Über die Dokuserie »Auf der Flucht – das Experiment«

Mit Rollkoffer ins Flüchtlingscamp

In der ZDF-Dokuserie »Auf der Flucht – das Experiment« begeben sich sechs Kandidaten auf die Reise in die Herkunftsländer von Asylsuchenden. Am eigenen Leib sollen sie erfahren, was es heißt, sich ohne Pass und Handy durchzuschlagen.

Das Tor zur Freiheit. So wurde das Erstaufnahmelager Friedland bei Göttingen früher genannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Hunderttausende Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft empfangen. Später wurde das Lager für Übersiedler aus der DDR und für osteuropäische Spätaussiedler genutzt. Auch Boat-People aus Vietnam und politische Flüchtlinge aus Chile fanden dort in den siebziger Jahren ihre erste Bleibe. Heute ist Friedland mit tausend Betten das größte von insgesamt 19 Erstaufnahme­lagern für Asylsuchende in Deutschland. Seit 2009 kommen vor allem Flüchtlinge aus dem Irak hierher.
So auch die Familie Azeez. Vater Thabit, Mutter Sanaa und Tochter Noor kamen im Januar 2013 dort an. Wie viele Irakerinnen und Iraker, die nach Deutschland flüchten, gehören sie der christlichen Minderheit im Land an, die durch den erstarkenden Islamismus und die Terroranschläge im Land bedroht ist. Jahrelang war Familie Azeez mit Anfeindungen und Gewalt konfrontiert. Irgendwann entschloss sich die Familie zur Flucht nach Europa. »Ich habe nie vorgehabt, meine Geburtsstadt zu verlassen. Ich hatte immer die Hoffnung, dass es eines Tages wieder sicher ist für meine Familie. Aber die Terroristen haben diesen Traum zerstört«, berichtet Thabit Azeez. Von Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, flog die Familie zunächst nach Istanbul. Dort zahlten sie einem Schlepper pro Person 12 000 Euro, um in einem LKW über die Grenzen ins tausende Kilometer entfernte Deutschland zu gelangen.
Was veranlasst Menschen dazu, ins Ungewisse aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen und selbst den eigenen Tod in Kauf zu nehmen? In der vierteiligen Dokuserie »Auf der Flucht – das Experiment«, die ab dem heutigen Donnerstag wöchentlich auf ZDF-Neo zu sehen ist, wird diese Frage auf eine ungewöhnliche Art beantwortet. Nicht in Form einer Reportage sollen die Zuschauer mehr über das Schicksal der Flüchtlinge erfahren, sondern als Beobachter eines Spektakels, das an Formate wie das Dschungelcamp und »Big Brother« erinnert. Sechs mehr oder weniger prominente Kandi­daten werden zu Flüchtlingen auf Zeit. In Dreiergruppen brechen sie vom Frankfurter Flughafen in den Irak und nach Eritrea auf. Sie übernachten in Asylbewerberheimen, in den überfüllten Flüchtlingslagern in Athen und Rom und stehen in Tunesien vor der schwierigen Entscheidung, ob sie die Fahrt auf einem Schlepperboot wagen oder das Experiment abbrechen sollen.
Schauspielerin Mirja du Mont, Ex-Böhse-Onkelz-Bassist Stephan Weidner, Streetworkerin Songül Cetinkaya, Nazi-Aussteiger Kevin Müller, Bloggerin Katrin Weiland und Ex-Soldat Johannes Clair sollen die Bandbreite politischer Positionen innerhalb der deutschen Gesellschaft zu den Themen Flucht und Migration repräsentieren. Auf diese Weise soll dem ­Publikum suggeriert werden: Wenn schon nicht ich selbst auf der Flucht dabei sein kann, so doch wenigstens eine Person, mit der ich mich identifizieren, oder aber auch eine, von der ich mich distanzieren kann.
