01.08.2013
Hat mit Sebastian Pohle die »Nacht der Tracht« nur knapp überlebt

Nacht der Niedertracht

In Berlin wurde mal wieder zur »Nacht der Tracht« geladen. Um zu recherchieren, was es mit diesem kaum bekannten subkulturellen Phänomen auf sich hat, schickte die Jungle World den trinkfestesten aller Reporter ins Hofbräuhaus Berlin. Doch selbst Egotronic-Sänger Torsun überlebte den Wahnsinn nur knapp. Lesen Sie seinen Bericht!

Spätestens seit Barney Stinson wissen wir, dass im Zeitalter von »How I Met Your Mother« so ziemlich alles in irgendeiner Art und Weise »legendär« ist oder zumindest irgendwann wird. Man muss nur fest genug daran glauben. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Winter in Berlin, in dessen Verlauf es über einen längeren Zeitraum so oft schneite, dass fast täglich eine frische Neuschneedecke die ansonsten trostlos wirkenden grauen Bürgersteige bedeckte. Da die Stadt bekanntlich pleite ist und dies auch damals schon war, wurde natürlich keine einzige der vom Himmel gefallenen Schichten jemals geräumt, weswegen neben der weißen Masse täglich neue, frische Haufen aus dampfendem Hundekot den Weg durch die City pflasterten. Die alten Haufen wurden regelmäßig von Mutter Natur unter sauber schimmerndem Niederschlag in Flockenform versteckt und somit unsichtbar gemacht. Eiseskälte trug dazu bei, sie tiefgefroren für die nachwinterliche Zeit zu konservieren.
Als irgendwann dann der nahende Frühling bedingt durch die steigende Außentemperatur die Aufgaben der Stadtreinigung übernahm, den Schnee erst zu Matsch werden und dann komplett verschwinden ließ, trat ganz Erstaunliches zu Tage: Wie beim beliebten Computerspiel Tetris des russischen Programmierers Alexei Paschitnow sanken die Ausscheidungen des besten Freundes des Menschen Zentimeter für Zentimeter nach unten dem Bordstein entgegen und begannen, sofern sie kein freies Plätzchen unter sich vorfanden, sich zu mächtigen mehrschichtigen Kot-Gebilden aufzutürmen. Das hatte nach abgeschlossener Schneeschmelze zur Folge, dass der Weg zum wöchentlichen Einkauf im Supermarkt einem übelriechenden Hindernisparcours aus über knöchelhoch gestapelten Tierexkrementen glich. Die über den Winter zusammengekommene Menge hätte – gesammelt und richtig geformt – problemlos dafür gereicht, eine Mauer um den Ostteil von Berlin zu errichten. Legendär! Oder denken sie an den neuen, oder sagen wir besser: geplanten Berliner Flughafen. Noch nicht fertig, aber jetzt schon in aller Munde und somit ganz klar: legendär.

