Über eine nicht unerwartete Wiederveröffentlichung von Cabaret Voltaire

Rotes Gemecker

»Red Mecca« von Cabaret Voltaire wird wiederveröffentlicht. Dass die britischen Pioniere des Industrial gerade jetzt ausgegraben werden, ist so kalkuliert wie bedeutungsvoll.

Es war ein Trauerspiel. So mancher war damals einfach zu pleite, um die heißen Scheiben mit nach Hause nehmen zu können. »Zuckerzeit« von Cluster beispielsweise, dieses große Album einer zur Legende gewordenen Krautrockband. Auch die Alben von Van Dyke Parks mögen vor Jahrzehnten jenseits des Budgets gelegen haben – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Vinyl ging in endlichen Stückzahlen über den Ladentisch, wurde ausverkauft und schien tatsächlich vom Markt zu verschwinden. Für immer und ewig.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Im Zuge der Renaissance von Vinyl pflegen selbst große Kaufhausketten umfangreiche Schallplattensortimente, die neben Neuerscheinungen jede Menge Wiederveröffentlichungen kultisch verehrter Alben bereithalten. Der Pleitegeier von einst, mittlerweile mindestens finanziell arriviert, kann sein Glück kaum fassen: Endlich ergibt sich die Chance, der heimischen Sammlung einzuverleiben, was er damals unter Schmerzen im Laden zurücklassen musste. Ganz bequem, ohne mühsame Mailorder-Stöberei oder lästiges Gewühle in Flohmarktkisten. »Back to black« verkündet ein runder Aufkleber auf dem Plattencover, »Remastered« oder »Inklusive Download-Voucher«, damit die neue alte Scheibe auch dem Ipod nicht vorenthalten bleibt.
Mögen sich heute auch obskure, längst vergessene Avantgarde-Alben auf einschlägigen Weblogs wiederentdecken lassen, bleibt die Schallplatte für viele das Objekt der Begierde. Wiederveröffentlichungen können durchaus berechtigt sein, unzählige Alben sind tatsächlich vergriffen oder allenfalls zu horrenden Preisen aufzutreiben. »Red Mecca« von Cabaret Voltaire gehört nicht dazu. Dass die Wiederveröffent­li­chung über das finanzielle Interesse des Labels, der Künstler bzw. Rechteinhaber hinaus durchaus Sinn ergibt, hängt mit der Bedeutung von »Red Mecca«, der Entstehungs- und Veröffent­lichungszeit des Albums zusammen. Und damit, wie es mit der Gegenwart verknüpft ist.
»Red Mecca«, ursprünglich 1981 erschienen, ist das dritte und letzte Album in der ursprünglichen Be­setzung von Cabaret Voltaire. Stephen Mallinder, Richard H. Kirk und Chris Watson hatten 1974 damit begonnen, auf Watsons Dachboden in Sheffield dadaistische Klangmontagen aus Tape-Loops mit elektronisch verfremdeten Sounds von Klarinette, Gitarre, einer Farfisa-Drummachine und Sprachsamples aufzunehmen. Der Vorschuss des Labels Rough Trade ermöglichte den Kauf eines simplen Vierspur-Rekorders sowie eines Mischpults – eine Ausstattung, mit der Cabaret Voltaire zwischen 1978 und 1982 vier Longplayer, einige extrem einflussreiche Singles und mehrere Live-Alben veröffentlichen.
»Red Mecca« markierte einen Übergang. Nach den experimentellen Soundcollagen der Frühzeit und dem mechanisch-unterkühlten Elektro-Punk ihrer ersten regulären Erscheinungen wurden Cabaret Voltaire nun eingängiger, funkiger. Gegenüber den von düsteren Stimmsamples dominierten, eher schleppenden Tracks des Vorgängeralbums »The Voice of America« findet sich auf »Red Mecca« eine ganze Anzahl Uptempo-Songs mit Bläsern, groovenden Dub-Basslinien und immerhin Ansätzen von Melodie. Was keineswegs heißen soll, dass eine glatte Popscheibe entstanden wäre; Richard H. Kirks Gitarre sägt sich so blechern-scheppernd wie eh und je durch die Stücke und Mallinders psychotische Vocals klingen keinen Deut freundlicher als zuvor, kurz: Auf »Red Mecca« steht der Sound von Cabaret Voltaire nach wie vor unter maschinenmäßiger Hochspannung.
Dass das Album ein Grundton von Paranoia und Protest durchzieht, mag vor allem den sozialen und politischen Umständen seiner Entstehungszeit geschuldet sein. Nicht nur der Albumtitel, auch die gesamplete Rede eines Mullahs im Song »Black Mask« weist auf die »Islamische Revolution« im Iran 1979 hin. Ein Ereignis, das neben dem Krieg in Afghanistan, dem Erstarken der christlich-fundamentalis­tischen Rechten – von Cabaret Voltaire schon auf »The Voice of America« unter anderem mit einem Sample des Fernsehpredigers Eugene Scott thematisiert – und dem Wahlsieg Ronald Reagans in den USA das Gefühl schürte, dass die Dinge sich katastrophal entwickelten.
