Ruth Klüger im Gespräch über ihre Werke und ihr Leben

»Die jüdische Aufklärung ist mein Hintergrund«

In diesen Tagen erscheint Ruth Klügers Gedichtband »Zerreißproben«. Die Literaturwissenschaftlerin und Shoah-Überlebende über ein berühmtes Adorno-Zitat, die Redekultur in jüdischen Familien und den Traum vom Auswandern nach Israel.

In Ihrem Essay »Frauen lesen anders« (1996) schreiben Sie, dass Sie hauptsächlich von ­einem weiblichen Publikum rezipiert werden. Auch der im Mai angelaufene Dokumentarfilm »Das Weiterleben der Ruth Klüger« werde vermutlich vor allem Frauen ­interessieren, bemerkten Sie kürzlich. Sitzen tatsächlich keine Männer in den Vorführungen?
Die Männer, die sich den Film anschauen, werden von ihren Frauen mitgeschleppt. »Weiter leben« ist deshalb ein Besteller geworden, weil Frauen das Buch gelesen haben. Die Verlage wissen das auch. Das ist keine vorlaute Bemerkung, die irgendwie bissig sein soll, sondern einfach die Realität. Literatur wird vor allem von Frauen gelesen. Das Schicksal von Frauen und all das, was Frauen produzieren, interessiert dann vor allem Frauen.

Ihre Autobiographie »weiter leben« (1992) ist neben den bekannten Berichten von Überlebenden wie Jean Améry oder Primo Levi der einzige Text einer Frau.
Das ist sicherlich ein Grund, warum das Buch populär wurde. Ein anderer Grund ist, dass es wenige Bücher von Überlebenden gibt, die auf Deutsch geschrieben wurden. Das andere bekannte Buch einer Autorin, die leider nie eine Frau werden durfte, ist das Tagebuch der Anne Frank. Aber es sind wirklich sehr wenige. Es war lange Zeit ein Männerthema. Man hat nicht darüber nachgedacht, dass es vielleicht in Frauenlagern anders zugegangen ist und dass Frauen ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben, die sich immer auch ein bisschen von denen der Männer unterscheiden. Bis Frauen angefangen haben, darüber zu schreiben.

Die Historikerinnen Lenore J. Weitzmann und Dalia Ofer glauben, dass das Geschlecht der Opfer in der Historiographie des Holocaust lange Zeit keine Rolle gespielt habe, weil man nicht zwischen den Opfergruppen unterscheiden und verschiedene Wertungen der Schicksale vermeiden wollte. Würden Sie dieser These zustimmen?
Das ist tatsächlich eine interessante Interpretation. Aber zunächst einmal ist es auch Ausdruck einer Kultur, die noch kein Gefühl dafür entwickelt hatte, dass auch Frauen dazugehören. Bis in die Achtziger waren prominente Gremien ausschließlich mit Männern besetzt. In der Literatur war es genau das Gleiche. Auch die Autoren von Suhrkamp waren mit wenigen Ausnahmen Männer.

In ihrer Biographie schildern Sie Diskriminierung und Ausgrenzung, die Sie in Ihrem Alltag erfahren haben. Sie schreiben, dass Sie manchmal nicht unterscheiden konnten, ob Sie als Frau oder als Jüdin abgelehnt wurden.
Diese Darstellung hat manche Leser empört. Sie sagten: »Das ist doch eine total andere Diskriminierung.« Und natürlich hat man Frauen nicht massenhaft ermordet, das ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist die Diskriminierung im alltäglichen Leben, und gerade im Universitätsbetrieb hatte ich oft den Verdacht, dass ich als Frau diskriminiert und nicht ernst genommen wurde.

Hat sich daran etwas geändert?
Zweifelsohne hat sich enorm viel geändert in den letzten 20 oder 30 Jahren. Im Zeitalter von Konrad Adenauer hätte doch niemand gedacht, dass ein Kanzler auch eine Kanzlerin sein kann. Das war unvorstellbar! Heute schieben Männer auf der Straße ganz selbstverständlich die Kinderwagen. Das hat es überhaupt nicht gegeben, das galt als total unmännlich und homosexuell, und Homosexualität war natürlich etwas, worüber man sich bestenfalls lustig gemacht hat. Dennoch sollte man nicht aufhören, sich weiterhin für Gleichberechtigung einzusetzen. Es könnte auch wieder umschlagen.

