die zu unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung führten, für rechtswidrig erklärt worden sind. Der Hamburger Senat habe die Möglichkeit, den Männern ein Bleiberecht aus humanitären Gründen zu geben. Sie seien zum Spielball einer verfehlten europäischen Flüchtlingspolitik geworden.
Mitten im Winter seien sie auf die Straße gesetzt worden, weil Italien kein Geld mehr von der Europäischen Union bekommen habe, so Andreas A. Er habe auf eine Karte gesehen und entschieden, nach Deutschland zu fahren. Im Winternotprogramm für Obdachlose habe er ein Bett bekommen, bis es Mitte April geschlossen wurde. In dieser Zeit habe er viele Flüchtlinge aus Libyen in Hamburg getroffen. »Wir schliefen unter Brücken, in Parks und vor Ladeneingängen. Die Polizei kam und schickte uns immer wieder von unseren Schlafplätzen weg. Wir hatten den Eindruck, niemand sollte mitbekommen, dass wir da sind. Wir diskutierten viel und organisierten uns«, erzählt Andreas A.

Die Medienaufmerksamkeit wie auch die Unterstützung sind bemerkenswert groß. Nachbarn spenden Handtücher, Kuchen und Wörterbücher, schieben Wache vor den Schlafplätzen und organisieren Deutschkurse. Auch die Gewerkschaft mischt seit Juli mit: Zahlreiche Flüchtlinge der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« sind Mitglied der Gewerkschaft Verdi geworden. Sie haben in Libyen als Ingenieure, Journalisten, Automechaniker, Bauarbeiter oder Friseure gearbeitet. Der Verdi-Fachbereichsleiter für Besondere Dienstleistungen, Peter Bremme, hieß die Flüchtlinge willkommen. »Wir unterstützen ausdrücklich die Forderungen der Geflüchteten aus Libyen nach Wohnung, freiem Zugang zum Arbeitsmarkt, freiem Zugang zu Bildung, freiem Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung und freier Wahl des Aufenthaltsortes innerhalb der Europäischen Union.« Die Politik könne den Weg frei machen durch Aktivierung des Paragraphen 23 Aufenthaltsgesetz, das den Flüchtlingen einen legalen Aufenthalt in Hamburg ermögliche, so Bremme.
Dieser Rückhalt macht es dem SPD-Senat mit seiner harten Haltung nicht gerade leicht. Hamburg hat noch nie Skrupel gezeigt, wenn es um Abschiebungen von jungen Leuten, von Roma, Afghanen oder Westafrikanern, ging. »Niemand wird eingefangen und in den Zug nach Italien gesetzt«, betont ein Sprecher der Hamburger Innenbehörde. Es werde keine kollektive Rückführung geben – aber auch keine kollektive Anerkennung, wie es die Gruppe fordert. Der Senat beharrt darauf, dass ihm die Hände gebunden ­seien.
Eine Anerkennung nach dem Paragraphen 23, bei dem oberste Landesbehörden aus humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilen können, sei nur im Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium möglich. Dementsprechende Signale gebe es aber aus Berlin nicht. Das ist wohl wahr, allerdings war bisher auch nicht zu erkennen, dass sich der Hamburger Senat für das Anliegen der Flüchtlinge besonders eingesetzt hätte. Tatsächlich weist die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 12. Juli auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei darauf hin, dass sich die Dublin-II-Regelung bewährt habe und dass in Italien, anders als in Griechenland und trotz der erwähnten entgegenstehenden Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, keine Mängel im Asylverfahren vorlägen. Die Bundes­regierung sehe keinen Anlass, den Männern ein humanitäres Aufenthaltsrecht zu gewähren, da sie bereits in Italien Schutz gefunden hätten. Im Einzelfall könnten aber humanitäre Gründe greifen, das Aufenthaltsgesetz sehe dafür verschiedene Möglichkeiten vor.
Das Bundesinnenministerium hat sich in einem Antwortschreiben Ende Mai an Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) dafür ausgesprochen, den rechtlichen Status der Männer »schnellstmöglich« zu prüfen und gegebenenfalls »aufenthaltsbeendende Maßnahmen« einzuleiten. Gleichwohl sagt das Bundesinnenministerium: »Die Letztentscheidung über den Umgang mit den Flüchtlingen lag und liegt jedoch bei den betroffenen Ländern.«

*Familienname von der Redaktion geändert