Auch vor der eigenen Haustür sah es düster aus: In Großbritannien hatten die Konservativen 1979 die Wahlen gewonnen, Margaret Thatcher wurde Premierministerin und begann ihre Politik der Privatisierungen, der gravierenden Sozialkürzungen und der Zerschlagung der Gewerkschaften. 1980 überstieg die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal seit den dreißiger Jahren zwei Millionen, 1982 waren es bereits mehr als drei Millionen. Nach wochenlang schwelenden Unruhen knallte es 1981, im Jahr von »Red Mecca«, in Brixton, einem Londoner Stadtteil mit mehrheitlich afrokaribischer Bevölkerung.
Nach einem Hausbrand, bei dem 13 Jugendliche starben, hatte die Polizei einen rassistischen Hintergrund schnell ausgeschlossen, obwohl Brandstiftung wahrscheinlich schien. Beim daraufhin organisierten Protestmarsch am »Black People’s Day of Action« kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Auslöser der Proteste war schließlich die »Operation Swamp 81«, bei der Polizisten in Zivil entsprechend der sogenannten »Sus Laws« innerhalb weniger Tage mehr als 1 000 Menschen im Viertel auf bloßen Verdacht kontrollierten, durchsuchten und 118 von ihnen festnahmen. Durch den behördlichen Rassismus eskalierte die Lage. Es kam zu Straßenschlachten zwischen Bevölkerung und Polizei, bei denen knapp 300 Polizisten sowie mindestens 65 Demonstranten verletzt wurden und über 100 Autos in Flammen aufgingen. Die Protestwelle erreichte wenig später weitere britische Städte, unter ihnen Liverpool, Birmingham und Manchester.
Anders als das Hausbesetzer-Kollektiv von Scritti Politti, das aus mehr Nichtmusikern als Musikern bestand – wobei erstere für die politische Theoriearbeit zuständig waren –, oder der Band Test Dept., die 1984 eine Soli-Tour für die streikenden Minenarbeiter veranstaltete, waren Cabaret Voltaire nicht direkt politisch in dem Sinne, dass die Band »Messages« vertont hätte. Die Vocals waren ja ohnehin meist kaum verständlich. Eher pflegte die Band eine ausgeprägte Abneigung gegen plakative Parolen. »Wir würden nicht sagen, dass wir unpolitisch sind, eher, dass wir keine politischen Statements abgeben … Wir sind nicht die Tom Robinson Band. Außerdem kann man den Menschen ohnehin nicht befehlen, was sie denken sollen«, erklärt Richard H. Kirk, sich über die damals populäre Agitprop-Band mokierend, 1978 dem New Musical Express.
Dem in ihren Augen eindimensionalen Versuch, Musik durch Slogans zu politisieren, setzten Cabaret Voltaire einen »journalistischen« Anspruch entgegen, wie es Kirk nennt: »Ich hoffe, wir reflektieren, was um uns herum los ist. In gewisser Weise ähneln wir Journalisten. Wir nehmen die Dinge auf und berichten darüber: Dies und das ist los – also, was wollt ihr unternehmen?«
Dass Hörer mit Beklommenheit auf Cabaret Voltaire reagieren, dass ihnen der Sound sogar Angst mache, nimmt Stephen Mallinder dementsprechend entschieden politisch. Es sei schließlich ungewöhnlich, der erschreckenden Realität auch in der Musik zu begegnen. »Wenn die Leute vor uns Angst haben, dann haben sie vor diesen Dingen Angst. Unsere Musik greift sie an, weil ihnen der Glaube eingeplanzt wurde, Musik sei lediglich Unterhaltung, Musik sei bloßer Spaß.«
Ohne explizit Stellung zu beziehen, sahen die Bandmitglieder Cabaret Voltaire als Vehikel, um sicht- und hörbar zu machen, wovon lieber niemand etwas wissen wollte. (Ob das Benutzen von Sprachsamples amerikanischer Fernsehprediger nur aus heutiger Sicht nicht viel weniger plakativ scheint als parolenhafte Texte, sei einmal dahingestellt.) Die Musik von Cabaret Voltaire ist Reaktion auf die globale Paranoia des Kalten Krieges und die desaströsen sozial-politischen Zustände in Großbritannien. Und so wurde sie auch verstanden.
Die Wiederveröffentlichung von »Red Mecca« auf Vinyl braucht kein Mensch. Das Album ließ sich all die Jahre für einen Zehner in der Grabbelkiste finden. Immerhin wird aber auf diesem Wege daran erinnert, was es mit Post-Punk einmal auf sich hatte. Es ging darum, für die widerständigen Energien des nicht nur musikalisch in eine Sackgasse geratenen Punk auch formal revolutionären Ausdruck zu finden. Mit einer sperrigen Musik, die unabhängig produziert und vertrieben wurde. Dass heute wieder ein Interesse an der Musik jener Zeit besteht, wie zahlreiche Wiederveröffentlichungen zeigen, nährt eine Hoffnung: Vielleicht entsteht damit endlich wieder auch herausfordernde und anspruchsvolle, also Ansprüche stellende Musik, die die Kämpfe und Konflikte ihrer Umwelt aufnimmt und reflektiert. Anlässe gäbe es genug.

Cabaret Voltaire: »Red Mecca«
(Mute Artists Ltd/Goodtogo)