Die Repression gegen Oppositionelle in Russland

Angeklagte im Glaskasten

Aleksej Nawalnyj ist nicht der einzige von der repressiven russischen Justiz abgeurteilte Oppositionelle. In Moskau findet ein Prozess gegen angebliche Verantwortliche für die »Massenunruhen« vom Mai 2012 statt, bei denen gegen die Manipulation der Präsidentschaftswahl protestiert wurde.

Seit Ende Juni stehen in Moskau zwei Frauen und zehn Männer vor Gericht, um sich – stellvertretend für Zehntausende Teilnehmer der Protestkundgebungen gegen Wahlmanipulationen für ihre offene Kritik am russischen Herrschaftsmodell – zu verantworten. Freilich geht es in dem Verfahren weder um die politischen Beweggründe für die Massenproteste nach den letzten Duma-Wahlen im Dezember 2011, die bis Mail letzten Jahres anhielten, noch generell um die Frage nach der Legitimität von Widerstand gegen die unter Präsident Wladimir Putin geschaffenen autoritären Verhältnisse. Diese Legitimität ist bereits verneint worden und auch die Verurteilung der Angeklagten steht offenbar trotz zweifelhafter Beweislage fest. Nur die Festsetzung des Strafmaßes steht noch aus. Bis zu einem Urteil werden vermutlich nicht nur Wochen, sondern Monate vergehen.
Dieser Moskauer Prozess ist bereits Teil der demonstrativen Bestrafung, wenngleich die russische Strafprozessordnung dies so nicht vorsieht. Verantwortlich dafür ist die leitende Richterin Natalja Nikischina. Sie führt die Angeklagten wie unmündige Kinder vor, so den 34jährigen Artjom Sawjolow, den die Verteidigung aufgrund seines psychischen Zustandes für nicht haftfähig hält. Seit seiner Kindheit stottert er so heftig, dass er kaum einen Satz zu Ende sprechen kann. Er soll aber bei der Demonstraton am 6. Mai 2012, am Tag vor der Wiedereinführung von Putin ins Präsidentenamt, klar und deutlich zu »Massenunruhen« aufgerufen haben.
Die wegen des Aufrufs zu »Massenunruhen« und Gewaltanwendung gegen Staatsbeamte sowie der Beteiligung daran Angeklagten stehen bei brütender Hitze in einem Glaskasten so eng gedrängt wie Karpfen im Wasserbecken vor der Zubereitung. Mit ihren Anwälten dürfen sie nicht kommunizieren, Wasser zu trinken ist ihnen untersagt und in den Verhandlungspausen werden sie zu zweit in anderthalb Quadratmeter kleine verschmutzte Kammern gesperrt. Dort verbrachten sie einmal acht Stunden. Richterin Nikischina will jedoch von Beschwerden nichts hören.

So manche Szene im Gerichtssaal entbehrt nicht einer gewissen Komik. So antwortete ein sichtlich in die Enge getriebener Mitarbeiter der polizeilichen Sondereinheit Omon auf die Frage eines Anwalts, wie die Festnahmen bei den Zusammenstößen mit der Polizei auf dem Bolotnaja-Platz erfolgt waren: »Wir sind herangetreten, haben uns vorgestellt und sie gebeten, mit uns zu kommen.« Das entspräche den Vorschriften bei Ausweiskontrollen, im wirklichen Leben verhalten sich russische Polizisten gegenüber Oppositionellen meist weniger höflich. Der als Geschädigter vor Gericht geladene Polizist soll von einem Stück Asphalt am Kinn getroffen worden sein, doch liegt weder ein medizinisches Gutachten über etwaige Verletzungen vor, noch hat er einen der Angeklagten auf dem Platz bemerkt. Er mag sich nicht einmal daran erinnern, ob er selbst Anzeige erstattet hat.
Der stellvertretende Verantwortliche für die Einhaltung von Sicherheit und Ordnung während der angemeldeten Kundgebung reagierte im Zeugenstand auf die Frage, weshalb die Polizeikräfte am 6. Mai 2012 dem Demonstrationszug den Zugang zum Bolotnaja-Platz verweigert hätten, mit Schweigen. Ebenso wenig wollte er sagen, wieso sein Rapport an diesem Tag den Vermerk »keine besonderen Vorkommnisse« enthielt. Der Polizei hätten Hinweise über geplante Widerstandsaktionen der Opposition vorgelegen, Einzelheiten dürften aus Gründen strenger Geheimhaltung jedoch nicht genannt werden. Bei so viel Kooperationsbereitschaft der Zeugen der Anklage dürfte der reale Hergang der Ereignisse vom 6. Mai vor Gericht kaum rekonstruiert werden können. Aber darum scheint es ohnehin nicht zu gehen.
Eine oppositionsnahe Expertenkommission kam zu dem Schluss, dass unbekannte junge Männer in Kapuzen und Masken durch die obligatorischen Polizeikontrollen am Eingang zu der Demonstrationsroute geschleust worden seien, um Krawalle zu provozieren. Doch steht zu befürchten, dass in einem bevorstehenden Prozess Oppositionelle als Anstifter der Krawalle abge­urteilt werden sollen. Anders als bei den laufenden Gerichtsverhandlungen handelt es sich bei ihnen um bekannte linke Aktivisten, unter ihnen Sergej Udaltsow und der Antifaschist Aleksej Gaskarow, den der regierungsnahe Fernsehkanal NTV dem Publikum in verleumderischer Weise als Anführer einer Gruppe junger Krawallmacher präsentierte.