Mit der Reihe verbindet die verantwortliche Redaktion des ZDF durchaus eine aufklärerische Absicht: »Im letzten Jahr suchten rund 65 000 Menschen Asyl in Deutschland – als Schutz vor Krieg, Verfolgung oder Armut. Deutschland ist dank seiner Wirtschaftskraft und als Wohlfahrtsstaat eines der begehrtesten Ziele für Flüchtlinge aus aller Welt. In Deutschland aber nehmen die Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber Asylsuchenden zu. Interessant ist dabei, dass diese Abneigung umso größer ist, je ­weniger Wissen über Flüchtlinge existiert und je weniger unmittelbaren Kontakt es gibt. Hier ist es Aufgabe der Medien, aufzuklären«, schreiben die Redakteure Petra Eschfeld und Roman Beuler in der Vorankündigung.
Kann man diese Unwissenden mit einem Abenteuer-Format umstimmen? Ist es nicht makaber, einem wohlbehüteten Promi am Frankfurter Flughafen Telefon und Pass abzunehmen und ihn, stets begleitet von einem Kamera-Team, auf die Routen der Flüchtlinge in Italien und Griechenland zu schicken? Was soll das: Drei Schauspieler in einem LKW zusammengepfercht oder dicht an dicht auf einem Boot ­­in Richtung Europa? Wirken das Lager in Friedland und die Wohnung der irakischen Familie Azeez, die sie seit kurzem in einer niedersächsischen Kleinstadt bewohnen, nicht allzu komfortabel? Wird da etwa eine deutsche Willkommens­kultur inszeniert, die es so in Wirklichkeit gar nicht gibt?
Natürlich kann man all diese Fragen stellen. Christoph Schlingensief, der in seinem Kunst- und Filmprojekt »Ausländer raus!« im Jahr 2000 über die Aufnahme von Asylbewerbern abstimmen ließ und so eine raffinierte Kritik sowohl an den Medien wie auch am Alltagsrassismus lieferte, lässt grüßen. Ist es nicht ­legitim, in Form von Edutainment, also mittels Spannung, Empathie und Information, eine politische Botschaft zu verbreiten? Es ist zumindest der Versuch, Zuschauer und Zuschauerinnen zu erreichen, die das Schicksal von Flüchtlingen im realen Leben kalt lässt und die kaum eine Ahnung davon haben.
Auch die Teilnehmer müssen zunächst einmal darüber aufgeklärt werden, wie Flüchtlinge in diesem Land leben und wie sie überhaupt nach Deutschland gelangt sind. Über fundiertes Halbwissen verfügen vor allem der Musiker Stephan Weidner, der sich geradezu als Altlinker entpuppt, und die Streetworkerin Songül ­Cetinkaya, die regelmäßig mit dem als Nazi-Aussteiger vorgestellten Kevin Müller anein­andergerät. Mirja du Mont und Katrin Weidner bringen zwar viel Empathie für die Menschen auf, nerven aber durch Selbstdarstellung und permanenten Körperkontakt zu Flüchtlingskindern. Der ehemalige Soldat Johannes Clair, der in Afghanistan stationiert war, hält sich auffallend zurück.
Alle Teilnehmer zeigen sich fassungslos, als sie mit den politischen Verhältnissen konfrontiert werden: Internierungslager in Griechenland, die Drittstaatenregelung, die Flüchtlinge dazu zwingt, mehrfach den Weg von Südeuropa nach Deutschland anzutreten, weil sie stets wieder in das Land abgeschoben werden, in dem sie zuerst erkennungsdienstlich erfasst wurden, Polizeigewalt, Obdachlosigkeit in Italien, mafiöse Strukturen, die sich nach Jahren der Armut und Hoffnungslosigkeit herausgebildet haben. Natürlich sind die Fakten schockierend und die erstaunliche Nähe zum Geschehen ist durchaus auch für den informierten Zuschauer bewegend. Aber oft genug möchte man den Empörten zurufen: Willkommen in der Festung Europa! Was hast du denn gedacht?
Allein schon wegen dieser Aha-Momente kann der Einblick in das Leben der anderen nicht verkehrt sein. Es ist mutig, wenn ein ­öffentlich-rechtlicher Sender kurz vor der Bundestagswahl Aufklärung betreibt und für mehr Mitgefühl für Flüchtlinge wirbt. Ob sich die Haltung der Zuschauer und der Teilnehmer in Bezug auf die Flüchtlingspolitik durch ­­die Serie dauerhaft ändert, bleibt abzuwarten. Langweilig ist »Das Experiment« jedenfalls nicht.

»Auf der Flucht – das Experiment«. Ab 8. August, donnerstags um 22.15 Uhr auf ZDF-Neo. Das ZDF strahlt zu einem späteren Zeitpunkt eine zweiteilige Zusammenfassung aus.