Mit selbigem Prädikat wurde vorige Woche nun eine Veranstaltung angekündigt, für die auch die Jungle World eine Einladung erhielt. Der »innovative Marktführer« in Sachen traditioneller Bierzeltbekleidung, Angermaier, lud zur »Nacht der Tracht«. Er tat dies absolut standesgemäß in einer für diese Sorte »Event« geradezu prädestinierten Location, dem Hofbräuhaus Berlin: »Sehr geehrte Damen und Herren, es wird trachtig in der Hauptstadt! Erleben Sie dieses legendäre Event am Donnerstag, den 25. Juli 2013 im Hofbräu Berlin mit vielen prominenten Gästen, wie Schauspieler Thure Riefenstein und Patricia Lueger, Prinz Ferdinand von Anhalt, Playmate Juliane Raschke, Sängerin Annemarie Eilfeld und vielen weiteren. Neben der einzigartig getanzten Angermaier-Modenschau sind Deutschlands größtes Dirndl-Casting und Live-Act Marvin Herzsprung die Highlights des Abends … «
Eine »legendäre« Trachtenparade also. Darunter läuft nichts. Die angekündigte Prominenz, die sich aus deutschen Landen sowie einem kleinen TV-Camp im australischen Dschungel rekrutierte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass hier weder Kosten noch Mühen gescheut wurden, um einen unvergesslichen Abend zu gewährleisten.
Da ich in einem kleinen südhessischen Dorf namens Lindenfels aufgewachsen bin und dort in frühester Kindheit des Öfteren mit naiver Begeisterung am alljährlich stattfindenden Trachtenumzug teilgenommen hatte, wurde ich auserkoren, zusammen mit Ole, einem befreundeten Fotografen, diesem unter soziologisch-zoologischen Aspekten durchaus als spannend zu bezeichnenden »Event« beiwohnen zu dürfen. Wir beide freuten uns zugegebenermaßen außerordentlich darauf, zumindest für ein paar Stunden Teil dieser etwas anderen subkulturellen Strömung zu werden und uns in bester sozialwissenschaftlicher Manier in teilnehmender Beobachtung zu üben. Um uns nicht vollkommen unvorbereitet ins kalte Wasser zu stürzen, trafen wir uns eine Stunde vor Einlass in meiner Wohnung zum sogenannten »Vorglühen«. Ich hatte nämlich in langwierigen Internet-Recherchen herausgefunden, dass das Tragen von Trachten oder selbst, und das traf auf uns zu, interessiertes Begutachten selbiger fast zwangsläufig einen gewissen Rausch-Pegel als Grundvoraussetzung braucht, heißt: Trachten und Rauschmittelkonsum sind quasi untrennbar miteinander verknüpft. Massenweise Foto- und Video-Material vom Münchener Oktoberfest legen davon beredt Zeugnis ab, weshalb wir davon ausgingen, dass dies auch für Berlin gälte. Genauere Recherchen brachten die Erkenntnis, dass in dieser von Verkleidung und Exzess geprägten Szene Bier das bevorzugte Konsumgut darstellt, weshalb man, alles zusammengenommen, ihr durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit anderen Subkulturen wie zum Beispiel Gothic oder Punk zusprechen kann. Des Weiteren fand ich mehrere Artikel zu einem weißen Pulver, dass in blau-weißen Papierbriefchen feilgeboten und »Wiesn-Koks« genannt wird. Dieses ist in der Szene allerdings alles andere als unumstritten und kann, so scheint es, nur in der Hauptstadt der Bewegung (München) erworben werden. Zumindest lässt sich in Berlin Koks nur ohne den Zusatz »Wiesn« auftreiben. Aber das nur am Rande.

Als Ole und ich am Ort des Geschehens ankamen, wurden wir umgehend von freundlichen Menschen in, wie sollte es anders sein, Tracht an einen Tisch geleitet, der neben anderen eigens für Vertreter der Presse reserviert war und freies Blickfeld auf all das Legendäre, was noch kommen sollte, garantierte. Auf einer kleinen Bühne hinter dem Laufsteg für die Modenschau spielte eine etwas trostlos wirkende Band bayerische Bierzelt-Klassiker, wovon aber niemand wirklich Notiz zu nehmen schien. Dass die Firma Angermaier jedoch definitiv weiß, wie man Journalisten auf Linie bringt und auf die Sache einschwört, stellte sie umgehend unter Beweis. Essen und Trinken war für unseren Berufsstand kostenfrei und in jeder gewünschten Menge verfügbar. In der Psychologie nennt man das, soweit ich mich entsinne, »Bedarfsmedikation«. Nachdem wir die Gastfreundschaft in Anspruch genommen und uns mit allerlei Getränken versorgt hatten, sondierten wir erst einmal die Lage und kamen mit zwei jungen Herren ins Gespräch, die sich – sofern mich meine Erinnerung nicht trügt – bei einem Web-Portal namens Promiflash verdingten und im Gegensatz zu uns ganz ausgezeichnet ausgerüstet waren, hatten sie doch Videokamera und Mikrophon dabei und nicht wie wir lediglich einen Fotoapparat plus Kugelschreiber und Notizheftchen. Aber was soll’s. Wir würden unser Bestes geben, um einen gelungenen, wenn nicht gar legendären Beitrag abzuliefern.
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Prominenten eintrafen. Sowohl Ole als auch ich bemerkten das allerdings nur, weil plötzlich bei den anderen Journalisten reges Treiben einsetzte und immer mehr Menschen in Dirndln und Krachledernen vor einer extra hierfür aufgestellten Fotowand zu Posieren begannen. Asche auf unsere Häupter, aber erkannt hätten wir fast niemanden. Als Nicht-Taff-Gucker und Nicht-Promiflash-Kenner waren wir gegenüber unseren Kollegen somit nicht nur wegen unseres mangelhaften Equipments eindeutig im Nachteil. Jetzt hieß es schnell sein, Fotos schießen und Fragen stellen. Oder einfach mehr trinken. Wir entschieden uns für Letzteres. Nachdem der Interview- und Foto-Wahnsinn abgeklungen war, die uns weitestgehend unbekannten Promis alles Wichtige zu Protokoll gegeben und neben dem Laufsteg Platz genommen hatten, konnte endlich die Modenschau beginnen und ich erstmals, während die Gäste rhythmisch zu klatschen begannen, mein Notizbuch seiner Bestimmung zuführen. Notizen sind schließlich das A und O einer jeden gewissenhaften Berichterstattung. Es blieb bei diesem einen Mal. Die einzigen Sätze, die ich mir während meines Aufenthalts notieren sollte, lauten wie folgt:
»Soso, Maximal-Musik mit Sidechain-Sound (pumpen, pumpen) und Breakdance sind jetzt also im Trachten-Milieu angekommen. Ich frage mich schon seit langem, wer so was noch hört. Nicht auszuhalten! Durst! Notiz an mich: Wieder mehr Gitarrenmusik hören (Ausgenommen ›Applaus, Applaus‹ von Sportfreunde Stiller)!«