Welche Erfahrungen machen Sie heute als Jüdin in Ihrem Alltag? Hat sich das ebenfalls positiv verändert?
Das ist in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich. Hierzulande wird man immer wieder mit der Nase darauf gestoßen, dass man jüdisch ist. Das hat natürlich mit der deutschen Geschichte zu tun und ist eigentlich unvermeidlich. Es hat mit der nicht ganz einfachen und dann doch wieder ziemlich einfachen Situ­ation der Juden in diesem Land zu tun. Nicht ganz leicht wegen der eigenen Vergangenheit und dem, was alles zerstört wurde. Und auch weil man im Ausland oft scheel angeschaut wird, wenn man sagt, dass man in Deutschland lebt. Aber es ist dann doch einigermaßen leicht, denn man muss auch anerkennen, dass mit den jüdischen Gemeinden gut umgegangen wird.

Sie leben etwa die Hälfte des Jahres in Deutsch­land, die übrige Zeit in den USA. Wie erleben Sie die jüdische Community in Deutschland?
Ich bin so säkular und gar nicht gläubig, irgendwie schon jüdisch, aber das hat mehr mit der jüdischen Kultur zu tun. Die Haskala, die jüdische Aufklärung, das würde ich sagen, ist mein Hintergrund. Und dann natürlich meine ganze Erfahrung. Ich bin ja von Juden erzogen worden, ich war mit jüdischen Frauen im Lager. Später in Amerika habe ich auch immer wieder jüdische Freundinnen gehabt. Das steckt irgendwie drin, aber ich scheue eigentlich vor allem Religiösen zurück. Nicht zuletzt auch, weil diese Religion wie alle anderen etablierten Religionen frauenfeindlich ist.

Der Dokumentarfilm enthält eine Szene, in der Sie vor der Klagemauer stehen und sich über die dort praktizierte Geschlechtertrennung empören.
Es ist eigentlich ein Skandal! Das ist kein privater Raum, das ist ein öffentlicher Raum. Aber dann wird einem gesagt, die Frauen können in diese Ecke da drüben gehen. Aber es ist kein Refugium für Frauen, sondern sozusagen der Platz, wo man noch rauchen darf. Damit habe ich nichts zu tun.

In »weiter leben« schreiben Sie, dass Ihre Erziehung zu einer selbstbewussten Person auch mit Ihrem jüdischen Hintergrund zu tun hat.
Da kann ich mich irren, aber mir scheint es so, als gäbe es in jüdischen Familien eine ausgeprägte Redekultur. Meine protestantischen Freunde erzählen, dass Kinder schweigen mussten, wenn Erwachsene redeten. Bei uns mussten sie auch schweigen, wenn sie den Erwachsenen auf die Nerven gingen, aber doch nicht ständig. Ich glaube schon, dass in einer jüdischen Umgebung das Reden selber ermutigt wird. Ein »Volk des Buches« nennen sich die Juden ja gerne, und es ist auch ein Volk des Worts.

Ihr Verlag bewirbt den Gedichtband, der im Herbst erscheinen wird, mit einem Verweis auf die Debatte um das bekannte Zitat von Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.«
Ich zitiere das ganz gerne, nicht weil ich mich mit Adorno streiten will, sondern weil es griffig ist. Er hat völlig recht gehabt, dieses Thema auf den Tisch zu bringen. Adorno hat seinen Satz immer wieder modifiziert, der Kontext ist sowieso weitaus komplexer. Aber es ist völlig richtig, diese Frage zu stellen. Das ist eine Frage der Ästhetik: Wie sehr kann oder darf man sich amüsieren mit tragischen Texten? Das ist eine Frage, die schon Aristoteles gestellt hat. Der Holocaust legt natürlich noch eins drauf, weil das mehr ist als eine Tragödie. Die Shoah ist etwas Einzigartiges, auch wenn all die sadistischen und auch technokratischen Massengewalttaten miteinander verwandt sind. Und dennoch ist die Shoah etwas Besonderes, weil es eben eine angepasste Zivilbevölkerung war und weil so viele Menschen ermordet wurden. Die Erklärung vom Rassenwahn, der die Bevölkerung ergriffen hat, genügt mir nicht. Das ist doch nicht selbstverständlich, dass man sich überlegen fühlt anderen Menschen gegenüber, und dass man sie dann auf diese Weise ermordet. Es ist etwas, dass sich nicht erklären lässt, das noch immer an mir nagt. Da sollte man noch weiter graben und nicht einfach sagen: der Rassenwahn. Das ist jetzt die häufigste Erklärung. Warum der Rassenwahn? Es ist doch eine Tatsache, dass Deutschland wahrscheinlich das gebildetste Land Europas war und sicher eines der aufgeklärtesten. Das war der Grund, warum die Ostjuden gerne gekommen sind.