Während der Gewaltapparat mit der systemkritischen Linken ohne elegante Manöver abrechnet, planen die Regierungsstrategen für den populären Oppositionellen Aleksej Nawalnyj ein raffinier­teres Vorgehen. Einerseits wurde dem nationalistischen Antikorruptionspolitiker in der Stadt Kirow wegen Veruntreuung von Staatseigentum jüngst der Prozess gemacht, der am Donnerstag vergangener Woche mit einer Verurteilung zu fünf Jahren Freiheitsentzug endete. Andererseits gesteht ihm das politische Establishment eine Rolle als Kontrahent zu, ja scheint ihm diese Rolle im Moment geradezu aufzudrängen. Denn Nawalnyj darf zu den für September anberaumten Wahlen für das Amt des Moskauer Bürgermeisters antreten, während der unter Hausarrest stehende Sergej Udaltsow ohne gewichtige Fürsprache mit seiner angestrebten Kandidatur scheiterte.
Nach einer Phase offen autokratischer Herrschaftssicherung ist die russische Führung derzeit bemüht, einen Hauch demokratischer Gesinnung zu zeigen. Vor zehn Jahren fanden in der Hauptstadt zum letzten Mal Bürgermeisterwahlen statt, danach wurden sie abgeschafft und erst im vorigen Jahr wieder eingeführt. Sergej Sobjanins Amtszeit wäre eigentlich erst 2015 abgelaufen, Anfang Juni trat er jedoch überraschend zurück, aber nur, um für die vorgezogenen Wahlen als Spitzenkandidat anzutreten. Konkurrenz bieten ihm neben der ins Machtsystem integrierten handzahmen Duma-Opposition die liberale Partei Jabloko und Aleksej Nawalnyj. Damit dieser die gesetzlich vorgeschriebenen 110 Unterstützer seiner Kandidatur unter den städtischen Abgeordneten finden konnte, griff ihm die auf lokaler Ebene dominierende Regierungspartei Einiges Russland großzügig unter die Arme. Die Moskauer Wählerinnen und Wähler sollten den Bürgermeister aus einem möglichst breiten politischen Spektrum bestimmen dürfen, begründete die Partei ihre solidarische Geste.
Solange das Urteil gegen Nawalnyj nicht rechtskräftig ist, bleibt er Bürgermeisterkandidat. Sobald es aber bestätigt wird, darf er laut Gesetz kein politisches Amt mehr ausüben. Sofort nach dem Urteilsspruch am 18. Juli ließ das Gericht Nawalnyj und einen mit ihm verurteilten Geschäftsmann festnehmen, woraufhin der Moskauer Börsenindex sofort um 1,5 Punkte fiel und Nawalnyjs Wahlstabschef Leonid Wolkow eine Rücknahme der Kandidatur ankündigte, sollte der Politiker in Haft bleiben. Noch am gleichen Tag legte ausgerechnet die zuständige Staatsanwaltschaft, die für Nawalnyj sechs Jahre Freiheitsentzug gefordert hatte, Haftbeschwerde ein, der das Gericht nachgab. Jetzt erweist sich als Problem, dass der Prozess gegen Nawalnyj lange vor der Entscheidung für Bürgermeisterwahlen initiiert wurde.

Dieser grobe Fehler ist deutlicher Ausdruck eines Koordinationsverlusts auf unterschiedlichen staatlichen Ebenen. Nach seinem Wahlsieg 2012 setzte Putin auf wirtschaftsliberale Reformen bei gesteigerter bürokratischer Willkür, repressiven Maßnahmen und alle möglichen Lebensbereiche betreffenden Verboten. Damit bedient er zwar beide Strömungen im Establishment, doch weist das Zusammenspiel Widersprüche auf, die auf längere Sicht zu einer politischen Destabilisierung führen. So bringt die Regierung mit ihren neuen Plänen zur Zerschlagung der russischen Aka­demie der Wissenschaften mittlerweile wesentliche Teile der Wissenschaftselite gegen sich auf.
Abtrünnige aus den eigenen Reihen stehen derweil zum Abschuss frei. Jüngstes Beispiel ist die Verhaftung des Bürgermeisters von Jaroslawl, Jewgenij Urlaschow, wegen der Annahme und Forderung von Schmiergeldern. Anders als in den bereits genannten Fällen dürfte es den Ermittlern leicht fallen, ohne hanebüchene Schuldkonstruktionen auszukommen. Bis 2011 trieb Urlaschow seine politische Karriere in den Reihen der Partei Einiges Russland voran, dann wechselte er ins oppositionelle Lager. Im April 2012 gewann er mit deutlicher Mehrheit die Bürgermeisterwahlen und schien somit den lang ersehnten symbolischen Beweis dafür geliefert zu haben, dass Wahlen unter gewissen Voraussetzungen einen Machtwechsel zumindest auf lokaler Ebene herbeiführen könnten.
Die politischen Entwicklungen weisen derzeit auf eine Verlagerung der Protestbereitschaft in die ärmeren peripheren Regionen hin, deren Loyalität zum Moskauer Machtzentrum stark überschätzt wird. Der Schauprozess im Bolotnaja-Fall erzielt zwar in Moskau seine Wirkung, die Menschen in anderen Regionen lassen sich davon jedoch kaum beeindrucken. Ein Streik des völlig unterbezahlten medizinischen Personals in Izhewsk, mehr als tausend Kilometer östlich von Moskau, sorgte für großen Aufruhr. Meist jedoch artikuliert sich die zunehmende Unzufriedenheit mit der Moskauer Regierung in Blockaden von Fernstraßen und antikaukasischen Ressentiments wie Anfang Juli im Gebiet Saratow.