Während Ole seinen Pflichten nachging und fleißig Fotos von der Modenschau und den umstehenden Zuschauern knipste, beobachtete ich ganz unauffällig den Prinzen Ferdinand von Anhalt beim Haxen-Essen, denn wann kommt man als Normalsterblicher schon mal in den Genuss, solch einem Spektakel beizuwohnen? Viele Fragen geisterten durch meinen Kopf. Ob er wohl »Wiesn-Koks« auf Tasche hätte? Und wenn ja, würde er es mit mir teilen? Gern wäre ich mit ihm in einer Toilettenkabine verschwunden, um lange Bahnen des weißen Pulvers aus Bayern in unseren Nasenlöchern verschwinden zu lassen. Danach hätten wir meinetwegen, wie das unter Adligen doch wohl guter Brauch ist, komplett aufgeheizt überall hinpinkeln und meine vermeintlichen Kollegen bedrohen können. Ausgenommen Ole versteht sich. Die Nacht hätte so einen völlig neuen Drive erhalten, man hätte sie in vollen Zügen und womöglich in volkstümlicher Bekleidung genießen können. Legendär! Doch es sollte alles ganz anders kommen.
Begegnete ich nämlich eigentlich bisher den verschiedenen Subkulturen erstmal mit neugieriger Offenheit, brachte mich hier schon der erste Programmpunkt des Abends, die Modenschau, gnadenlos an die Grenzen meiner Toleranz, weshalb ich beschloss, mir unbedingt eine Auszeit zu gönnen. Diese verbrachte ich, argwöhnisch beäugt von muskelbepackten Securities, rauchend vor der Tür.
Drei Zigaretten später wollte ich es dann noch einmal wagen. Aufgeschlossen sein, Drink bestellen und zumindest versuchen, die Schönheit der Tracht zu erkennen, so lautete die Devise. Doch als ich erneut den Laufsteg erreichte, die erste Tracht in Schwarz-Rot-Gold erblickte und dazu noch »An Tagen wie diesen« von den Toten Hosen durch den Saal hallte, war alles zu spät. Nicht auszuhalten. Erstaunlich, aber jetzt wurde mir die Veranstaltung sogar körperlich unangenehm. Schweißperlen sammelten sich auf Stirn und Wangen und es fiel mir sichtlich schwer, mich gerade auf den Beinen zu halten. Ich wollte keine Trachten mehr sehen und keine grausame Musik inklusive rhythmisch klatschender Promis mehr hören müssen. Jede Zelle meines geschundenen Körpers wollte diese bayerische Version der Hölle verlassen. Sollte Marvin Herzsprung sein angekündigtes Ständchen ruhig ohne mich vortragen und die zukünftige Miss Dirndl ohne mein Beisein gecastet werden. Es war einfach zu viel des Guten. Viel zu legendär für mein angeschlagenes Gemüt. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte, schleppte mich zu Ole und stieß ein kurzes »Ich muss dringend hier raus! Schnell! Bitte!« hervor. Er sah, dass ich es ernst meinte, und folgte mir nach draußen.
Kaum dass wir das Hofbräuhaus Berlin verlassen hatten, setzte ich mich auf den Boden und nachdem sich mein Kreislauf ein wenig beruhigt und ich ein kleines Schlückchen Wasser getrunken hatte, erbrach ich einen riesigen Schwall gelblich schimmernder Bedarfsmedikation neben mich. Danach wurde es schlagartig besser. Ole und ich waren raus und konnten somit den Heimweg antreten. In der U-Bahn sitzend stellten wir fest, dass solche Veranstaltungen neben »legendär« gerne auch als »kultig« deklariert werden, weshalb wir einhellig beschlossen, zukünftig um alles Legendäre oder Kultige einen riesigen Bogen zu machen. Denn eines war klar: Ist der Glanz des Schnees erstmal verzogen, bleibt oft nichts weiter als stapelweise Schei …