Ihr Gedicht »Deutsche Sprache« beginnt mit den Zeilen: »In diesen Lauten, die ich zu verlernen versuchte, weil die spitzen Konsonanten das wunde Fleisch der Kinderjahre kannten«, und beschreibt Ihr ambivalentes Verhältnis zur deutschen Sprache.
Ich wollte sie wirklich loswerden, ich wollte nichts mehr mit dem Deutschen zu tun haben, und das passte auch in die Umgebung der deutsch-jüdischen Emigranten in New York. Die wollten alle nicht deutsch sprechen. Gelegentlich haben sie natürlich unter sich Deutsch gesprochen. Aber auf keinen Fall haben sie da­rauf bestanden, dass die Kinder es lernen. Im Film klagt ja einer meiner Söhne: »Sie hat uns nie Deutsch beigebracht und es wär’ so leicht gewesen.« Es wär’ nicht leicht gewesen. Es war praktisch unmöglich.

Trotzdem haben Sie Germanistik studiert und schreiben auf Deutsch.
Die deutsche Sprache ist einerseits wie ein Rucksack gewesen, in dem man alles mögliche Wertvolle verstauen konnte, wie die deutsche Dichtung, und andererseits wie ein Buckel, den man mit sich herumgetragen hat. Dieses ambivalente Verhältnis besteht. Und wissen Sie, ich schreibe Deutsch vor allem, weil ich’s kann! Und was man kann, tut man eigentlich ganz gerne.

In »unterwegs verloren« (2008), dem zweiten Teil Ihrer Autobiographie, schreiben Sie über Ihre Zeit in Kalifornien: »Zuhause bin ich hier nicht, ebenso wenig wie anderswo.« Ist dieses »Dazwischensein« eher eine Last oder eine Chance?
Man kann es natürlich positiv sehen, aber vielleicht macht man es sich damit zu leicht, ich weiß nicht … Menschen, die sich freuen, wenn sie wirklich in ihre Heimat zurückkommen, in ein Haus, wo sie schon wer weiß wie lange gelebt haben, die sind schon ganz froh, dass sie diese Bestätigung und die Ausweitung ihres Ichs haben. Ich habe das nicht.

Im Film sagen Sie auch, dass lediglich Israel so etwas wie eine Möglichkeit von Heimat hätte sein können.
Israel ist was Besonderes. Da würde man zu einer Mehrheit gehören, und das ist natürlich etwas anderes, als immer nur Teil einer Minderheit zu sein. Ich habe mir immer gewünscht, ich hätte die Gelegenheit gehabt, Hebräisch zu lernen und auszuwandern. Ich wollte ja nach Israel, damals noch Palästina, auswandern, aber meine Mutter hat sich dagegen entschieden. Als ich dann die Kinder hatte, wäre es unverantwortlich gewesen. Und es wäre auch schon vorher nicht gegangen wegen meiner Mutter, man kann nicht einfach eine Mutter sitzenlassen und in ein anderes Land auswandern, das geht dann nicht. Dann auch die Unsicherheit: Was mache ich in einem anderen Land, wenn ich hier doch Fuß gefasst habe.

Ein längerer Aufenthalt, eine weitere Gastprofessur in Israel hat sich nicht ergeben?
Das wurde mir nie angeboten. Gastprofessuren habe ich ohnehin erst angeboten bekommen, nachdem ich »weiter leben« geschrieben hatte, aber das war fast schon am Ende meiner Karriere, die gar nichts mit diesem Buch zu tun hatte, sondern mit Aufsätzen über Kleist und Barockgedichte.

Nach dem Erscheinen von »unterwegs verloren« ist Ihnen vorgeworfen worden, Sie hegten Ressentiments gegenüber den Deutschen oder Deutschland.
Natürlich, ich habe alle möglichen Kommentare und empörten Bemerkungen darüber gehört, dass ich meine Ressentiments herauslasse, aber ich finde es richtig. Ressentiments sind eine Form, über Ungerechtigkeiten zu sprechen, gegen die man nichts tun kann. Jean Améry rechtfertigt Ressentiments genauso, und ich bin gern in seiner Gesellschaft.

Ist das Ressentiment eine Form der Vergangenheitsbewältigung?
Das würde bedeuten, dass man die Ressentiments züchtet, und das ist nicht der Fall. Eigentlich sind sie doch unangenehm. Ressentiments sind wie mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen, sich den Kopf blutig zu stoßen. Wenn überhaupt, sollte man das in Fiktionen tun. Das würde ich ganz gerne noch mal probieren.

Ist es die Aufgabe von Literatur und Kunst, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, Widerhaken einzubauen?
Das ist eigentlich die Frage nach der Shoah-Literatur, die Sie da stellen, und das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt. Dieses Zusammenspiel von Geschichte und Erfindung. Das führt uns auch auf diesen jetzt schon ziemlich ab­gedroschenen Adorno-Satz zurück, von dem wir abgekommen sind, ich würde dazu noch sagen: Das Problem mit der Frage nach ästhetischer Wahrnehmung des Holocaust ist das Problem des Eskapismus, dass man da wegkommt vom geschichtlichen Horror und sich vergnügt. Ganz krass ausgedrückt: Spaß haben am Holocaust. Und ich meine, Eskapismus ist immer die Frage, wohin du flüchtest. Ob es eine Flucht in eine Bedeutung ist. Die wichtige Unterscheidung, die ich da machen würde, ist die zwischen Kitsch und Dichtung. Man sollte keinen Kitsch über den Holocaust schreiben. Ob etwas Kitsch ist, muss in jedem einzelnen Fall entschieden werden.

Sie haben in Ihrer Biographie die Gestaltung von Gedenkstätten wie Dachau kritisiert. Im Film besuchen Sie Bergen-Belsen und Yad Vashem.
Im Prinzip würde ich noch immer daran festhalten, aber das Buch ist vor mehr als 20 Jahren geschrieben worden, und da ist doch einiges, das sich geändert hat. Manche Gedenkstätten sind sehr klug gestaltet und haben eine erzieherische Absicht, die sie oft auch durchsetzen. Das war damals viel weniger der Fall. Yad Vashem ist nicht nur als Gedenkstätte, sondern auch als Archiv bedeutsam. Ein Negativbeispiel ist das Denkmal von Alfred Hrlidcka in Wien. Da ist ein Jude zu sehen, der den Asphalt schrubbt, worüber sich die Israelitische Kulturgemeinde zu Recht empört hat. Sein Rücken lädt zum Hinsetzen ein. Da haben sich immer wieder Leute hingesetzt und ihre Schinkenbrote gegessen. Was die Wiener dann getan haben, war, dass sie Stacheldraht drübergelegt haben. Also, das ist ein Graus, diese Geschichte, obwohl der Hrlidcka ein bekannter Künstler war.

»unterwegs verloren« beginnt damit, dass Sie schildern, wie Sie Ihre tätowierte KZ-Nummer entfernen lassen. Welche Bedeutung hatte dieser Akt für Sie?
Das war ursprünglich und über viele Jahre etwas, was man behalten musste, das zur Identität der Überlebenden gehörte. Und auch irgendwie eine Loyalität den Toten gegenüber ausdrückte. Und dann, nach vielen Jahren, ist es mir auf die Nerven gegangen. Ich habe gedacht, jetzt bin ich alt genug und die Toten sollen mich in Ruhe lassen. Und außerdem habe ich ein Buch geschrieben, nämlich »weiter leben«, und da habe ich gedacht, das muss nicht sein. Ich habe mir das entfernen lassen und hab’s nicht bereut. Sie wurde seltsamerweise von einer Dermatologin entfernt, die die Tochter einer Frau war, die durch den Kindertransport nach England gekommen ist. Ich habe diese Überlegungen in dem Buch nach vorne gestellt, weil ich von niemandem weiß, der über diese Sache gesprochen hat. Ich kenne keinen Aufsatz oder Essay über die Bedeutung der KZ-Nummer.

Das Weiterleben der Ruth Klüger (A 2011). Regie: Renata Schmidtkunz. Im Mai angelaufen.